GEIST, SEELE, LEIB – DER MENSCH IN
SEINER BESCHAFFENHEIT
Roland Antholzer
Dichotomie oder Trichotomie: Die trichotome Sicht
Wenn wir von der Beschaffenheit des Menschen reden, dann geht es um die alte Streitfrage:
Besteht der Mensch aus zwei (Dichotomie) oder drei (Trichotomie) Teilen. Heute ist vor
allem die trichotome Vorstellung sehr verbreitet. Man geht davon aus, dass der Mensch aus
drei Teilen besteht, aus dem stofflichen Leib, der nichtstofflichen Seele und dem ebenfalls
nichtstofflichen Geist. Bei dieser Vorstellung hat Seele also eine Existenz unabhängig von
Geist und Leib. Diese Lehrauffassung wurde bereits auf der Synode von Konstantinopel
(381 n. Chr.) durch Athanasius verworfen. Sie hat ihren Ursprung im griechischen Denken.
Martin Luther äußerte sich manchmal dichotomisch, manchmal trichotomisch. Er vertrat
vermutlich eine Dichotomie der Substanz und eine Trichotomie der Funktion. Alle drei
Elemente können nach Luther geistliche oder fleischliche Eigenschaften aufweisen. Ende
des letzten Jahrhunderts wurde die trichotome Sicht von deutschen Erbauungsschriftstellern
(z. B. Otto Stockmaier) und später auch vor allem von Watchman Nee mit dem Buch „Der
geistliche Christ“ wieder belebt. Sein Einfluss wurde vor allem im deutschen Pietismus, aber
auch in der angelsächsischen Christenheit wirksam.
Mit der Dreiteilung verbunden ist auch die Zuordnung unterschiedlicher Funktionen zu
Seele und Geist. Der Seele werden die Funktionen „Verstand“, „Wille“ und „Gefühl“
zugeschrieben, dem Geist dagegen die Funktionen „Intuition“, „Gewissen“ und
„Gemeinschaft mit Gott“ (siehe Diagramm im Anhang). Ich möchte dagegen halten, dass
der Geist keineswegs unpersönlich ist. Er ist voll und ganz Person, wenn auch nicht ganz
Mensch, wie Gott den Menschen gemeint hat, weil der Mensch nur in seiner Ganzheit
vollständig ist. Doch auch die Geister (oder Seelen), die vor der Auferstehung beim HERRN
sind, können denken, fühlen und wollen (siehe Lk 16,19-31: Der reiche Mann und der
arme Lazarus).
Bei der trichotomen Sicht des Menschen ist es zudem fast immer so, dass man sich den
Geist als das reine, von Sünde und Befleckung nicht betroffene Reservat vorstellt, das
Organ, das Gott als seine Wohnstätte wählt. Die Schrift macht aber unmissverständlich klar,
dass im Menschen nichts Gutes wohnt, dass der ganze Mensch durch den Fall betroffen ist.
Paulus schreibt an die Korinther, dass sie sich „von aller Befleckung des Fleisches und des
Geistes reinigen“ sollen (2Kor 7,1).
Der bekannte Theologe Wilhelm Schlatter schrieb: „Wer vom Geist wahr denken und
reden will, muss sich durch das Wort Gottes sagen lassen: Menschengeist ist nicht der
Heilige Geist. Er ist nicht Gott, sondern in den Menschen hinein geschaffen, also
geschaffener Geist. Als solcher konnte auch er sich der Sünde nicht erwehren, sondern ist
selbst in ihre Gewalt und dadurch in Not und Erlösungsbedürftigkeit geraten. Mit diesem
Bekenntnis der Wahrheit, dass auch der Geist im Menschen unter der Sünde steht, ist
- 2 -
eingeräumt, dass das gesamte natürliche Menschenwesen bis in den Grund, den Geist,
widergöttlich entartet ist und Errettung nötig hat.“1
Jede Vorstellung, die beim natürlichen Menschen ein unversehrtes, von der Sünde
verschontes Reservat vermutet, ist entschieden falsch. Der Mensch ist nicht ein Sünder, weil
er sündigt, sondern er sündigt, weil er ein Sünder ist. Sünde entspricht seiner gefallenen
Natur. In Spr 22,15 heißt es, dass Torheit dem Knaben im Herzen steckt. Noch nie musste
einem Kind beigebracht werden zu sündigen. Das ganze Menschenwesen ist von seiner
Zeugung an durchdrungen von der Sünde.
Man sagt, der Geist des Menschen vor der Bekehrung war tot und ist nun durch die
Wiedergeburt lebendig gemacht worden. Das ist wohl richtig, doch verbindet man damit
gleichzeitig die Vorstellung, dass der Geist des Menschen durch die Wiedergeburt von allem
Sündhaften befreit wurde und nun die reine Wohnstätte Gottes darstellt. Dabei verkennt
man eben die Ganzheitlichkeit des Menschen, die die Vorstellung verbietet, es könnte einen
Teil geben, der dem Einfluss der innewohnenden Sünde enthoben wäre.
In manchen christlichen Büchern wird die Sünde bzw. das Fleisch ausschließlich mit der
Seele identifiziert. Der Unterschied zwischen dem Heiligen Geist und dem Menschengeist
wird oft gar nicht mehr gemacht. Und so redet man vom Geist des Menschen in einer
Weise, wie sie nur wahr wäre, wenn man dasselbe vom Heiligen Geist sagen würde. Der
Geist entspricht dann gewissermaßen dem göttlichen Funken in uns. Diese Vorstellung liegt
ja auch der Selbstverwirklichungslehre zu Grunde: Das Gute liegt in uns, es gilt lediglich,
dieses Gute zu verwirklichen. Auch die Mystiker aller Zeiten waren von dieser Vorstellung
ausgegangen. Durch Versenkung in sich selbst hinein wollten sie Gott begegnen.
Heute hat die Mystik in vielfältiger Weise wieder Einzug gehalten. Einerseits haben wir
ein ungeheures Angebot an medidativ-religiösen Praktiken fernöstlicher Herkunft, anderseits
wird unser Büchermarkt überschwemmt von esoterisch-okkulter Literatur. Im christlichen
Feld haben wir die charismatische Bewegung, die in ihrem tiefsten Grund eine mystische
Bewegung ist. In der Welt ist es die New-Age-Bewegung, die die Menschen für
Übersinnliches öffnet. Immer geht es um besondere Geisterfahrungen, die zum eigentlichen
Ziel religiösen Strebens gemacht werden. Da man das Böse der Seele zugeordnet hat, kann
man jetzt ein grenzenloses Vertrauen zu allem haben, was über den Geist vermittelt wird. So
ist der Verführung durch Satan Tür und Tor geöffnet.
Dichotomie oder Trichotomie: Die dichotome Sicht
In 1Mo 2,7 wird uns sehr knapp und doch außerordentlich aufschlussreich mitgeteilt, wie
sich die Erschaffung des Menschen zutrug: „Da bildete Gott, der HERR, den Menschen, aus
Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch
eine lebendige Seele.“ Der Ausdruck „Staub vom Erdboden“ (Luther übersetzte
„Erdenkloß“) soll deutlich machen, dass der Mensch nach seiner stofflichen Beschaffenheit
durchaus mit den irdischen Geschöpfen zusammengehört. Er ist Materie - aber er ist nicht
nur Materie. Diesem Erdstoff, den Gott zur Substanz menschlicher Leiblichkeit wählte,
hauchte Er seinen Atem (ruach) ein. Das Wort kann auch mit „Geist“ übersetzt werden.
Dieser Geist ist Träger und Vermittler des Lebens. Infolge der Geisteinhauchung wird der
Mensch „eine lebendige Seele“ (nephesh) oder zu einem beseelten Lebewesen.
Zwar ist der Geist des Neugeborenen schon persönlicher Geist, doch zunächst noch ein
unbeschriebenes Blatt. Dieser Mensch wird während seines Lebens in der raum-zeitlichen
1 Schlatter, Wilhelm: Biblische Menschenkunde. Die biblische Lehre von Geist, Seele und Leib. Bielefeld 1979, S. 30.
- 3 -
Dimension seine Erfahrungen machen. Die Persönlichkeit bekommt also ihre eigene
unverwechselbare Gestalt, die wiederum dem Geist des Menschen eingeprägt wird, so dass
der transzendente Teil des Menschen während seines Lebens wie auch nach seinem Tod
sowohl Geist als auch Seele genannt werden kann. Es hat daher eine gewisse Berechtigung,
von „Geist-Seele“ zu reden. Tatsächlich zeigt sich, dass die beiden Begriffe in der Bibel oft
austauschbar verwendet werden (vgl. Joh 12,27 und 13,21; Mt 20,28 und 27,50; Hebr
12,23 und Offb 6,9).
Funktionell betrachtet kann also beim lebendigen Menschen, wenn man seine Ganzheit
berücksichtigt, durchaus von Geist, Seele und Leib gesprochen werden, wie es z. B. in
1Thess 5,23 geschieht. Substanziell aber bleibt es dabei, dass der Mensch nur aus zwei
„Teilen“ besteht, dem transzendenten Teil der Geist-Seele und dem immanenten Teil des
Leibes. Somit könnte man von einer substanziellen Dichotomie und einer funktionellen
Trichotomie sprechen. Seele hat also keine eigenständige Existenz, unabhängig von Leib
und Geist, obwohl sie auch nicht völlig mit dem Geist identisch ist, sondern immer – auch
nach dem Tod eines Menschen – unterscheidbar bleibt.
Oft wird Hebr 4,12 als Beleg für eine trichotome Auffassung hergenommen: „Denn das
Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und
durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des
Markes, und ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens.“ Es wird
argumentiert, hier sei doch die Rede davon, dass das Wort (als Schwert) die Seele vom
Geist trennt. Es wird hier aber keineswegs gesagt, dass die Seele vom Geist getrennt wird,
sondern dass beide, Seele und Geist jeweils für sich getrennt (merismos) werden (psyche te
kai pneuma). Es müsste also auch hier, wie bei dem Begriffspaar „Gelenke-Mark“ übersetzt
werden: „bis zur Trennung der Seele als auch des Geistes“. Anders gesagt: Das Wort dringt
durch bis ins innerste Menschenwesen (Herz), trennt dort Göttliches vom Ungöttlichen und
richtet über die dort angesiedelten Gedanken und Gesinnungen. Wir könnten sagen: Das
Wort Gottes ist allein dazu fähig, das zu beurteilen, was in der Psychologie als Unbewusstes
bezeichnet wird.
Noch einige weiteren Schriftworte, die die dichotome Sicht unterstützen2:
• Gott ist Geist (Joh 4,24) und doch spricht auch Gott von seiner Seele (Hebr 10,38).
Seele und Geist werden beide auf die Tierwelt angewandt (Offb 16,3, vgl. Pred. 3,21)
• Die höchsten Ausübungen des Glaubens werden auch der Seele zugeschrieben (Mk
12,30; Lk 1,46; Hebr 6,18f.; Jak 1,21).
• Leib und Seele (oder Geist) machen den ganzen Menschen aus (Mt 10,28; 1Kor 5,3.5;
3Joh 2, vgl. Pred 12,7).
• Wer die Seele verliert, verliert alles (Mt 16,26; Mk 8,36f.).
• Sterben heißt einmal: „den Geist ausgeben“ (Lk 23,46; Apg 7,59) und das andere Mal:
„die Seele aufgeben“ (Apg 15,26, vgl. 1Kön 17,21).
• Beide Ausdrücke bezeichnen das transzendente Element des Verstorbenen (1Petr 3,19;
Hebr 12,23; Offb 6,9 und 20,4).
• Der parallele Gebrauch von Seele und Geist in Lukas 1,46f. ist offensichtlich.
Die Bedeutung des dichotomen Menschenbildes für die Seelsorge
2 Aus: Neidhardt, Jürgen, „Leib, Seele und Geist – Dichotomie oder Trichotomie?“. Bibel und Gemeinde.
- 4 -
Das dichotome Menschenbild hat weit reichende Konsequenzen für unser Thema. Wenn
der Mensch nur aus zwei Teilen besteht, dann können Störungen in seinen Lebensbezügen
nur zwei Quellen haben: Sie können entweder im Leib liegen oder im Geist. Natürlich sind
körperliche Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen nicht exakt voneinander
abzugrenzen, weil der Mensch eine Ganzheit ist und enge Wechselwirkungen bestehen.
Zum bessern Verständnis dieser Argumentation möchte ich ein Bild gebrauchen. Es ist
das eines Mannes, der an einem Piano sitzt und spielt. Nehmen wir an, wir befinden uns vor
dem Piano und können den Mann selbst nicht sehen. Was wir aber wahrnehmen, ist ein
Piano, das Musik von sich gibt. Das entspräche einem lebenden Menschen, dem was die
Bibel mit „Seele“ meint. Die Musik ist in diesem Fall das Ergebnis aus dem Zusammenspiel
von Pianist und Piano. Nehmen wir an, die Musik klingt disharmonisch. Was könnte der
Grund dafür sein? Es gibt im Prinzip zwei Möglichkeiten: Entweder spielt der Mann falsch
oder das Piano ist defekt. In beiden Fällen kann das Resultat völlig gleich aussehen (siehe
Bild 2 im Anhang).
Wenn das Nervensystem eines Menschen geschädigt oder beeinträchtigt ist (durch
unmittelbare Schädigungen des Gehirns, durch raumverdrängende Prozesse wie Tumore
oder durch mittelbare Einflüsse wie Vergiftungen, Drogen etc.), wenn es in seiner Funktion
gestört ist durch Stoffwechselstörungen (zu viele oder zu wenige Neurotransmitter oder
hormonelle Störungen), dann kann der Geist seine Impulse nicht mehr angemessen
vermitteln, was sich vermutlich als psychische Störung äußert. Wenn dagegen der Geist in
seiner Funktion gestört ist (das heißt, wenn die Gottesbeziehung gestört ist), dann kann das
bei gesundem Nervensystem ebenfalls zu psychischen Störungen führen. Der Ort, wo sich
die jeweilige Störung manifestiert, ist entweder der Körper und/oder die Seele.
Genaugenommen stellen psychische Störungen im Ergebnis immer eine Mischung
körperlicher und psychischer Symptome dar. Auf der Körper-Psyche-Achse könnte man z.
B. folgende Störungsbilder anordnen: Alzheimer, somatogene Depressionen, endogene
Depressionen, Psychosen und Schizophrenien, Zwangserscheinungen, Suchtkrankheiten,
Angststörungen, Erschöpfungsdepressionen, reaktive Depressionen, Verhaltensstörungen.
Letztlich müssten wir sagen, dass nicht eigentlich die Psyche des Menschen krank ist,
sondern dass entweder sein Körper krank oder seine Gottesbeziehung gestört ist bzw.
beides. Somit muss auch - will man die Problematik ursächlich angehen - dort der
wesentliche Ansatzpunkt für die Hilfe sein. Im ersten Fall wäre primär der Mediziner gefragt,
im zweiten der Seelsorger. Ähnlich hat sich der amerikanische Autor Lawrence Crabb in
einem Interview mit „Christianity today“ geäußert.3 Die zwangsläufige Folgerung aus dieser
Erkenntnis ist, dass Psychotherapeuten im Grunde säkulare Seelsorger sind. Somit ist
Psychotherapie fehl am Platz, denn sie kann das Wesentliche nicht leisten: Den Menschen
in eine gesunde Gottesbeziehung führen.
3 Zitat: „Theologisch ist mir die zweigeteilte Position, dass der Mensch aus Geist und Leib besteht, lieber als eine
Dreiteilung. Ich ziehe nämlich die Schlussfolgerung, dass das, was wir psychologische Probleme nennen, in Wirklichkeit
geistlich/theolo-gische Probleme sind.“