Luther-Predigten, Zitate und Sprüche

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 10, 14+20)

Zu Vers 14: »Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben?« Diese vier Sätze (in V. 14 und 15) nehmen der Reihe nach alle in Anspruch, die hoffärtigen Geistes sind, wie z.B. die Juden und die Häretiker und Schismatiker, die sich alle mit ihrer scheinbaren Frömmigkeit selbst betrügen. Denn mit diesen vier Sätzen verhält es sich folgendermaßen: es folgt (immer) einer aus dem anderen, und Ausgangsbasis und Voraussetzung aller anderen ist der letzte, nämlich der, daß nur die predigen können, die ausgesandt werden; aus ihm folgt (der vorletzte), daß nur die hören können, denen gepredigt wird; aus ihm wiederum (folgt der zweite), daß nur die glauben können, die hören; und (aus ihm folgt) schließlich, daß nur die (Gott) anrufen können, die glauben; und zum Schluß (folgt aus dem noch), daß nur die selig werden können, die (Gott) anrufen.

Die ganze Wurzel und Quelle der Erlösung ist also die, daß Gott Prediger schickt; sind die, die da predigen, nicht von ihm gesandt, so sind sie falsche Prediger und dieses Predigen ist dasselbe wie Nicht-Predigen, ja es wäre besser, sie predigten gar nicht. Und die dann hören, die hören falsch und es wäre besser, sie hörten nicht. Und die dann glauben, die glauben falsch, und es wäre besser, sie glaubten nicht. Und die dann (Gott) anrufen, die rufen (ihn) falsch an, und dann wäre es besser, (ihn) nicht anzurufen. Denn solche Prediger predigen nicht, solche Hörer hören nicht, solche Gläubigen glauben nicht, solche Beter beten nicht, und die selig werden sollten, werden verdammt. Solche Menschen sind vor Gott also bloß tote Figuren, sie haben Ohren und hören nicht, sie haben einen Mund und sprechen nicht, usw. Und weshalb? Weil sie nicht aus Gott sind. Denn wenn Gott sein Wort aussendet, so geht's mit Gewalt, so daß es nicht nur seine Freunde und Anhänger, sondern auch seine Feinde und Widersacher bekehrt.

Daher ist vor allem darauf zu achten, daß der, welcher lehrt, auch von Gott gesandt ist, wie z.B. Johannes. Das wird für jedermann erkennbar, wenn er seine Sendung, wie die Apostel, durch Wundertaten und ein Zeugnis vom Himmel bzw. das Fortbestehen seiner Sendung durch eine gleichartige Vollmacht, die vom Himmel her bestätigt wurde, unter Beweis gestellt hat und wenn er in demütiger Unterwerfung unter eben diese Vollmacht predigt, immer bereit, sich ihrem Urteil zu stellen und nur das zu verkünden, was ihm aufgetragen ist, und nicht das, was ihm gefällt oder seinem Kopf entsprungen ist; getreu Sach. 13, 3, (wo es heißt): »Und so soll es geschehen: Wenn jemand weiterhin als Prophet auftritt, dann sollen sein Vater und seine Mutter, die ihn gezeugt haben (d.h. der Priester und die Kirche), zu ihm sagen: Du sollst nicht am Leben bleiben (d.h. du sollst im Bann und exkommuniziert sein); denn du redest Lüge im Namen des Herrn! Und es werden Vater und Mutter, die ihn gezeugt haben, ihn durchbohren, wenn er als Prophet auftritt.« Dies ist das stärkste Geschoß, von ihm werden die Häretiker durchbohrt. Denn sie predigen ohne das Zeugnis Gottes bzw. ohne eine von Gott bestätigte Vollmacht, sondern aus eigenem Antrieb, aufgeblasen von ihrer scheinbaren Frömmigkeit. Das geschieht nach dem Wort Jer. 23, 21: »Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie.« Und doch erkühnen sie sich zu sagen: Wir werden selig werden, weil wir den Namen des Herrn anrufen, wir rufen ihn an, weil wir glauben, wir glauben, weil wir hören, wir hören, weil wir predigen. Doch eins können sie nicht sagen: Wir predigen, weil wir gesandt sind. Und da genau liegen sie (auf der Nase). Gerade das aber gibt überhaupt erst die Wirkung und die Seligkeit; ohne das ist alles andere falsch, und wenn sie noch so wenig erwägen, ob es falsch ist. Damit nur ja keiner meint, das Evangelium sei durch einen Menschen in die Welt gekommen, eben darum legt der Apostel (Röm. 1, 2) so großen Wert darauf, festzustellen, dass es erstens lange verheißen war, bevor es (in die Welt) kam und somit keine Neuerfindung war; daß es ferner nicht durch einen (in die Welt kam), sondern durch viele, und zwar durch die Propheten Gottes, und das nicht nur in Worten, sondern auch in Schriften und sogar heiligen Schriften. Ein solches Zeugnis müßte auch der Häretiker für seine Lehre und seine Ketzerei beibringen. Er soll offenlegen, wo sein lange verheißenes (Evangelium) ist und von wem es verheißen wurde. Ferner durch wen es (verheißen war) und schließlich in welchen Schriften (das geschah), damit sie auf diese Weise auch etwas Schriftliches als Zeugen aufbieten (können). Aber dies alles kümmert sie nicht im geringsten, sie behaupten nur albern: Wir besitzen die Wahrheit, wir glauben, wir hören, wir rufen (Gott) an, als ob die Tatsache, daß es ihnen so vorkommt, als wären sie aus Gott, ein hinreichender Beweis dafür wäre, daß sie aus Gott sind, und als ob es überflüssig wäre, daß Gott ihre Predigt bestätigt und (an ihr) mitwirkt durch nachfolgende Zeichen und voraufgehende Verheißungen und Prophezeiungen.

So also verhält es sich mit der Einrichtung der kirchlichen Vollmacht, wie sie sie die römische Kirche bis auf den heutigen Tag innehat: gefahrlos predigt (nur) der, der frei von Fehlern anderer Art das Evangelium predigt. Denn das Wort, das die Häretiker predigen, erzeugt bei ihnen Wohlbehagen, weil es klingt, wie sie wollen. Sie wollen aber tiefe Frömmigkeit (wie sie meinen). Auf diese Weise bleibt bei ihnen ihr Sinn ungebrochen und der Wille lebendig. Denn es kommt nicht als Gegner ihres Denkens oder als etwas, das ihr Denken übersteigt, sondern als etwas, das mit ihrem Denken im Einklang steht, so daß sie dem Wort gleichsam ebenbürtig oder sogar seine Richter sind. Wenn aber Gottes Wort wahrhaftig kommt, dann kommt es als Gegner unseres Sinnes und unserer Wünsche. Es duldet nicht, daß unser Sinn bestehen bleibt, auch nicht in dem, was (uns) das Heiligste ist, sondern es zerstört und entwurzelt und zerstreut alles, getreu dem Wort Jer. 1, 9f. und 23, 29: »Ist mein Wort nicht wie ein Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?« Wenn einer daher bei sich nichts findet, worin er sich gefällt, sondern nur das, worin er sich mißfällt, über alles (aber), was er weiß, sagt, tut und leidet, betrübt ist und nur bei anderen oder bei Gott etwas spürt, das ihm gefällt, so ist das ein untrügliches Zeichen dafür, daß er Gottes Wort hat und in sich trägt. Wenn einer dagegen bei sich das findet, worin er sich gefällt, und sich freut über das, was er sagt, weiß, tut und leidet, so ist das das deutlichste Anzeichen dafür, daß Gottes Wort in Wahrheit nicht in ihm ist. Der Grund für all dieses ist der, daß Gottes Wort »den Felsen zermalmt« und alles, was uns an uns gefällt, zerstört und abtötet, und nur das in uns übrig läßt, was uns mißfällt, um auf diese Weise kund zu tun, daß man Wohlbehagen, Freude und Zuversicht nur in Gott haben kann, und Fröhlichkeit und Beglückung nur außerhalb seiner selbst bzw. im Nächsten.

Zu Vers 20: Zur Abwehr ihrer selbstgefälligen Bewertung eigener Verdienste »wagt es Jesaja und sagt: Ich bin gefunden von denen, die mich nicht gesucht haben« usw., was heißen soll: nicht durch den Eifer und die Verdienste, die einer gehabt hätte, sondern durch meine Gnade haben sie Kunde von mir bekommen. Was untersteht ihr euch also zu sagen, es sei eine Folge eurer großen Verdienste, daß ihr ihn findet? Ein Mensch dieses Schlages war jener bekannte Eremit, der sah, wie ein Straßenräuber in den Himmel entrückt wurde und aus Entrüstung darüber ins weltliche Leben zurückkehrte. Und vom selben Schlage war auch der andere, der zu einem Räuber, der (seine Taten) bereute und den Wunsch äußerte, so zu sein wie er, sagte: »Dein Wunsch ist gut, wärest du doch nur danach« – und der dann verdammt wurde. Und (so erging es auch) jener Nonne, die sterbend hörte, wie die Umstehenden sie lobten, und darauf an den Fingern ihren Todestag auszurechnen begann, d.h. den Tag, an dem ihr Fest begangen werden würde. So (ist es): »Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden« (Matth. 23, 12; Luk. 14, 11; 18, 14). Dies alles ist also gesagt, geschrieben und geschehen, auf daß die stolze Vermessenheit der Menschen gedemütigt und die Gnade Gottes gepriesen werde: so daß der, der sich rühmt, sich nicht seines Laufens, sondern der Barmherzigkeit Gottes rühme (vgl. 1. Kor. 1, 31).

Was wird denn der Hochmütige, der in seinem Leben vielerlei getan hatte, antworten, wenn Gott ihm ein armseliges Eheweib vorzieht (und sagt): Siehe, diese hat mir nur dadurch gedient, daß sie Kinder gebar, und dies ihr Werk stelle ich über alle deine Werke und es gefällt mir. Was wird er dann antworten? Denn alle Werke haben soviel Wert, wie Gott ihnen Ansehen beimißt. Nun mag es aber sein, daß er gerade die verachtetsten und geringsten gnädig ansieht und dafür die üppigsten und größten zurückweist. Also sollen wir keine guten Werke tun? Das sei ferne. Aber wir sollen sie in Demut tun, dann weist Gott sie auch nicht zurück. Darum sind die Menschen heute seltsame Narren: Sie sammeln gute Werke – nach ihrer Meinung viele und bedeutende – und glauben, diese Werke seien schon deshalb gut, weil sie Mühe machen und zahlreich sind und ihnen gut scheinen. Aber vergebens. Gut sind allein die Werke der Demut, und davon wollen sie ganz und gar nichts wissen.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 643-649
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 12, 2)

Zu Vers 2: »Sondern verändert euch.« Dieses (Wort) steht (hier) im Sinne von Fortschritt. Denn Paulus spricht (hier) zu Leuten, die gerade erst Christen geworden sind. Ihr Leben besteht (somit) nicht im Ausruhen, sondern darin, vom Guten zum Besseren fortzuschreiten, wie ein Kranker von der Krankheit zur Gesundheit, ein Beispiel, das auch der Herr mit dem halbtoten Mann, der von dem Samariter in Pflege genommen wurde, verwendet. Ebenso 1. Mose 1, 2, wo es nicht heißt: der Geist Gottes ruhte, sondern: »schwebte über den Wassern«, und 5. Mose 32, 11: »Wie ein Adler ausführt seine Jungen und über ihnen schwebt.« (Ferner) Ps. 18, 11: »Er fuhr auf und flog daher, er schwebte auf den Fittichen des Windes.« Von daher auch das Wort des hl. Bernhard: »Sobald du anfängst, nicht mehr besser werden zu wollen, hörst du auf, gut zu sein.« Denn es hilft dem Baume nichts, daß er grünt und blüht, wenn er nicht auch Frucht bringt aus der Blüte. Darum gehen viele in der Blüte zugrunde. Denn wie es im Bereich des Natürlichen fünf Stufen gibt: (nämlich) Nichtsein, Werden, Sein, Tätigsein und Erleiden – oder in der Terminologie des Aristoteles: Unvorhandenheit, Stoff, Form, Wirken und Erleiden – so auch im Bereich des Geistes: »Nichtsein« bezeichnet eine Sache ohne Namen und den Menschen in Sünden; »Werden« bezeichnet dessen Rechtfertigung; »Sein« bezeichnet seine Gerechtigkeit; »Wirken« bezeichnet sein Handeln und Leben in Gerechtigkeit, und »Erleiden« bezeichnet sein Vollkommen- und Vollendetwerden. Und diese fünf sind beim Menschen gleichsam in ständiger Bewegung. Und alle menschlichen Vorfindlichkeiten – bzw. alle bis auf das uranfängliche Nichtsein und das endgültige Sein; denn die drei, nämlich »Werden«, »Sein«, »Tätigsein« bewegen sich ja ständig zwischen den beiden (andern), nämlich »Nichtsein« und »Erleiden« hin und her – gehen auf dem Wege der Neuwerdung vom Stadium der Sünde in das der Gerechtigkeit über und (gelangen) somit vom Nichtsein über das Werden zum Sein. Ist dies geschehen, so ist auch sein Wirken gerecht. Von diesem neuen Sein aber, das in Wahrheit ein Nichtsein ist, gelangt er fortschreitend über das »Erleiden« zu einem weiteren neuen »Sein«, d.h. durch ein »Anderswerden« in ein besseres »Sein« und von hier aus in ein weiteres.

Daher ist der Mensch in Wirklichkeit und Wahrheit unausgesetzt im Stadium des Aufgehobenseins, stets auch im Stadium des Werdens bzw. im Stadium des Seins als bloßer Möglichkeit und des Stoffs und stets auch im Stadium wirklichen Seins. In dieser Weise philosophiert nämlich Aristoteles über den Bereich des Natürlichen, und zwar richtig, leider versteht man ihn nicht dementsprechend. Stets ist der Mensch (zugleich) im Stadium des Nichtseins, des Werdens und des Seins, (bzw.) stets (zugleich) im Stadium des Aufgehobenseins, des Seins als bloßer Möglichkeit und des tätigen Seins, (bzw.) stets (zugleich) im Stadium der Sünde, der Rechtfertigung und der Gerechtigkeit, d.h. immer Sünder, immer Büßer, immer gerecht. Denn weil er Buße tut, deshalb wird er aus dem Nichtgerechten ein Gerechter. Also liegt die Buße auf der Mitte zwischen Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit. Und somit ist er in Sünde, was den Ausgangspunkt betrifft, in Gerechtigkeit aber, was den Zielpunkt angeht. Wenn wir also fortwährend Buße tun, sind wir zwar fortwährend Sünder, und sind doch – eben deshalb – auch gerecht und werden (eben deshalb) gerechtfertigt, (sind also) teils Sünder, teils Gerechte, d.h. eben nichts als Büßer. Genauso nehmen auf der anderen Seite die Gottlosen, die der Gerechtigkeit den Rücken kehren, eine mittlere Position zwischen Sünde und Gerechtigkeit ein, bewegen sich jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Somit ist dieses Leben ein Weg zum Himmel und zur Hölle. Niemand ist so gut, daß er nicht besser, niemand so schlecht, daß er nicht schlechter werden könnte, solange bis wir schließlich unsere Endgestalt erreichen.

»Auf daß ihr prüfen möget, was das ist« (Gottes Wille, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene). Einige (Ausleger) fassen »der gute« als in bezug auf die Anfänger, »der wohlgefällige« als in bezug auf die Fortgeschrittenen, und »der vollkommene« als in bezug auf die Vollkommenen gesagt auf. Und diese Zuordnung ist nicht abwegig. Auch wäre eine Beziehung auf jene drei vorher genannten Eigenschaften: »Lebendig, heilig, Gott wohlgefällig« möglich. Der »gute« Wille Gottes meint das Werden des Guten, der »wohlgefällige« (Wille Gottes) dagegen das Handeln in Reinheit und das Enthaltsamsein, der »vollkommene« (Wille Gottes) aber, das Gott allein gefallen wollen. Doch dadurch, daß der Apostel sagt, das Prüfen dieses dreifachen Gotteswillens sei die Folge einer Neugestaltung des Sinnes, senkt er uns etwas ins Herz, das tiefer ist als das, was man mit Worten weitergeben kann, was vielmehr nur durch (eigene) Erfahrung erkennbar wird. Diejenigen, »welche der Geist Gottes treibt« (Röm. 8, 14), sind daher Menschen mit fügsamem Sinn und fügsamer Gesinnung; auf wundersamen Wegen führt sie die Rechte Gottes in eine Richtung, die sie nicht wollen und planen, sondern (in einer Weise, die) ihren Sinn und Verstand übersteigt. Solange sie noch geführt werden, hat es daher den Anschein, als sei der Wille Gottes für sie bedrückend, unbehaglich und völlig ohne Hoffnung. Trotzdem erweisen sie sich, solange sie so geführt werden, als demütig ergeben und harren aus im Glauben, und wenn sie dann aufs härteste geprüft worden sind, erkennen sie auf einmal, wie gut der (göttliche) Wille gewesen ist, der aber unerkannt, ja unerkennbar war, solange er sich noch erfüllte. Die Ungläubigen »warten also nicht auf Gottes Rat« (vgl. Ps. 106, 13), denn sie handeln nach der Vorstellung, die sie sich gemacht haben und wollen sich (nur) davon treiben lassen und wollen ihren (eigenen) Sinn nicht abtun oder verändern lassen. Somit »prüfen sie nicht, welches Gottes guter Wille sei« (vgl. Röm. 12, 2), sondern »stellen sich dieser Welt gleich« (vgl. Röm. 12, 2), weil sie sich ausschließlich auf ihr Gefühl und ihre Erfahrung verlassen. Denn der Glaube ist es, der zur Sinnesänderung und zur Anerkennung des göttlichen Willens führt. Etwas Ähnliches sagt der Apostel Eph. 3, 18f.: »Auf daß ihr begreifen möget mit allen Heiligen, welches da sei die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe, damit ihr erfüllt werdet mit aller Gottesfülle.« Und weiter heißt es (V. 20): »Dem aber, der überschwenglich tun kann über alles, was wir verstehen« usw.

Denn sooft Gott eine neue Stufe der Gnade gewährt, gibt er sie in der Weise, daß sie gegen all unser Sinnen und Planen kommt. Wer also dann nicht nachgibt und seinen Sinn ändert, sondern Widerstand leistet, sich wehrt und ungeduldig wird, der erlangt diese Gnade nie. So ist unser Umdenken die nützlichste Einsicht für die Gläubigen Christi. Das Festhalten am eigenen Sinn aber ist der schädlichste Widerstand gegen den Heiligen Geist. Wir wollen das durch Beispiele belegen: Als Abraham den Befehl bekam, seine Heimat zu verlassen, ohne zu wissen, wohin er gehen würde (1. Mose 12, 1ff.), war das gegen seinen Sinn. Ebenso, als ihm geboten wurde, seinen Sohn zu opfern (1. Mose 22, 2ff.): hier kam es zu einer sehr tiefgreifenden Umgestaltung seines Sinnes, wie Kapitel 4 des Römerbriefes zeigt; bedrückend, mißlich und ohne Hoffnung schien Gottes Wille in bezug auf Isaak; und doch erwies er sich später als der beste, wohlgefälligste und vollkommenste. Dasselbe ließe sich am Beispiel Davids (vgl. 1. Sam 17, 33) und an dem der Jungfrau Maria (vgl. Luk. 1, 28ff.) zeigen. Doch hier muß jeder seine eigenen Erfahrungen machen und mit Sorgfalt auf seine eigene Heimsuchung achten. Denn der hier in Rede stehende Eigensinn ist ein großes Hemmnis, ja, seinetwegen gibt es Streit mit den anderen, und er ist es, der den Menschen verleitet, seinen Oberen und denen, durch deren Wort oder Tat Gott seinen Willen erweisen will, Widerstand zu leisten und seinen eigenen Kopf zu haben. Darum geht der Text weiter: »Denn ich sage« usw. (V. 3). Gott tut in der Kirche nämlich nichts anderes, als diesen (Eigen-) Sinn umzuwandeln. Dieser seiner Umwandlung widerstreben jedoch jene, die an ihrem eigenen Sinn Gefallen finden und damit alles in Unordnung bringen: sie erzeugen Spaltungen und Ketzereien. Das sind die »Menschen mit zerrütteten Sinnen«, wie er sie an anderer Stelle (2. Tim. 3, 8) nennt.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 650-656
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 12, 2)


So also, wie die Weisheit Gottes unter dem Anschein der Torheit verborgen liegt und die Wahrheit unter der Gestalt der Lüge, genauso kommt auch das Wort Gottes, wenn es kommt, in einer Gestalt, die unserem Denken, das doch die Wahrheit zu erkennen glaubt, entgegensteht; daher hält es ein Wort, das ihm entgegensteht, für Lüge (und zwar) in einem solchen Maße, daß Christus sein Wort als unseren Widersacher bezeichnet hat, Matth. 5, 25: »Sei willfährig deinem Widersacher«, und Hosea 5, 14: »Ich bin für Ephraim wie ein Löwe und für das Haus Juda wie ein junger Löwe«, d.h. sein Widerpart. Genauso verhält es sich auch mit dem Willen Gottes, obwohl er eigentlich und seiner Natur nach »gut, wohlgefällig, vollkommen« ist. Allerdings ist er so sehr unter der Gestalt dessen, was schlecht, mißlich und ohne Hoffnung ist, verborgen, daß er unserm Wollen und unserer sogenannten guten Absicht wie das Schlimmste und Hoffnungsloseste und keineswegs wie der Wille Gottes, sondern eher wie der Wille des Teufels scheinen will – wenn der Mensch seinen eigenen Willen und seine gute Absicht nicht aufgibt und sich nicht in die völlige Aufgabe seiner alten Vorstellung von Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit schickt. Hat er das nämlich getan, so wird er inne, daß das, was ihm vorher das Schlimmste war und ihm heftig mißfiel und verworfen vorkam, jetzt das Liebste ist; es gefällt ihm im höchsten Maße und es gilt ihm als das Vollkommenste. In diesem Sinne spricht der Herr zu Petrus (Joh. 21, 18): »Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wird ein anderer dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.« Eine merkwürdige Sache! Petrus wird geführt, wo er nicht hinwill, und doch würde er, wenn er nicht auch wollte, damit nicht Gott verherrlichen, sondern vielmehr sündigen. Wollen und Nichtwollen ist also gleichzeitig. Genauso hat Christus bei seinem Todeskampf sein Nichtwollen (um es einmal so auszudrücken) durch sein inbrünstiges Wollen vollendet. In allen Heiligen wirkt Gott nämlich in der Weise, daß er sie dazu bringt, mit vollem Willen das zu tun, was sie mit aller Entschiedenheit nicht wollen. Mit dieser Widersprüchlichkeit wissen die Philosophen nichts anzufangen und die Menschen begreifen sie nicht. Darum sagte ich: wenn einer es nicht auch durch praktische Erfahrung kennengelernt hat, so wird er es nie begreifen. Denn wenn schon im Bereich der Rechtswissenschaft, die nur andeutungsweise Lehre von der Gerechtigkeit ist, Praxis erforderlich ist, wieviel mehr dann in der Theologie! Daher sollte sich jeder Christ dann am meisten freuen, wenn etwas genau nicht nach seinem Sinn geht und beunruhigt sein, wenn es nach seinem Sinn geht. Das sage ich nicht nur in bezug auf die Begierden des Fleisches, sondern sogar in bezug auf unsere wichtigsten Rechtsansprüche.

Deshalb sind Juristen, die empfehlen, Rechtsansprüche, deren Rechtmäßigkeit ihnen als gesichert gilt, auf der Stelle durchzusetzen, für unsere Zeit denkbar gefährliche Berater. So ließ sich Papst Julius in dieser Weise beraten, und deshalb preist man ihn selig. Genauso Herzog Georg. Und fast alle Welt läßt sich von diesem Irrtum hinreißen: Kardinäle, kirchliche Würdenträger und Fürsten, genauso wie einst die Juden (bei ihrem Kampf) gegen den König von Babylon. Sie argumentieren alle nur von Teilaspekten her; daher kommen sie nie zu einem umfassenden Ergebnis, sondern scheitern. Denn Gott regiert die Welt mit allumfassender Gerechtigkeit, damit dadurch das, was geschehen solle, bei allen, für alle und durch alle geschieht; jene verblendeten Dummköpfe dagegen erteilen ihre Ratschläge von einem bloßen Teilaspekt der Gerechtigkeit her. In einer solchen Sache ist eben keiner von den Juristen zu gebrauchen. Sprechen sie doch mit Verwegenheit und mit dreistem Unverstand zugleich solch hirnverbrannte Sätze aus, wie nicht einmal Bauern sie wagen würden, etwa den: Kein Zweifel, der da ist im Recht, auch vor Gott, und dieser ist im Unrecht, nach göttlichem Recht genauso wie nach menschlichem; daraufhin machen sie sich – ihrer Sache ganz sicher – voll guter Absicht und voll Eifer um die Gerechtigkeit ans Werk. Unterdessen denkt keiner daran, daß diese Gerechtigkeit nur für diesen Einzelfall zutrifft, bei einem Menschen, der vielleicht in allen andern Bereichen in Gottes Augen ungerecht ist oder doch in mehreren. Und da soll Gott ihm nun helfen als dem Gerechten und dabei alle seine Ungerechtigkeiten vergessen und diesen einen Punkt, in dem er gerecht ist, höher bewerten als die ganze Masse seiner Ungerechtigkeit.

Als man beispielsweise (um auch meinerseits einmal praktische Schriftauslegung zu betreiben, damit ihr an Hand analoger Beispiele die Parallelen seht) Herzog Georg den Rat gab, sein Recht in Friesland durchzusetzen, da fand sich keiner, der ihm gesagt hätte: Hochwohlgeborener Fürst, deine und deines ganzen Volkes Verdienste sind nicht so groß, daß dich Gott nicht in einem gerechten Gottesgericht auf diese Weise durch jenen Aufrührer und Rechtsbrecher züchtigen könnte. Also halte an dich und erkenne in dieser Bosheit den Willen Gottes, der alles zum Besten kehrt. Sein Wille sei dir wohlgefällig. Ebenso (wäre es gut gewesen,) wenn Papst Julius jemand (wie folgt) geraten hätte: Heiligster Vater, die römische Kirche ist jetzt nicht von so großer Heiligkeit, daß sie nicht vielleicht noch Schlimmeres verdient hätte, als daß ihr Venedig dieses Unrecht antut. Halte an dich, es ist Gottes Wille. Doch jener sagte: »Nein, nein, wir müssen unser Recht verfolgen.« Ebenso (gut wäre es auch gewesen,) wenn jemand unserem Bischof von Brandenburg den Rat gegeben hätte: Ehrwürdiger Vater, auch ihr habt öfter, aufs ganze gesehen, gesündigt. Ich bitte euch, ertragt diese Ungerechtigkeit auf einem Teilgebiet. Du aber, Kurfürst Friedrich, stehst bisher in der Obhut eines guten Engels, hoffentlich erkennst du das auch! Mit wie bösen Beleidigungen, so frage ich, bist du doch gereizt worden, o mit was für gerechten Gründen hättest du Krieg führen können! Aber du hast (alles) hingenommen und geschwiegen, ich weiß nicht, ob im schlichten Bekenntnis zu deiner Sünde oder aus Furcht vor unmittelbarem Schaden.

Daher überkommt mich (um von mir zu sprechen) bei diesem Wort »Gerechtigkeit« ein solcher Brechreiz, daß es mich weniger schmerzen würde, wenn mich einer ausraubte. Und trotz allem tönt sie unaufhörlich aus dem Munde der Juristen. Es gibt auf Erden niemanden, der von dieser Sache weniger versteht als die Sippschaft der Juristen und jener, die ihre gute Absicht und höhere Einsicht beständig im Munde führen. Denn auch ich habe bei mir und bei vielen anderen die Erfahrung gemacht, daß Gott uns da, wo wir gerecht waren, in unserer Gerechtigkeit verlachte. Und dennoch habe ich gehört, wie Menschen die Stirn hatten, zu sagen: Ich weiß, daß ich die Gerechtigkeit (auf meiner Seite) habe, aber darauf hat er nicht geachtet. Das mag stimmen, aber (du hattest eben nur) eine teilweise (Gerechtigkeit); um die aber kümmert sich Gott nicht, so wahr er lebt. Allumfassende Gerechtigkeit ist also die Demut; sie macht einen jeden zum Diener des anderen und dadurch gibt sie allen alles. In diesem Sinne sagt Christus zu Johannes (dem Täufer): »Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen« (Matth. 3, 15). So bekennt Ananias (vgl. Dan, 3, 27ff.), daß er und seine Begleiter einerseits zu Recht leiden müßten und daß ihnen dabei doch Unrecht widerfahre, deshalb nämlich, weil es ihnen von einem ungerechten König widerfahre. Denn mag auch jener, der handelt, ungerecht handeln, so doch nicht an dem, der leidet; denn dieser leidet zu Recht. Mit welchem Recht ergreift denn der Teufel Besitz von den Menschen? Oder mit welchem Recht hängt ein böser Henker einen Dieb auf? Doch nicht kraft eigenen Rechts, sondern kraft des richterlichen Rechts. Somit wollen die Menschen aus Stolz auf ihre Gerechtigkeit nicht auf den höchsten Richter hören, sondern auf ihr eigenes Urteil; in Anbetracht dessen, daß sie in jener Hinsicht unschuldig sind, wollen sie gleich in jeder Hinsicht unschuldig sein.

Da also vor Gott keiner gerecht ist, kann schlechterdings keinem von irgendeiner Kreatur Unrecht geschehen, selbst dann nicht, wenn er gegen sie recht hat. Somit ist allen Menschen der Grund zum Streiten genommen. Wem immer also ein Unrecht geschieht und Gutes mit Bösem vergolten wird, der soll sein Auge von diesem Bösen abwenden und daran denken, wie hoch sein Schuldkonto bei anderen ist. Dann wird er sehen, wie gut der Wille Gottes bei diesem Übel ist, das ihm widerfährt; das eben heißt neu werden im Geiste und einen anderen Sinn annehmen und auf das bedacht sein, was Gottes ist. So stand denn fest, daß Petrus Gott nicht würde verherrlichen können, wenn er sich gürtete und ging, wohin er wollte (vgl. Joh. 21, 18), selbst wenn er dabei nicht auf Abwegen gehen würde, sondern auf der Straße höchster Gerechtigkeit. Als aber selbst dieser seiner außerordentlichen Gerechtigkeit eine Absage erteilt wurde und er nun ging, wohin nicht er, sondern wohin ein anderer wollte, da hat er Gott verherrlicht. Somit können auch wir Gott nur dann verherrlichen, wenn wir das tun, was wir nicht wollen, auch dann, wenn es um unser Rechthaben geht, ja gerade dann, wenn es um unser Rechthaben, unser Denken und unsere Ehre geht. Seine Seele hassen und gegen den eigenen Willen wollen, einsichtig sein gegen die eigene Einsicht, die Sünde zugeben gegen das eigene Gerechtigkeitsgefühl, auf die Torheit hören gegen die eigene Weisheit, das also heißt »sein Kreuz auf sich nehmen« und »Christi Jünger werden« (vgl. Matth. 10, 38; Mark. 8, 34; Luk. 14, 26. 27) und »sich verändern durch Erneuerung des Sinnes« (vgl. Röm. 12, 2) usw.

Daher ist zu beachten, daß die hier verwendeten Begriffe »gut«, »wohlgefällig«, »vollkommen« nicht wesensmäßig vom Willen Gottes ausgesagt werden, sondern nur nach Maßgabe unserer Vorstellung. Denn der Wille Gottes wird ja nicht durch unsere Zustimmung ein solcher, sondern er wird nur als solcher erkannt. Er wird also »gut« für uns, d.h. sein Gut-sein wird (von uns) anerkannt, wird »wohlgefällig«, weil er am besten gefällt, »vollkommen«, weil er alles vollkommen gemacht hat, d.h. (wiederum), er wird für uns »gut, wohlgefällig, vollkommen«. Und diese Worte sind überreich an Trost. Gerade dann sollen wir nämlich guten Muts sein, wenn es schlimm kommt, weil ja hierin der gute Wille Gottes am Werk ist, sollen gerade dann Wohlgefallen empfinden, wenn das eintritt, was uns am wenigsten gefällt, weil hierin ganz gewiß der wohlgefällige, d.h. der allergefälligste Wille Gottes am Werk ist und sollen gerade dann das größte Zutrauen haben, wenn das eintritt, was uns in größte Verzweiflung und Verlorenheit stürzt, weil dann der vollkommene Wille Gottes am Werk ist, der alles vollkommen macht und zum größten Heil wendet. Denn dies ist die Natur des göttlichen Willens (1. Sam. 2, 6): »Er tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf.« So tut er (uns) Gutes, in dem er Böses tut; er gefällt am meisten, indem er (uns) mißfällt; er macht vollkommen, indem er zerstört. Darum darf man nicht töricht werden und »sich nicht dieser Welt gleichstellen«, die nur nach ihrem Fühlen und Denken urteilt (ihr Denken aber ist bestimmt von ihrer Erfahrung und von den Vorfindlichkeiten), sondern wir müssen uns mehr und mehr erneuern; denn so wird unser Wille erprobt werden, wobei wir nicht nach unserer Erfahrung und Empfindung urteilen (können), sondern im Dunkeln tappen.

Jene aber, die sich nicht verändern lassen wollen, werden am eigenen Leibe erfahren, was Gottes Zorn (eswille) ist, nämlich schlimm, mißfallend und verderbenbringend: schlimm, weil er Unheil und Schaden bringt; mißfallend, weil er bewirkt, daß eben dieses Unheil nicht geduldig ertragen wird, sondern mißfällt; verderbenbringend aber, weil er die Unzufriedenen und Ungeduldigen in Verstocktheit und Verdammnis fallen läßt, wo sie unter Lästerungen und bösen Reden leben oder vielmehr sterben. »Gut« aber ist sein Wille, weil er das Böse zum Guten wendet, »wohlgefällig«, weil er bewirkt, daß dieses Gute freudig geliebt wird und weil er freudige Liebe und aufrichtiges Wohlgefallen an diesem Guten, vielmehr an diesem Schlimmen, erzeugt; »vollkommen«, weil er die, die freudig ja sagen, zur Vollendung bringt für alle Zeit und weil er vollendet, was er hier begonnen hat. Allerdings trifft alles bisher Gesagte nur für die zu, die die Möglichkeit haben, so zu handeln und ihre eigenen Herren sind. Anders steht es bei jenen, die andere Menschen unter sich haben; denn sie betreiben nicht die eigene Sache, sondern handeln im Dienste (und Auftrage) Gottes. Daher sind sie gehalten, ihre Untergebenen mit Gerechtigkeit zu regieren und nicht zu dulden, daß einer dem andern Unrecht tut. Denn in diesem Fall haben sie nicht das Recht, nachgiebig zu sein, und Geduld ist hier fehl am Platze. Denn Gottes Teil ist nicht ein knechtischer Sinn, Nachgiebigkeit oder Unterwürfigkeit, sondern Gericht, Ruhm und Rache. Sie aber handeln als seine Stellvertreter. Wo aber einer, ohne sich schuldig zu machen, wenn auch unter Inkaufnahme von Schaden und Unrecht gegen sich selbst, nachgeben kann, da muß er es tun, wie ich oben gesagt habe.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 656-665
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 12, 7+11+12)

Zu Vers 7: »Hat jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben gemäß.« Oben hat Paulus gezeigt, wie wir uns gegen Gott verhalten sollen, nämlich durch (den Hinweis auf die) Erneuerung des Geistes und die Heiligung des Körpers, »auf daß wir prüfen mögen, was Gottes Wille sei« (Röm. 12, 2). Hier nun gibt er bis zum Ende des Briefes Anweisung, wie wir uns gegen unseren Nächsten verhalten sollen und entfaltet dieses Gebot der Nächstenliebe mit aller Ausführlichkeit. Man muß sich wundern, wie sehr diese so bedeutsame und jedermann ins Auge fallende Unterweisung eines solchen Apostels, ja, des Heiligen Geistes außer acht gelassen wird. Wir geben uns mit wer weiß welchen anderen Nichtigkeiten ab: Kirchenbau, Erweiterung des Kirchenbesitzes, Anhäufung von Kapitalien, Vermehrung der Meßgewänder und der goldenen und silbernen Gefäße, Veranstaltung feierlicher Gesänge und Prozessionen und anderes, was ins Auge fällt. Und auf diese Dinge gründen wir, unbekümmert um das, was hier der Apostel gebietet, unsere ganze Frömmigkeit, ganz zu schweigen von dem Unmaß an Hoffart, Prahlerei, Habgier, Verschwendung (ssucht) und Ehrsucht, welche dabei entstehen.

»Hat jemand ein Amt, so warte er des Amtes.« Es ist nämlich merkwürdig, in welchem Maße hier die »gute Absicht« ihr Wesen treibt, die so tut, als könne sie wer weiß welche Früchte bringen, wenn sie predigt, obwohl ihr in einem Fall sogar die Ausbildung fehlt, obwohl sie in einem anderen Fall zwar die Ausbildung, aber keine Berufung und in einem dritten zwar die Ausbildung, aber nicht die Gnade besitzt. Denn die Berufung findet die Gnade und sie verleiht sie auch; wer ohne sie predigt, der »schlägt in die Luft« (vgl. 1. Kor. 9, 26) und die Frucht, mit der er prahlt, existiert nur in seiner törichten Einbildung. Von denen, die heutzutage allenthalben von ihren Bischöfen und Ordensvätern auf die Kanzel geschickt werden, will ich gar nicht erst reden. Dummköpfe sind es ohne jede Eignung: selbst wenn wir wollten, wir könnten sie nicht als berufen und gesandt bezeichnen, weil hier Untaugliche und Unwürdige berufen werden, und das ist eine Folge des Zorns Gottes, der uns sein Wort um unserer Sünden willen entzieht und die Zahl der redseligen und weitschweifigen kleinen Schwätzer vermehrt.

Zu Vers 11: »(Seid) brennend im Geiste.« Hiergegen verstoßen die Schläfrigen und Müden, die lustlos sind bei all ihren Werken; mit ihren Werken erreichen sie nichts, es sei denn, sie zu vernichten, Sprüche 18, 9: »Wer lässig ist in seiner Arbeit, der ist ein Bruder des Verderbers.« Diese Sorte Mensch ist aber selbst ihren Mitmenschen verhaßt, um wieviel mehr Gott. Sie sind genauso wie heute allenthalben die gedungenen Handwerker: sie arbeiten, als ob sie schliefen. Und Ordensleute und Priester schlafen beim Beten, im wahrsten Sinne des Wortes, selbst ihr Körper schläft, von der Trägheit des Geistes gar nicht zu reden, und betreiben alles mit höchster Trägheit. Daher wettert der Apostel an dieser Stelle gegen diese Todsünde der »Gleichgültigkeit«, den Widerwillen gegen das gute Werk; was auf griechisch »Akedia« bzw. »Acedia« heißt, also soviel wie»Widerwille«, »Unlust«, »Gleichgültigkeit«. Und dieses (Laster) ist so weit verbreitet, daß es fast niemand mehr der Mühe wert hält, sich anzustrengen. Da sie nun nicht im Geiste brennen wollen, so brennen sie zwangsläufig vor fleischlicher Begierde. Denn eines von beiden muß brennen, entweder der Geist oder das Fleisch. Und das Brennen des einen bedeutet das Erkalten oder Erlöschen des anderen, ausgenommen da, wo Gott eine Versuchung geschehen läßt und der Geist mitten in der Brunst des Fleisches noch stärker brennt. Wer also ohne innere Anteilnahme handelt, der ist zwangsläufig brünstig im Fleische; daher wird er zwangsläufig »seine Werke vernichten«, die er tut, nämlich durch die Brunst seines Fleisches; einem langweiligen Koch vergleichbar, der bei der Herrichtung des Tabletts (auf dem die Speisen zur Tafel gebracht werden) so (verschlafen) herumhantiert, daß die Speisen beim Auflegen kalt werden. Wer würde über einen solchen Menschen nicht mit Recht verärgert sein?

»Dienet dem Herrn.« Das richtet sich nicht nur gegen diejenigen, die der Habsucht, der Welt oder ihrem Bauche dienen, sondern mehr noch gegen jene, die sich an einem guten Werk festklammern, wenn der Gehorsam sie anderswohin ruft. Sie sind denen vergleichbar, die einen Lastesel besitzen und nicht dulden wollen, daß man ihn losbindet, um dem Herrn zu dienen (vgl. Matth. 21, 2ff.; Mark. 11, 2ff.; Luk. 19, 30ff.), d.h. sie erschöpfen sich in ihren eigenen Vorhaben und lassen sich durch keine fromme Pflicht und keine Sache Gottes zu anderen Dingen abberufen. So dienen sie eher sich selbst als Gott. Denn sie sind nur bereit, jeden Willen Gottes zu erfüllen, wenn sie ihn sich ausgesucht haben, wobei sie etwa folgendes als Entschuldigung vorbringen: Es ist nicht gut, das liegen zu lassen, was ich gerade treibe, und dort zu wirken. Wenn ich aus dieser Gruppe die Fürsten, die der Kirche verhaftet sind und die Kirchenfürsten, die dem Hof verhaftet sind, nennen wollte, so würde ich wohl nicht lügen; z.B. unser Kurfürst Friedrich und seine Beamten, die sich verleugnen lassen, wenn sie gebraucht werden; Gott ruft sie und sie sagen: Ei, ich muß (jetzt) beten und Gott dienen, und sind solche Narren, daß sie Gott, um ihm zu dienen, den Dienst versagen; sie wissen ja gar nicht, was es heißt, dem Herrn dienen, nämlich keinen Vorbehalt kennen, wohin Gott uns auch immer gerufen haben mag und nirgendwo fest und beharrlich stehenzubleiben.

Zu Vers 12: »Haltet an am Gebet.« Das geht gegen die, welche die Psalmen nur lesen, ohne daß das Herz dabei beteiligt ist. Und es steht zu befürchten, daß die kirchlichen Gebete heutzutage eher ein Hindernis sind als ein Heilmittel. Erstens, weil wir Gott nur noch mehr beleidigen, wenn wir sie ablesen, ohne mit dem Herzen dabei zu sein, da er sagt: »Dieses Volk ehrt mich mit seinen Lippen« usw. (Jes. 29, 13; Matth. 15, 8; Mark. 7, 6). Zweitens, weil wir, durch solche Scheingebete getäuscht, sicher werden, als ob wir recht gebetet hätten. Und so treffen wir keinerlei Anstalten, uns ernstlich um wirkliches Beten zu bemühen, sondern glauben, wir hätten (recht) gebetet, wenn wir solche Gebete heruntergebetet haben, und kümmern uns um nichts weiter. Das ist eine furchtbare Gefahr. Und dafür verzehren wir dann in Ruhe und Sicherheit Einkünfte und Pfründen und Abgaben des Volkes! Die Folge ist, daß mit erstaunlichem Unverständnis nun kanonische Stundengebete gestiftet werden, freilich aus einer falschen Religiosität, insofern nämlich, als die Stifter sich nicht darum kümmern, was gebetet wird, sondern nur darum, daß viel gesungen wird, wobei sie jedoch zur Auflage machen, daß für sie gebetet werde. Das Gebet aber schreiben sie selbst vor, so als ob es in ihrer Macht läge, ein Gebet zu erkaufen. Wieviel besser wäre eine Stiftung ohne Auflagen, so daß für sie gebetet würde, sobald der Beter es vermöchte. – Aber sie ahmen doch alte Stiftungen nach. – Antwort: nein, denn jene (Stifter) suchten dabei den Ruhm Gottes, nicht nur den Vorteil des Gebets. So heißt es denn in der Urkunde unserer Stiftung hier: »um des Heils unserer Seelen willen.« Also hätte Gott wohl nicht wissen können, weswegen du stiftetest? Oder konnte er es dir nicht entsprechend vergelten, wenn du es ohne Bedingung, nur seinetwegen gestiftet und ihm nicht vorgeschrieben hättest, wofür du es hast stiften wollen, und wenn du das nicht vor den Menschen ausposaunen würdest? – Wie aber, wenn du lügst und es gar nicht zur Ehre Gottes tust? Gebe Gott, daß ich mich als ein falscher Prophet erweise, aber ich fürchte, daß dieses Kloster diesem seinem armen Stifter zuletzt doch großes Unglück bringt und genauso die Allerheiligenkirche.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 665-671
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 13, 1)

Zu Vers 1: Der Apostel unterweist hier das Volk Christi, wie es sich gegen die nicht zu ihm Gehörenden und gegen die Regierenden verhalten soll und lehrt im Gegensatz zur Auffassung der Juden, man müsse auch den Schlechten und Ungläubigen (unter ihnen) Untertan sein. In derselben Weise wie 1. Petr. 2, 13ff. (wo es heißt): »Seid Untertan aller menschlichen Ordnung, es sei dem König als dem Obersten oder den Statthaltern als die von ihm gesandt sind ... Denn das ist der Wille Gottes.« Selbst wenn die Besitzer der Macht schlecht und ungläubig sind, so sind doch ihr Stand und ihre Macht gut und von Gott. So sagte der Herr zu Pilatus, dem sogar er – zum Beispiel für uns alle – untertan sein wollte (Joh. 19, 11): »Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von oben her gegeben.« Damit die Christen sich also nicht unter dem Vorwand der Religion weigern könnten, den Menschen, insbesondere den schlechten, zu gehorchen – wie die Juden (Joh. 8, 33): »Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knechte gewesen« –, befiehlt er, sie sollten die Macht ehren, und nicht die Freiheit der Gnade zum Deckmantel ihrer Bosheit machen. Ähnlich heißt es bei Petrus (1. Petr. 2, 16): »Als die Freien, und nicht als hättet ihr die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit.« Hat Paulus im vorigen Kapitel gelehrt, die kirchliche Ordnung nicht zu verwirren, so lehrt er in diesem Kapitel, daß auch die weltliche Ordnung gewahrt bleiben muß. Denn beide (Ordnungen) kommen von Gott: die eine ist für die Leitung und den Frieden des inneren Menschen und seiner Angelegenheiten da, die andere aber für die Lenkung des äußeren Menschen und seiner Angelegenheiten. Denn in diesem Leben kann der innere Mensch ohne den äußeren nicht bestehen.

»Jede Seele (soll) den obrigkeitlichen Gewalten (untertan sein).« Durch nichts überwindet und bezwingt man die Welt nämlich besser als dadurch, daß man sie verachtet. Dieses Herrschen auf geistliche Weise wird heute jedoch so stark außer acht gelassen, daß beinahe alle übereinstimmend sagen, weltliche Geschäfte, die der Kirche anvertraut seien, seien geistliche Dinge. Nur sie erachten sie heute noch für geistlich; nur hier üben sie ihre Herrschaft aus; ansonsten nehmen sie nur noch die Gerichtsbarkeit, den Bannstrahl und die Gewalt der Schlüssel wahr, allerdings mit weit geringerer Sorgfalt und Hingabe als jene ihre »geistlichen«, d.h. weltlichen Geschäfte. Daraus ergibt sich, daß der Geist der Gläubigen niemandes Untertan ist oder sein kann, er ist vielmehr mit Christus erhöht in Gott, und er hat dieses alles unter seinen Füßen, wie es Offb. 12, 1 unter dem Bilde des Weibes dargestellt wird, das den Mond, d.h. die irdischen Dinge unter seinen Füßen hat. »Die Seele«, die genauso Geist des Menschen ist, insoweit aber, als sie lebt und wirkt, von der Sinnenwelt und den weltlichen Dingen in Anspruch genommen ist, muß »aller menschlichen Ordnung untertan sein um Gottes willen« (vgl. 1. Petr. 2, 13). Durch diese Unterwerfung gehorcht sie Gott und ist im Einklang mit dem Willen Gottes; also überwindet sie jenen (weltlichen Bereich) bereits durch diese Unterwerfung.

Ich möchte ein wenig (vom Thema) abschweifen: Dem dichten Dunkel, das unsere Zeit überschattet, kann man nur fassungslos gegenüberstehen. Die Geistlichen von heute, das heißt: die weit geöffneten Schlünde für alles Weltliche sind heute über nichts mehr aufgebracht als über einen Eingriff in die Freiheiten, Rechte, Herrschaftsverhältnisse und Befugnisse der Kirche. Da exkommuniziert man ohne Verzug mit allen (verfügbaren) Bannstrahlen, sofort ist man mit dem Urteil »Ketzer« bei der Hand; mit unfaßbarer Dreistigkeit brandmarkt man sie als Feinde Gottes und der Kirche und der Apostel Petrus und Paulus; dabei sind sie auf keine Weise darum bemüht, wenigstens selbst Freunde bzw. keine ärgeren Feinde (Gottes) zu sein als jene. So sehr haben sie Gehorsam und Glauben gleichgesetzt mit der Bewahrung, Erweiterung und Verteidigung der weltlichen Güter. Du kannst hochmütig sein und schwelgen, magst habgierig, streitsüchtig, jähzornig und undankbar sein, der ganze Lasterkatalog, den Paulus 2. Tim. 3, 2ff. aufstellt, mag auf dich zutreffen, ja, selbst wenn deine Laster zum Himmel schreien, du bist trotzdem der frömmste Christ, vorausgesetzt, daß du die Rechte und Freiheiten der Kirche beschützt; mißachtest du sie dagegen, dann bist du kein treuer Sohn und Freund der Kirche.

Ferner haben weltliche Fürsten der Kirche Reichtümer zukommen lassen und ihre Vertreter mit vielen Privilegien ausgestattet. Nun betrachte man diesen erstaunlichen Widerspruch: Zur Zeit der Apostel, als die Priester der allgemeinen Gunst am meisten würdig waren, da zahlen sie dennoch ihre Abgaben und sind den weltlichen Gewalten untertan. Jetzt, da sie nichts weniger als ein priesterliches Leben führen, genießen sie gleichwohl eine Sonderstellung in (bei) den Rechten. Besitzen sie etwa, was jenen zukam? Und haben diese schon zur Genüge geleistet, was jene leisten mußten? Infolge eines freilich merkwürdigen Tausches haben die einen sich abgemüht und Verdienstliches geleistet, ohne die Früchte (ihrer Mühen) zu ernten, und die anderen genießen die Früchte und haben weder Verdienst noch Mühe. Nicht daß jene Vorrechte etwas Schlechtes sind, will ich damit sagen, sondern daß schlechten und gottlosen Menschen heute etwas zugute kommt, was nur den guten zugedacht war. Wenn daher jemand die Kleriker haßt, dann ist es der Laie. (Klagen wir doch heute zwar alle darüber, daß die Laien Feinde der Kleriker sind, ohne allerdings zu sagen warum. Warum waren sie denn damals den Aposteln und Heiligen nicht feindlich gesinnt, die sie doch in die Armut, in das Leiden und den Tod geführt haben und verantwortlich waren für all das Übel, das ihnen in diesem Leben widerfuhr?) – Sagt aber einer: Gerade euch Klerikern sind die rechtliche Sonderstellung und die Pfründen (doch nur) um eures Amtes willen verliehen worden, nach dem Grundsatz: »das Amt gibt die Pfründe« – sofort haben sie eine Antwort zur Hand und verweisen uns auf ihr Gebetsgemurmel und anderes ohne Belang. Die kanonischen Stundengebete sind priesterliche Pflicht, sie, die doch gleichgültig hingemurmelt, ja schließlich sogar durch Dispens aufgehoben und freigestellt werden; dabei hat der Apostel, als er den Priester beschrieb, vom Gebet nicht einmal gesprochen. Wovon er in Wirklichkeit spricht (vgl. 1. Tim. 3, 11ff.), davon redet niemand auch nur in der Absicht, es zu erfüllen.

Also wie die Priester, so auch der Lohn, wie die Amtsführung, so die Vergünstigung. Kleriker, die behaglich im Schatten sitzen, erhalten auch nur den Schatten vom Lohn; nur dem Anschein nach sind sie Priester, also besitzen sie auch nur dem Anschein nach Güter. Wer in den Genuß der Priesterprivilegien kommen will, der möge sich auch als guter Priester ausweisen, wieviel richtiger und ehrlicher wäre das! Sollte er aber kein guter Priester sein wollen, dann sollte er nicht streitbar beharrlich sein Recht fordern, dessen er nach dem Zeugnis seines eigenen Gewissens vor Gott nicht würdig ist. Wenn er aber darauf dringt und es beharrlich fordert und darauf besteht, was bleibt dann anderes, als daß er hier schon seinen Lohn dahin hat?

Den letzten Willen (des Erblassers) nicht zu erfüllen, beklagen die Juristen als das Allergemeinste. Und wer von den Priestern heute hat den (letzten) Willen des jeweiligen Stifters erfüllt? Oder sind sie, weil jene ihren Willen nicht urkundlich niedergelegt haben, unangreifbar und können nicht belangt werden? Doch wollen wir zugeben, daß die Kirche gehalten ist, für die Versorgung der armen Priester aufzukommen, gar nicht um der Gebetsleistung willen, sondern umsonst: was aber ist mit den habsüchtigen und vermögenden Priestern, die unersättlich sind? So wurden die Juden, als sie den Römern nicht untertan sein wollten, vernichtet, ebenso unter Nebukadnezar, und plapperten dabei immer dasselbe, was wir auch jetzt plappern: »Wir sind Diener Gottes im Himmel«, Menschen dürfen wir nicht dienen. Das heißt aber, weder Gott noch den Menschen dienen. So auch wir: da wir Gott nicht dienen, wollen wir auch den Menschen nicht dienen, obwohl die Menschen uns wegen des Dienstes vor Gott von ihrem Dienst freigestellt haben. Bislang freilich waren diese Menschen kritiklose Laien, die leicht zu bereden waren und keinen Einblick hatten, wenn sie auch Haß empfanden und mit Recht aufgebracht waren. Heute dagegen da wissen sie wenigstens allmählich Bescheid über die Geheimnisse unserer Ungerechtigkeit und betrachten unsere Amtsführung mit Kritik. Wenn wir uns ihnen nicht wiederum als wahre Kleriker erweisen, so daß sie nicht durch hohlen Schein die Sache glauben müssen, sondern sie ernsthaft spüren müssen, wird es uns am Ende wenig einbringen, wenn wir uns mit unseren Vorrechten und Privilegien schmeicheln.

Ich kann mir nicht helfen, mir scheint jedenfalls, daß die weltlichen Gewalten ihr Amt heutzutage erfolgreicher und besser wahrnehmen als die kirchlichen. Denn sofern sie sich nicht von einer hinterhältig-spitzfindigen Rechtsprechung anstecken lassen, bestrafen sie Diebstahl und Mord mit aller Schärfe. Anders die kirchlichen Gewalten: abgesehen von Eingriffen in die Freiheit, die Befugnisse und Rechte der Kirche – diese und nur diese werden von ihr verurteilt – werden jedoch Aufwand, Postenjägerei, Üppigkeit und Streitsucht von ihr sogar noch gefördert, von Strafen ist gar keine Rede. Vielleicht wäre es daher sicherer, auch die weltlichen Angelegenheiten der Kleriker der weltlichen Gewalt zu unterstellen. Unausgebildete, beschränkte und unfähige Leute werden nicht nur nicht von den geistlichen Ämtern ferngehalten, sondern sogar zu höheren Aufgaben berufen. Wissentlich, sehenden Auges und mit Bedacht führen sie die Kirche dadurch ins Verderben, daß sie solche Schädlinge nach oben gelangen lassen; nichts desto weniger brechen sie den Stab über jene, die sich gegen sie wenden, obwohl sie soviel Anlaß geben, sich gegen sie zu wenden, daß sie sie zum Haß gegen sich schon mehr zwingen als verlocken. Wenn nun jene, die sich gegen sie wenden, schon so sehr sündigen, wie sehr, frage ich, sündigen dann die, die – durch üblen Schein, ja sogar durch die Tat zum Apostel in Gegensatz stehend – soviel Anlaß dazu geben? Wenn sie aber – wohlgemerkt Christen, die ein (gegebener) Anlaß zum Bösen treibt – keine Entschuldigung haben, welche Entschuldigung werden dann jene haben, die wissentlich, willentlich und ohne Not den Anstoß für solches Tun und den Anlaß geliefert haben? Da sitzen sie nun, die getünchten Wände, die Rechtsbrecher nach dem Gesetze zu richten (vgl. Apg. 23, 3), und sind doch selbst die allergottlosesten Rechtsbrecher.

Nicht darauf sind sie bedacht, auf welche Weise sie (selbst) untadelig sein möchten, sondern nur darauf, wie sie andere zurechtweisen können: strenge Hüter fremder Gerechtigkeit und Zerstörer der eigenen. Wenn auch sie jemand anderen zu fürchten hätten, wieviel vorsichtiger, frage ich, würden sie dann in allen Dingen vorgehen! So macht ein Bischof – in Ausübung kanonischer Rechte – eine Stadt mit jener berüchtigt widerwärtigen Angelegenheit mürbe. Weshalb (kann er das)? Weil es bei den Menschen Tradition ist, die Kirchen nicht zu verletzen. Abgesehen davon, wenn es ihm um die Durchführung der göttlichen Gebote zu tun wäre, so hätte er es nicht nötig, sein Haus zu verlassen. Nicht, daß sein Tun böse wäre, aber es werden da Mücken geseiht und das Kamel wird verschluckt (vgl. Matth. 23, 24). Und der allerheiligste Gott läßt diese und ähnliche Übertretungen geschehen, um sie an ihr Amt und an die Gebote des Evangeliums zu mahnen. Diese göttliche Mahnung bei einer Handlungsweise wie dieser nicht achtend, stürzen sie sich und brennen darauf, anderen Strafe und Buße aufzuerlegen, und nennen sie Pharaosöhne und Satansknechte oder womöglich noch schlimmer, nur weil sie den Splitter im Auge der Brüder gefunden haben, den Balken im eigenen Auge dabei übersehend (vgl. Matth. 7, 3). Darum sind sie in unvergleichlich höherem Maße selbst Pharaosöhne, Satansknechte und Diener der alten Schlange. Gebe Gott der Herr, daß dereinst Satzungen dieser Art samt denen, die sie heilig halten, vergehen und ausgelöscht werden. (Satzungen) etwa wie: »Ein Mensch, der Hand an heilige Steine legt, ist tot« – Und ein Mensch, der nur dem eigenen Ehrgeiz und ohne Glauben lebt, ist nicht tot? Und doch ist er es, der jene verdammt und richtet und verurteilt!

Doch bitte ich dringend darum, daß niemand es mir nachtun möge in dem, was ich aus Schmerz und Pflichtgefühl sage, weil die Anwendung der Lehre, die man lehrt, auf das jetzige Leben für das Verständnis sehr förderlich ist, und zugleich auch deshalb, weil ich mein Lehramt mit apostolischer Autorität ausübe. Es ist meine Pflicht, das anzuprangern, was, wie ich sehe, nicht in rechter Weise geschieht, auch wenn es sich auf höherer Ebene abspielt.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 672-681
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 14, 1)

Zu Vers 1. »Des Schwachen im Glauben nehmet euch an.« Die Meinung des Apostels ist also die, daß im neuen Gesetz alles freisteht und daß denen, die an Christus glauben, nichts (weiter) auferlegt ist; es genügt vielmehr »die Liebe« (wie er es ausdrückt) »aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungefärbtem Glauben« (1. Tim. 1, 5). Das neue Gesetz ist daher nicht darauf abgestellt, bestimmte Tage als Fastentage anzusetzen und andere nicht, wie es das Gesetz Moses tat. Ebensowenig darauf, bestimmte Speisen auszunehmen und auszusondern, etwa verschiedene Fleischsorten, Eier usw., wie das wiederum das Gesetz Moses 3. Mose 11, 4ff. und 5. Mose 14, 7ff. tut. Auch nicht darauf, bestimmte Tage festzusetzen, die feierlich begangen werden und andere, die nicht feierlich begangen werden. Auch nicht darauf, diese oder jene Kirchen zu bauen oder in bestimmter Weise auszuschmücken oder in bestimmter Weise zu singen. Ebensowenig auf die (Beschaffung von) Orgeln, Altarschmuck, Kelche (n), Bilder und alles, was man heute in Gotteshäusern antrifft. Endlich ist es auch nicht nötig, daß Priester und Ordensleute sich scheren lassen oder in einem besonderen Gewand einherschreiten, wie im alten Gesetz. Denn alle diese Dinge sind nur Abbild und Zeichen für das Eigentliche und nur Kindereien. Nein, jeder Tag ist Festtag, jede Speise erlaubt, jeder Ort ist heilig, jede Zeit ist Fastenzeit, jedes Gewand ist zulässig; alles steht frei, nur muß die Bescheidenheit gewahrt bleiben und die Liebe und all das andere, wovon der Apostel spricht. Gegen diese Freiheit, die der Apostel hier verficht, haben viele Lügenapostel gepredigt, um die Völker zu dem Glauben zu bringen, als sei dergleichen heilsnotwendig. Gegen sie wehrt sich der Apostel (Paulus) mit bewundernswertem Eifer. Wie nun? Wollen wir (damit) etwa die Ketzerei der Pikarden stärken? Sie sind es doch, die sich nämlich zu dieser (eben vorgetragenen) Regel bekannt haben. Wollen wir somit etwa erklären: alle Kirchen, all ihr Schmuck, alle Gottesdienste, die in ihnen gehalten werden, alle heiligen Stätten, alle Fastentage, alle Festtage, schließlich alle Unterschiede, die bei den Priestern, Bischöfen und Mönchen sowohl in bezug auf den Rang als auch in bezug auf die Gewänder und feierlichen Handlungen bestehen, denen sie seit so vielen Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag obgelegen haben, all dies müßte beseitigt werden und ebenso die vielen Klöster und Stiftungen, Pfründen, Präbenden? So nämlich machen es die Pikarden und so fordert es die Freiheit des neuen Gesetzes. – Das sei ferne!

Obwohl die Freiheit von all diesen Dingen eine vollkommene ist, so darf sich doch jedermann aus Liebe zu Gott durch ein Gelübde zu diesem oder jenem verpflichten. Und somit ist er nicht mehr durch das neue Gesetz daran gebunden, sondern durch das Gelübde, das er sich aus Liebe zu Gott selbst auferlegt hat. Denn wer ist so töricht, zu leugnen, daß jedermann zugunsten des Gehorsams gegen einen andern auf seine eigene Freiheit verzichten kann oder daß er sich zum Diener machen und gefangen, geben kann, sei es an einen bestimmten Ort oder durch das Halten eines solchen Tages oder das Tun eines solchen Werkes? Vorausgesetzt ist dabei allerdings, daß es aus Liebe geschah und in dem Glauben, daß er glaubt, er tue es, nicht weil es heilsnotwendig ist, sondern aus freiem Willen und aus dem Gefühl der Freiheit heraus.

Alle Dinge sind also frei von Zwang, können jedoch durch ein Gelübde aus Liebe als Opfer dargebracht werden. Wo ein solches (Gelübde) geleistet wurde, da (allerdings) sind sie nunmehr notwendig, aber nicht von Natur aus, sondern auf Grund d(ies) es freiwilligen Gelübdes. Dann muß man darauf achten, daß man sie mit derselben Liebe erfüllt, mit der man sie eingegangen ist, denn ohne diese (Liebe) kann man sie nicht erfüllen. Werden sie ohne diese (Liebe), d.h. werden sie widerwillig erfüllt, so wäre es besser gewesen, erst gar kein Gelübde zu tun. Denn wer so handelt, der tut ein Gelübde und hält es nicht; er erfüllt es nämlich nur mit dem Körper, aber im Herzen bleibt er es schuldig; er frevelt, da er es nicht freiwillig leistet. Daher sind viele abtrünnig und man sieht es ihnen nicht an. Wer allerdings die Liebe und andere heilsnotwendige Gebote hat fahren lassen und nach diesen (Gelübden) trachtet, wie es heute überall bei Priestern und Mönchen, ja selbst im weltlichen Bereich der Fall ist, wo jedermann von der Verfolgung seiner Rechte und der Lehren der Menschen in Anspruch genommen ist, so ist kein Zweifel daran (möglich): wir haben den jüdischen Aberglauben wieder bei uns eingeführt und die mosaische Knechtschaft wieder aufgerichtet. Denn wir halten diese Gebote so, daß wir sie nicht nur widerwillig erfüllen, sondern (obendrein noch) darauf vertrauen, ohne sie würden wir das Heil nicht, es mit ihnen aber ohne weiteres erlangen. Wie steht es nun aber mit den allgemeinen Geboten der Kirche, mit den Fasttagen und Festtagen? Antwort: Was von alters her die Zustimmung der ganzen Kirche gefunden hat und aus Liebe zu Gott und mit guten Gründen auferlegt ist, das zu halten ist Pflicht, nicht etwa, weil es an sich etwas Notwendiges und Unabänderliches wäre, sondern weil der Gehorsam, den man Gott und der Kirche aus Liebe schuldet, etwas Notwendiges ist.

Gleichwohl sollten es sich die Kirchenfürsten angelegen sein lassen, so wenig Gebote zu erlassen, wie eben möglich. Auch sollten sie ein wachsames Auge darauf haben, wo, inwieweit und unter welchen Umständen diese (Gebote) die Liebe fördern oder ihr schaden, damit man sie (entsprechend) abwandeln kann. Auch meinen sie, wenn sie die Gotteshäuser durch großen Stimmaufwand erzittern lassen, wenn sie die Orgeln haben dröhnen lassen und eine Messe mit allem Pomp gefeiert haben, ein dermaßen gutes Werk vollbracht zu haben, daß sie es (im Vergleich dazu) für nicht der Rede wert halten, einem Armen Beistand geleistet zu haben. Denn wenn Meineide, Lügen, Verleumdungen selbst an Festtagen geschehen, so kümmert das niemanden. Wenn einer aber am Freitag Fleisch oder Eier ist, so ist er den Menschen ein Greuel. So verrückt sind sie heute fast alle. Daher wäre es heute angebracht, die vielen Fasttage und Festtage abzuschaffen. Denn das ungebildete Volk hält sie in der gläubigen Überzeugung, ohne sie gebe es kein Heil. Zudem verstoßen weit und breit alle gegen diese ihre Überzeugung. Zu solch einer törichten Auffassung gelangt das Volk, weil die Predigten des wahren Wortes vernachlässigt werden; die Apostel selbst wären wieder nötig, damit sie die wahre Frömmigkeit lernen.

Ebenso angebracht wäre es, beinahe alles, was es an Dekreten gibt, zu reinigen und zu revidieren und die Prunkentfaltung, ja auch die feierliche Ausgestaltung des Gebets und die Prachtentfaltung in größerem Umfang zu beschneiden. Denn diese Dinge wachsen von Tag zu Tag und wuchern so stark, daß unter ihnen Glaube und Liebe verkümmern, Habsucht, Hochmut und eitle Hoffart aber Nahrung finden, und was schlimmer ist: die Menschen hoffen sogar, dadurch selig zu werden und sorgen sich in keiner Weise um den inneren Menschen.

Ist es also gut, heute ein Mönch zu werden? Antwort: Wenn du nicht glaubst, das Heil auch auf andere Weise erlangen zu können als dadurch, daß du ein Mönch wirst, dann geh nicht ins Kloster. Denn so bewahrheitet sich das Sprichwort: »Die Verzweiflung macht einen zum Mönch«, in Wahrheit jedoch nicht zum Mönch, sondern zu einem Teufel. Niemals wird nämlich der ein guter Mönch sein, der aus einer solchen Verzweiflung heraus Mönch ist, sondern nur der, der es aus Liebe ist, d.h. der, der in Anbetracht seiner schweren Sünden und beseelt von dem Wunsch, seinem Gott einen großen Liebesdienst zu tun, freiwillig auf seine Freiheit verzichtet und jenes Narrengewand anlegt und sich niedrigen Diensten unterwirft. Deswegen glaube ich, daß es heute besser ist, Mönch zu werden, als es in (den letzten) zweihundert Jahren gewesen ist, aus folgendem Grunde nämlich: bisher sind die Mönche dem Kreuz aus dem Wege gegangen, und das Mönchsein hat Ruhm eingetragen. Jetzt dagegen ist es allmählich soweit, daß sie den Menschen, selbst wenn sie gut sind, um ihres törichten Narrengewandes willen mißfallen. Denn ein Mönch sein heißt eigentlich, der Welt verhaßt und ein Narr sein. Und wer sich dem aus Liebe unterwirft, der handelt aufs beste. Ich jedenfalls lasse mich nicht dadurch abschrecken, daß die Bischöfe und Priester uns verfolgen. Denn das muß so sein. Nur das eine mißfällt mir, daß wir zu diesem Mißfallen Anlaß geben. Im übrigen sind jene, die dazu keinen Anlaß haben und die Mönche (trotzdem) nicht leiden können, die besten Helfer, welche die Ordensleute auf der ganzen Welt haben. Denn da sie dadurch gewissermaßen an das Ziel ihres Gelübdes gelangen, so sollten die Ordensleute froh sein, wenn sie deshalb, weil sie Gott zuliebe dieses Gelübde abgelegt haben, verachtet und mit Schimpf überschüttet werden. Denn sie tragen dieses Narrenkleid doch, um die Geringschätzung aller auf sich zu ziehen. Heute dagegen verhalten sie sich da ganz anders, und sind nur dem äußeren Schein nach Mönche. Doch bin ich sicher, daß sie die glücklichsten Menschen wären, wenn sie sich dabei von der Liebe leiten ließen; sie wären seliger als jene, die in der Abgeschiedenheit der Wüste gelebt haben, denn sie sind dem Kreuz und der Schande jeden Tag aufs neue ausgesetzt. Leider ist in Wirklichkeit heute kein Stand anmaßender (als die Mönche).

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 682- 689
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 14, 1+23)

Heutzutage ist es dagegen nicht angebracht, dieses Getue abergläubischer Frömmigkeit oder besser gesagt diese Scheinfrömmigkeit mit Rücksicht auf die Schwäche (der anderen) zu dulden. Denn die Leute praktizieren sie aus grobem Unverstand und verschließen sich der Erkenntnis, daß sie es sind, die der Änderung bedürfen und nicht das äußere Werk. Immerhin ermahnt der Apostel die Galater andererseits, sie sollten aufgrund solcher Freiheit nicht dem Fleisch Raum geben (vgl. Gal. 5, 13), genau das aber geschieht heute in Rom, wo man sich um nichts von dem kümmert, was sonst noch gesagt ist; das hat alles der Dispens gefressen. Sie sind die vollkommensten Herren dieser Freiheit. Das andere aber, was der Apostel vorschreibt, lassen sie völlig beiseite und gebrauchen diese Freiheit nur, um dem Fleisch Raum zu geben (vgl. Gal. 5, 13), als Deckmantel ihrer Bosheit (vgl. 1. Petr. 2, 16), natürlich deswegen, weil sie nicht daran gebunden sind, und das trifft genau zu. Und auch heute: wie viele würden denn jemals in einen Orden oder sonst einen (geistlichen) Stand eintreten, wenn sie um diese Freiheit wüßten? Mehr noch, wie viele würden ihre Zeremonien, Gebete und Regeln mit Freuden abtun, sofern sie der Papst nur aufheben würde, was er ja kann! So widerwillig und ohne Liebe handeln heute fast alle in dem, wozu sie berufen sind bzw. wenn sie etwas tun, dann in solcher Furcht, daß sie selbst in solch peinigender Gewissensqual noch Selbstvertrauen haben. Es ist wohl Gottes Wille, daß wir jetzt so an verschiedene Ordnungen und Regeln und Statuten gefesselt sind, um uns zum Eintreten wenigstens zu nötigen. Wahrlich, wenn uns jene Freiheit wiederum zuteil würde, wenn also das Fasten, die Gebete, die Gehorsamsleistungen, die kirchlichen Dienste usw. einem jeden frei- und seinem Gewissen anheimgestellt würden, so daß er tun könnte, soviel er aus Liebe zu Gott tun wollte, dann glaube ich, daß binnen Jahresfrist fast alle Kirchen und Altäre verlassen dastünden. Und dabei sollte es so sein, daß wir solches alles ganz freiwillig und fröhlichen Herzens auf uns nehmen, da wir doch Gott dienen wollen, nicht aber aus Furcht vor Gewissensbissen oder Strafe, auch nicht aus Hoffnung auf Vorteil oder Ehre.

Zum Beispiel: Wenn ein Gebot ausginge, kein Priester brauche auf die Ehe zu verzichten, wenn er es nicht wolle, keiner brauche eine Tonsur und das auffallende (Mönchs-) gewand tragen, keiner solle zum Breviergebet verpflichtet sein, wie viele, frage ich euch, würde man dann finden, die das Aussehen wählen würden, das sie jetzt haben? Wär's dann nicht so, wie's im Sprichwort heißt: Wenns auf das Gewissen ankommt? Und doch müßte es haargenau so vor sich gehen, d.h. (alles) müßte der freien Entscheidung überlassen bleiben, damit ein jeder nur so viel tut, wie er meint, vor Gott verantworten zu können. Oh, wer möchte dann nicht Priester sein! wendet man dagegen ein. Antwort: wer so redet, der verrät damit deutlich, daß er nach der Freiheit nur trachtet, um dem Fleisch Raum zu geben und daß er gegen seinen Willen in (solcher) Knechtschaft lebt, vor Gott hat er damit nichts gewonnen. Ich fürchte, wir sind heute alle auf dem Wege ins Verderben. Denn wer hält sich schon an jenen Grundsatz? Aber das Volk, was würde es (dann noch) geben? Ja, es ist genauso dumm; lieber gibt es seine Gaben an unfreiwillige Sklaven als an freie Brüder. Geh also, wenn du betest, opferst, den Chor betrittst oder sonst etwas tust, mit dir zu Rate, ob du das auch tätest, wenn es in dein Belieben gestellt wäre, und du wirst bald feststellen, wer du vor Gott bist. Wenn du es nämlich nicht tätest, wenn du völlig freie Hand hättest, dann ist dein Tun schon nichts mehr wert, dann bist du ein Knecht und Mietling. Allein es gibt Leute, die darum wissen und sich daraufhin in irgendeine Ecke stellen und sagen: Nun, so will ich mir eine gute Absicht verschaffen und das Gezwungensein in Wollen verwandeln. Unterdessen lacht sich der Teufel ins Fäustchen und ruft nach hinten: Schmück dich, liebes Kätzchen, wir werden Gäste haben. Er nun steht auf, geht in den Chor, betet und spricht: Sieh, kleine Eule, wie schön bist du, hast nun Pfauenfedern? Wenn ich nicht (um mit der Fabel zu reden) wüßte, daß du ein Esel bist, würde ich dich für einen Löwen halten, so brüllst du; aber selbst in der Löwenhaut wird man dich wohl an den Ohren erkennen. Alsbald aber beginnt der Überdruß, er zählt die Blätter und Verse, ob nicht das Beten bald ein Ende habe, tröstet sich dann selbst und sagt: Duns Scotus kommt zu dem Schluß, daß die beabsichtigte Absicht genügt und die Verwirklichung nicht verlangt wird. Da sagt dann der Teufel: Gut, recht so, sei ganz unbesorgt.

Mein Gott, welch ein Spott sind wir doch für unsere Feinde. So einfach ist das nicht mit der guten Absicht, auch ist sie nicht in deine (ach, du lieber Gott!) Verfügungsgewalt gestellt, o Mensch, wie es so verderblich von Duns Scotus gelehrt bzw. gelernt wird. Die größte Gefahr bringt uns heute die freche, mit der ausdrücklichen Feststellung des Apostels im Widerspruch stehende, Behauptung, wir brächten selbständig gute Absichten zuwege, als ob wir in der Lage wären, selbständig auch nur einen Gedanken zu denken. Sie ist der Grund dafür, daß wir unbesorgt, im Vertrauen auf unsern freien Willen dahinschlafen: da wir ihn bei der Hand haben, können wir ja fromme Absichten haben, wann wir wollen. Und warum betet der Apostel dann: »Der Herr aber richte eure Herzen und Leiber«. Und (warum betet) die Kirche: »Möchten doch allezeit unsere Worte dazu dienen, daß seine Gerechtigkeit erfüllt werde, möchten doch (unsere) Gedanken und Werke darauf gerichtet sein«. Das ist Bosheit der Gottlosen, von denen es Ps. 5, 10 heißt: »Ihr Inneres ist Bosheit«, und Sprüche 11, 6: »Die Verächter werden gefangen in ihrer Bosheit«. So nicht, ihr Gottlosen, so nicht! Nein, auf deinen Knien mußt du Gott in deinem Kämmerlein mit allen Kräften bitten, er möge dir die (gute) Absicht, die du dir vorgenommen hast, auch schenken; nicht in einer von und in dir erdachten Sicherheit geh deinen Weg, sondern erflehe und erwarte sie von seiner Barmherzigkeit. Der ganze Irrtum hierbei liegt also darin, daß wir nicht bedenken, daß wir dies alles nicht unter dem Zwang der Notwendigkeit oder aus Furcht, sondern aus einem fröhlichen Herzen und ganz aus freiem Willen tun müssen, wenn es Gott gefallen soll. Denn wer es auf die Weise tut, daß er es lieber bleiben ließe, wenn es gestattet wäre, der tut nichts, obwohl er den anderen sonst in nichts nachsteht. Dennoch tut er es und glaubt, solches Tun sei genug, aus dem übrigen macht er sich kein Gewissen. Hat er solches aber nicht getan, so macht er sich ein großes Gewissen daraus.

Dieser Fehler ist in reichem Maß überall bei den Mönchen anzutreffen. Denn bei dem, was sie ohne eigenes Wollen, ja unter dem Zwang der Notwendigkeit, der Furcht oder auch der Gewohnheit tun, da sind sie sicher und nichts bedrückt sie. Haben sie aber etwas verabsäumt, dann gehen sie zur Beichte und bereuen es. Während die einen sich von ihnen nur dadurch unterscheiden, daß sie einen Deckmantel für ihre Bosheit haben und durch ihr äußeres Tun eine Hülle besitzen, unter deren Schutz sie die Ohnmacht des eigenen Willens nicht zuzugeben brauchen, geben die anderen dagegen ihren Fehler eher zu, sofern nicht auch sie vielleicht mehr das Unterlassen eines Werkes als die Lauheit ihres Wollens bereuen. Daher sollten wir bei jedem Tun weder darauf sehen, was wir getan haben oder hätten tun sollen, noch darauf, was wir nicht getan haben oder nicht hätten tun sollen, auch nicht darauf, was wir Gutes getan oder nicht getan haben, oder was wir Böses getan oder nicht getan haben, sondern nur darauf, welchen und wie großen Anteil unser Wille daran hatte und wie groß und wie freudig die Bereitschaft unseres Herzens bei allem war, was wir taten oder tun wollten. So spricht Paulus im letzten Kapitel des 1. Korintherbriefes davon, daß er Apollos viel ermahnt habe, wo er doch hätte zwingen können. Und trotzdem sagt er: »Ich habe ihn sehr viel ermahnt, daß er zu euch käme ...; aber es war durchaus sein Wille nicht« (1. Kor. 16, 12). Auch an Philemon richtet er des Sklaven (Onesimus) halber eine Mahnung, obwohl er ihm hätte befehlen können: »auf daß das Gute«, heißt es da, »dir nicht wäre abgenötigt, sondern freiwillig« (Philem. 1, 14). Heutzutage aber gehen Kirchenfürsten, die noch halbe Kinder sind, und weibische Würdenträger in der Kirche nur darauf aus, ihre Untertanen durch Strenge und Gewalt in Furcht zu halten, wo sie mit Klugheit erst einmal hätten versuchen sollen, aus ihnen freiwillige Gefolgsleute zu machen; erst wenn sie das nicht sein wollten, sollten sie zu (dem Mittel) der Beschämung und Abschreckung greifen.

Dieser Irrtum hat seine ganze Existenz aber aus der Lehre des Pelagius. Denn wenn es auch heute dem (äußeren) Bekenntnis und dem Namen nach keine Pelagianer mehr gibt, dem wahren Sachverhalt und ihrer Gesinnung nach sind es jedoch die meisten, wenn auch ohne ihr Wissen; Pelagianer sind z.B. jene, die meinen, wenn man nicht dem freien Willen die Fähigkeit zuschreibe, auch vor der Gnade das tun zu können, was an einem ist, dann sei es ja Gott, der einen zur Sünde zwinge und man sündige dann mit Notwendigkeit. Obwohl solche Gedanken ganz und gar gottlos sind, glauben sie doch fest und dreist, sie würden, vorausgesetzt, daß sie eine gute Absicht zuwege bringen, Gottes Gnade unfehlbar und reichlich zugeteilt bekommen. Daraufhin gehen sie ganz unbesorgt ihren Weg, steht es ihnen doch fest, daß die guten Werke, die sie tun, Gott gefallen. Daß die Gnade erfleht sein will, versetzt sie nicht weiter in Angst und Besorgnis. Denn daß sie gerade dadurch möglicherweise verkehrt handeln, davor haben sie keine Angst, im Gegenteil, für sie steht fest, daß sie recht handeln (vgl. Jes. 44, 20). Und weshalb? Weil sie nicht erkennen, daß Gott die Gottlosen auch bei guten Werken sündigen läßt, wobei sie allerdings nicht zur Sünde gezwungen werden, sondern tun, was sie wollen, und ihre gute Absicht ausführen. Wenn sie das einsähen, würden sie mit derselben Furcht einhergehen wie Hiob, und würden wie er sagen (Hiob 9, 28): »Ich fürchte alle meine Werke«. Und an anderer Stelle (Spr. 28, 14) heißt es: »Wohl dem, der (Gott) allewege fürchtet«. Aus diesem Grunde tun die, die wahrhaft gute Werke vollbringen, nichts, ohne immer zu denken: Wer weiß, ob die Gnade Gottes solches mit mir tun will? Wer gibt mir die Gewißheit, daß meine gute Absicht aus Gott ist? Wie kann ich wissen, ob das, was ich als das Meine bzw. als das, was an mir ist, getan habe, Gott gefällt? Sie wissen, daß der Mensch aus sich heraus nichts vermag. Jener häufig zitierte Satz: Jedem, der tut, was an ihm ist – wobei man unter »tut, was an ihm ist« jedes beliebige Tun oder Wollen versteht –, flößt Gott unfehlbar seine Gnade ein, ist also völlig abwegig und verteidigt leidenschaftlich den pelagianischen Irrtum. Denn dadurch, d.h. durch das Vertrauen auf dieses Wort, ist fast schon die ganze Kirche erschüttert. Unterdessen sündigt ein jeder unbekümmert darauf los; denn das zu tun, was an ihm ist und damit auch die Gnade, steht ja jederzeit in seinem freien Willen. Infolgedessen gehen sie ohne Furcht ihren Weg, mit dem Vorsatz nämlich, zu gegebener Zeit das zu tun, was an ihnen ist, und dadurch dann die Gnade zu erlangen. Ihnen gilt das Wort Jes. 44, 20: »So daß einer nicht zu sich sagen wird: Ist das nicht Trug, woran meine Rechte sich hält?« Und ebenso Sprüche 14, 16: »Ein Weiser scheut sich und meidet das Böse; ein Tor aber fährt trotzig hindurch«, d.h. er fürchtet nicht, daß »Trug sein könnte, woran seine Rechte sich hält«, und ängstigt sich nicht, daß sein gutes Werk etwas Schlechtes sein könnte, sondern hat Selbstvertrauen und ist dessen sicher.

Warum gibt der Apostel Petrus wohl das Gebot: »Fürchtet Gott« (1. Petr. 2, 17)? Und (warum sagt) Paulus: »Den Menschen raten wir, Gott zu fürchten« (2. Kor. 5, 11)? Und an anderer Stelle: »Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern« (Phil. 2, 12). Und warum heißt es Ps. 2, 11: »Dienet dem Herrn in Furcht und küßt seine Füße mit Zittern«? Wie kann einer Gottesfurcht haben und um die eigenen Werke fürchten, wenn er sie nicht für schlecht und verdächtig hält? Denn nur das Schlechte flößt Furcht ein. Deshalb sind die Heiligen ständig bemüht, die Gnade Gottes anzurufen. Sie verlassen sich nicht auf ihre gute Absicht oder ihr ganzes Bemühen, sondern fürchten bis zuletzt immer, etwas Böses zu tun. Durch diese Furcht gedemütigt, flehen und seufzen sie um Gnade, und durch diese Demut stimmen sie sich Gott gnädig. Die schlimmste Sorte von Predigern ist deshalb heute jene, die von Zeichen vorhandener Gnade predigt, um die Menschen sicher zu machen; dabei ist gerade dies, nämlich Furcht und Zittern, das beste Zeichen für das Vorhandensein der Gnade; Selbstsicherheit und Selbstvertrauen dagegen sind die offenkundigsten Zeichen für Gottes Zürnen. Trotzdem lechzen alle mit erstaunlichem Eifer danach. So gelangt man denn über die Furcht zur Gnade, und durch die Gnade wird der Mensch willig zu guten Werken, ohne sie aber tut er sie mit Widerwillen. Dennoch wird er durch diese Widerwilligkeit (wenn ich einmal so sagen darf) ein Mensch ohne Furcht, verhärtet und selbstsicher, da er ja nach außen hin in seinen Augen und in den Augen seiner Mitmenschen gute Werke erbringt.

Zu Vers 23: »Was aber nicht aus dem Glauben geht, ist Sünde.« Vgl. (dazu) Augustinus Gegen Julian, Buch 4 Kapitel 3. Der Apostel spricht hier ganz allgemein vom Glauben; trotzdem bezieht er sich damit auch auf jenen besonderen Glauben zu Christus, ohne den es keine Gerechtigkeit, sondern nur Sünde gibt. Es gibt aber auch noch Glauben an Gott, Glauben an den Nächsten, Glauben an sich selbst. Durch den Glauben an Gott wird jeder Gerechte dazu gebracht, daß er Gott, dem er glaubt und vertraut, als wahr anerkennt. Und wegen seines Glaubens an den Nächsten heißt er zuverlässig, wahrhaft und treu und ist damit für den Nächsten dasselbe geworden, was Gott für ihn ist. Jener Glaube an den Nächsten allerdings, der diesem Nächsten Vertrauen entgegenbringt, wird auch aktiver Glaube genannt. Und in der Natur dieses Glaubens liegt es, daß einer, der im Widerspruch zu diesem Glauben handelt oder am Nächsten zweifelt, sich am Nächsten versündigt, weil er nicht handelt, wie er ihm versprochen hat. Genauso sündigt er auch gegen Gott, wenn er anders handelt als ihm gesagt wurde und als er glaubt. Auf die gleiche Weise glaubt er auch an sich selbst und an das Gebot seines Gewissens; wenn er dagegen verstößt, so handelt er anders als er glaubt und somit gegen den Glauben. Somit »ist alles, was nicht aus dem Glauben kommt, Sünde«, denn es ist gegen den Glauben und das Gewissen; während man sich doch mit allem Eifer davor hüten soll, gegen das Gewissen zu handeln.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 689- 699
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 15, 2+13+Kapitel 16)

Dieses Kapitel ist die Fortsetzung des vorher Gesagten, denn es bringt das, was (der Apostel) im voraufgehenden Kapitel über Christus als Beispiel gelehrt hatte, zum Abschluß; deshalb wiederholt er (noch einmal) die Ermahnung, sich gegenseitig zu dulden und den anderen nicht zu verachten.

Zu Vers 2: Die rechte Liebe zu dir selbst ist Haß gegen dich selbst, gemäß dem Wort des Herrn: »Wer seine Seele liebt, wird sie verlieren, und wer seine Seele haßt, wird sie finden«. Ebenso das des Apostels, Phil. 2, 4: »Ein jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was des andern ist«. Und 1. Kor. 13, 5: »Die Liebe suchet nicht das Ihre«. Wer sich also selbst haßt und den Nächsten liebt, der liebt sich selbst in Wahrheit. Weil er sich außerhalb seiner selbst liebt, ist seine Liebe zu sich rein, wenn er sich im Nächsten liebt.

Deshalb möchte ich, ohne deswegen dem Urteil anderer zu nahe treten zu wollen und mit (aller) Ehrfurcht vor den Kirchenvätern von meinem Laienverstand aus folgendes sagen: Mir scheint, es fehlt jede solide Basis für die Erklärung, die in bezug auf das Gebot der Nächstenliebe vorgebracht worden ist, und die besagt, daß selbst in dem Gebot der Liebende der Maßstab für die Liebe zum Nächsten ist, insofern als gesagt wird: »wie dich selbst«. Sie folgern daraus: Du mußt dich also zuerst einmal selbst lieben und dementsprechend nach diesem Vorbilde der Liebe zu dir selbst auch deinen Nächsten.

Zu Vers 13: »Der Gott aber der Hoffnung erfülle euch«. Ein außergewöhnliches Prädikat: »Gott der Hoffnung.« Doch unterscheidet er durch diese Bezeichnung die falschen Götter vom wahren Gott. Denn die falschen Dämonengötter sind die Götter des Diesseitigen, denn sie können nur jene zu ihren Anhängern zählen, die sich auf diesseitige Dinge verlassen und nicht zu hoffen wissen. Denn wer sich auf den wahren Gott verläßt, der läßt alles Diesseitige fahren und lebt allein aus Hoffnung. »Gott der Hoffnung« bedeutet also dasselbe wie Gott der Hoffenden. Denn er ist nicht der Gott der Mißtrauischen und Verzweifelnden, sondern ihr Feind und Richter. Mit einem Wort, Gott ist der Gott der Hoffnung, deshalb, weil er der Spender der Hoffnung ist. Noch mehr aber ist er es deshalb, weil allein die Hoffnung es ist, die ihn verehrt. So wie er »der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs«, »der Gott Israels« genannt wird, wird er auch »der Gott der Hoffnung« genannt, denn wo Hoffnung ist, da wird er auch verehrt.

»Er erfülle euch mit aller Freude und Frieden«, d.h. mit der Zuversicht des Gewissens und mit gegenseitiger Eintracht. An die erste Stelle setzt er die Freude, und den Frieden an die zweite; denn die Freude gibt dem Menschen die (innere) Ruhe und den Frieden mit sich selbst; hat er den gewonnen, so wird er auch leicht den Frieden mit seinen Mitmenschen finden. Wer aber traurig und mit sich selbst uneins ist, der wird leicht auch andern gegenüber zur Unruhe und zum Aufbrausen neigen. Dies alles aber »im Glauben«, denn unsere Freude und unser Friede gründen sich nicht auf die Dinge dieser Welt, sondern auf das, was außerhalb dieser Dinge liegt, (nämlich) auf die Hoffnung. Wäre es anders, so würde der Gott der Hoffnung uns nicht gerade diese Dinge geben, er, der uns verborgene Güter und Freude in unserer Trübsal und Traurigkeit und Frieden inmitten äußerer Unruhe und Verfolgung gibt. Denn wenn dabei der Glaube fehlt, wird der Mensch durch die Trauer und Verfolgung zu Fall kommen, weil gerade das nicht mehr vorhanden ist, worauf er vertraut hatte. Die Verfolgung aber bewirkt, daß die Hoffnung übergroß wird, vgl. oben Kap. 5, 4: »Bewährung aber bringt Hoffnung«. Und das »durch die Kraft des heiligen Geistes«. Denn nicht aus unseren Kräften »bringt die Bewährung Hoffnung« – denn in der Verfolgung da sind wir schwach und ohnmächtig – vielmehr »hilft der Geist unserer Schwachheit auf« (Röm. 8, 26), so daß wir nicht nur das Feld behaupten, sondern auch zur Vollendung gelangen und triumphieren können.

Kapitel 16: Inhaltsangabe: Der Apostel stellt uns einige Beispiele von guten Menschen zur Nachahmung hin und leitet uns zur Standhaftigkeit an.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 700-704

Ende der Vorlesung!
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521) - Psalm 5

Zu Vers 2-3: »Herr, höre meine Worte, merke auf mein Reden! Vernimm mein Schreien, mein König und mein Gott; denn ich will zu dir beten.« Und hier bin ich gezwungen, soweit ich weiß als erster, etwas zu wagen. Denn ich habe gesagt, daß dieser Psalm hauptsächlich gegen die Werkgerechten und die gottlosen Theologen streitet, deren einziges Geschäft es ist, die Hoffart ihres Herzens zu nähren. So beschreibt sie auch die heilige Jungfrau (Luk. 1, 51): »Er zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.« Denn alle gottlosen Lehren kommen aus der Wurzel der Hoffart, so daß der heilige Augustinus die Hoffart auch oft die Mutter der Ketzerei nennt. Nämlich in Demut allein wird recht gelehrt, wie es Spr. 11, 2 heißt: »Wo Hochmut ist, da ist auch Schande; aber Weisheit ist bei den Demütigen.« Denn ein hoffärtiger Mensch muß ja schmähsüchtig sein, er muß alle tadeln und richten, wie uns im Evangelium am Pharisäer im Gegensatz zum Zöllner, dem demütigen Sünder, gezeigt wird (Luk. 18, 10ff.) und an Simon, dem Aussätzigen, gegenüber dem sündigen Weib (Mark. 14, 3ff.).

Deshalb zielt der Prophet auf die Heuchler seiner Zeit, welche in ihrer Werkgerechtigkeit wer weiß wie aufgeblasen die großen Sünden des Neides, des Hochmuts, des Geizes und ähnliches für nichts achteten, und die Gnade Gottes nicht nötig zu haben meinten. Selbstsicher wandelten sie ihres Weges ohne Gottesfurcht, wie solche Leute es immer tun, immer getan haben und immer tun werden. Er beginnt den Psalm mit einem Gebete und bittet demütig um Gottes Gnade. Und damit schon beschuldigt er sie zum erstenmal des Hochmuts, als sagte er: Diese Gottlosen sind satt, sie sind heilig, sie sind gerecht, sie sind gesund, bedürfen des Arztes nicht und suchen auch deine Gnade nicht, um durch sie gerechtfertigt zu werden. Ich Armseliger aber voll aller Sünden, der ich an mir, meinem Tun und Können verzweifle, habe nichts, was ich tun könnte, außer zu beten und deine Barmherzigkeit zu erflehen.

Daher kann man hier sehr schön den Unterschied zwischen Gesetz und Glauben oder zwischen Geist und Buchstaben beobachten, den Augustinus in seiner Schrift »Über Geist und Buchstaben« mit folgenden Worten beschreibt: Das Gesetz der Werke sagt zum Menschen: Tue, was ich gebiete; das Gesetz des Glaubens aber sagt zu Gott: Gib, was du gebietest. Und weiter: Was das Gesetz der Werke unter Drohungen befiehlt, das erlangt das Gesetz des Glaubens durch den Glauben. Daher sagt das Volk des Gesetzes (die werkgläubigen Theologen): Ich habe etwas getan, und ist stolz, als wäre es durch des Gesetzes und seine eigenen Werke gerechtfertigt; das Volk des Glaubens sagt: Ich bete, damit ich etwas tun kann. Jenes vertraut auf Werke und sucht die Barmherzigkeit Gottes nicht; dieses achtet seine eigene Gerechtigkeit für Kot (Phil. 3, 8) und seufzt allein nach Gottes Barmherzigkeit. So sagt auch der Apostel Röm. 10, 3: »Sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die Gottes ist, und trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.« So bläht der Buchstabe immer auf und tötet, der Geist macht demütig und lebendig (2. Kor. 3, 6), denn (1. Petr. 5, 5) »Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade«.

(Der Psalmist) betet aber in großer Inbrunst mit dreifachem Anruf. Trotzdem nennt er keinen anderen Grund für sein Beten, als daß er mit seinem Gebet erhört werden wolle, »denn«, sagt er (V. 4), »frühe will ich mich, zu dir wenden und aufmerken«. Warum aber willst du beten und erhört werden? »Denn du bist nicht ein Gott«, sagt er (V. 5),»dem gottloses Wesen gefällt.« Was bedeutet das? Nichts anderes, als daß Gott die liebt, die demütig um seine Barmherzigkeit bitten, die Hochmütigen aber haßt, die auf ihre Gerechtigkeit pochen.

Siehe, ich will beten, weil ich weiß, daß es dir gefällt, weil ich weiß, daß du es willst, weil ich weiß, daß du es so befohlen hast, daß der Mensch an sich verzweifeln und dich um deine gerecht machende Barmherzigkeit bitten soll. Du willst, sage ich, daß der Mensch sich als Sünder erkennt und sein ganzes Leben für nichts anderes ansieht als ein Gebet, ein Verlangen, ein Seufzen und Ächzen nach deiner Barmherzigkeit, so, wie es Luk. 18, 1 heißt, »daß man allezeit beten solle« und Ps. 105, 4: »Suchet sein Antlitz allezeit.« Da die Gottlosen, die nur auf sich bauen, das nicht oder doch nur manchmal für einen Augenblick tun, ja, eine solche Haltung sogar nur vortäuschen, während sie in Wirklichkeit an sich selbst Genüge haben, haßt du sie mit Recht. Denn sie erkennen weder das, was ihnen noch das, was dir gebührt.

[Martin Luther: Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 1015-1018
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521) - Psalm 5

Zu Vers 8: »Ich aber darf in dein Haus gehen durch deine große Barmherzigkeit und anbeten vor deinem heiligen Tempel in deiner Furcht.« Ein vorzüglicher Vers mit vorzüglichem Sinn! Die Worte bieten einen Gegensatz, wie auch ihr Inhalt. Denn es sind zwei Dinge, durch die dieses Leben beherrscht wird: Furcht und Hoffnung, gleichsam jene beiden Quellen aus Richt. 1, 15, die obere und untere. Die Furcht erwächst aus dem Anblick der Drohungen und der furchtbaren Gerichte Gottes. Daher kann vor seinem Angesicht niemand rein, niemand nicht Sünder, niemand nicht verdammenswert sein. Die Hoffnung erwächst im Blick auf die Verheißung und die allersüßeste Barmherzigkeit Gottes, wie es Ps. 25, 6 heißt: »Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.« Daher kann vor seinem Angesicht niemand nicht rein, niemand nicht gerecht, niemand nicht selig sein.

Und zwischen diesen beiden muß man sich immer bewegen, wie zwischen dem unteren und dem oberen Mühlstein, und darf nie abweichen, weder zur Rechten noch zur Linken. Denn das ist für die Gottlosen bezeichnend, die von zwei, jenen gerade entgegengesetzten Dingen, beherrscht werden, der Sicherheit und der Vermessenheit. In ihrer Sicherheit weichen sie zur Linken ab, und stellen die Gottesfurcht hintan, wie Ps. 14, 3 sagt: »Es ist keine Gottesfurcht vor ihren Augen« (vgl. auch Ps. 36, 2, Röm. 3, 18). Durch die Vermessenheit weichen sie zur Rechten ab, weil sie ohne Gottesfurcht, voraussetzen, all ihr Tun gefalle Gott. Denn weil sie gar nicht merken, daß sie Sünder sind, fürchten sie notwendigerweise auch Gott nicht und bedenken nicht sein Gericht, wie Ps. 10, 5 sagt: »Deine Gerichte sind ferne von ihm.« So stellen sie sich an Stelle der Gerichte Gottes eine gewisse (angenommene) Gleichgültigkeit Gottes vor, an Stelle seines Erbarmens ihre eigene Gerechtigkeit. Daher können sie weder fürchten noch hoffen. Dieses (dem Richtigen) gerade entgegengesetzte Verhalten meint also der Psalmist: Sie sind ohne Furcht vor dir, stellen deine furchtbaren Gerichte hintan und beten dich voll Sicherheit an, wie der Pharisäer im Lukasevangelium, Kap. 18, 11ff. Dann treten sie, ihrer eigenen Gerechtigkeit ganz gewiß, in den Tempel ein und kommen vor dein Angesicht, ohne deiner Barmherzigkeit zu bedürfen.

Ich aber, der ich wohl weiß, daß ich vor dir und deinen Gerichten nicht sicher sein kann, gebe die Hoffnung auf mich selbst auf und nähere mich deinem Tempel, um mich vor dich hinzustellen, so, daß ich allein deine Barmherzigkeit vor Augen habe, die groß, ja unermeßlich ist. Im Blick auf sie allein fasse ich Zuversicht und bin sicher, wie Ps. 26, 3 sagt: »Denn deine Güte ist mir vor Augen, und ich wandle in deiner Wahrheit.« Im Vertrauen hierauf aber will ich kommen und will dich in deinem Tempel anbeten, aber in Furcht vor dir, nicht in der vermessenen Annahme, durch mich selbst dir gefallen zu können. Ja, ich will vielmehr fürchten, daß mein Gehorsam und mein Anbeten Tadel verdient. Durch diese Furcht werde ich dir deine Ehre erhalten, und mir meine Demut behüten. Denn ich rechtfertige mich nicht selbst, sondern erwarte demütig dein furchtbares Gericht in der Hoffnung auf deine vergebende Barmherzigkeit. Man sieht also deutlich, daß dieser Psalm auf die unterschiedliche Haltung der Frommen und der Unfrommen, der Demütigen und der Hochmütigen zu Gott zielt. Denn er vergleicht sie miteinander bei jenem morgendlichen Tun, nämlich »in das Haus des Herrn zu gehen« und »vor seinem heiligen Tempel anzubeten.« Denn dort finden die allergrößten und vornehmsten Werke und Lehren statt.

Schön ist auch die Gegenüberstellung der Worte, sie sind aber vertauscht. Denn die Barmherzigkeit Gottes, auf die sich die Hoffnung richtet, nennt er, ohne das Wort »Hoffnung« zu erwähnen. Umgekehrt nennt er die »Furcht«, die sich auf das Gericht Gottes bezieht, ohne vom »Gericht« ausdrücklich zu sprechen. Dabei scheint es doch, als hätte er besser »Barmherzigkeit« und »Gericht« oder »Hoffnung« und »Furcht« einander gegenüberstellen sollen. Aber das Wesen der Hoffnung und ihr Inhalt mußte zum Ausdruck kommen, nämlich die Barmherzigkeit, ja »die große Barmherzigkeit Gottes«. Denn fromme Menschen fürchten sich schon mehr als genug und treten mit großer Ehrerbietung zu Gott und seinem heiligen Dienst. Und diese zwei Dinge, Hoffnung und Furcht, sind die ihm bei weitem angenehmsten Opfer und frommen Werke, welche jene gottlosen Selbstgerechten weder lehren noch verstehen, und deshalb auch nicht tun noch tun können. Voll ist, wie gesagt, auch heute noch die ganze Welt von ihrer Gottlosigkeit. Sie lassen die Menschen, die zum Vertrauen auf Werke und ihre eigene Gerechtigkeit verleitet sind, nicht zu der Furcht Gottes und der Hoffnung auf seine Barmherzigkeit kommen, die »immerdar lernen, und nimmer zur Erkenntnis der Wahrheit kommen« (2. Tim. 3, 7). Und wie Christus Matth. 23, 13 und Luk. 11, 52 sagt, haben sie den Schlüssel der Erkenntnis (das heißt, die Fähigkeit, die Erkenntnis Gottes zu lehren) weggenommen. Sie gehen selbst nicht hinein und wehren denen, die hinein wollen.

Diese gottlosen Vermessenen, welche die Gerichte Gottes und seine Barmherzigkeit in ihrer Sicherheit gering achten, tadelt auch Jesaja beredt, wenn er 1, 11 sagt: »Was soll mir die Menge eurer Opfer?«, »Wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht« (1, 15) usw. Weshalb? Es folgt (15f.): »Denn eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch« usw. So kann Gott nichts gefallen, was nicht in Demut getan wird. Demut kann es aber nicht geben, wenn man nicht bei jedem Tun, mag es so gut sein wie es will, Gottes Gericht fürchtet und allein auf seine umsonst gegebene Barmherzigkeit hofft. Dieser (rechten) Frömmigkeit widersetzte sich am allermeisten das Volk Israel aus einer Art natürlicher und angeborener Vermessenheit heraus. Denn es war wegen seines Gesetzes und seiner Gesetzeswerke außerordentlich überheblich.

[Martin Luther: Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 1018-1022
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521) - Psalm 5

Zu Vers 9: »Herr, leite mich, in deiner Gerechtigkeit um meiner Feinde willen; ebne vor deinem Angesicht meinen Weg.« Wir müssen uns daran gewöhnen, den Ausdruck »die Gerechtigkeit Gottes«, dem wir nachher häufiger begegnen werden, schriftgemäß zu verstehen, nicht als die Gerechtigkeit nämlich, nach der Gott selbst gerecht ist, nach der er auch die Gottlosen verurteilt, wie ganz allgemein angenommen wird, sondern, wie der hl. Augustinus in seiner Schrift »Über Geist und Buchstaben« sagt, als die Gerechtigkeit, mit der er den Menschen bekleidet und ihn damit gerecht macht, d.h. eben als die Barmherzigkeit oder die gerechtmachende Gnade, auf Grund derer wir bei Gott als gerecht angesehen werden. Von ihr sagt der Apostel Röm. 1, 17: »Im Evangelium wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wie denn geschrieben steht (Hab. 2, 4): Der Gerechte wird aus Glauben leben«, und Röm. 3, 21: »Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.« Man nennt die Gerechtigkeit Gottes aber auch unsere Gerechtigkeit, weil seine Gnade sie uns geschenkt hat, so wie man »Werk Gottes« das nennt, was er in uns wirkt, und »Wort Gottes«, was er in uns redet, »Kraft Gottes«, was er in uns wirkt, und vieles andere mehr. So heißt es Ps, 31, 2: »Errette mich durch deine Gerechtigkeit«, und Röm. 10, 3: »Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die Gottes ist, und trachten ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.«

Daher ist (in der Vulgata) Ps. 24, 5 nicht unpassend übersetzt: »Der wird den Segen vom Herrn empfangen und Barmherzigkeit von dem Gott seines Heils«, obgleich der hebräische Text statt »Barmherzigkeit« »Gerechtigkeit« hat. Denn »Segen Gottes« und »Gerechtigkeit Gottes« sind dasselbe, nämlich eben die Barmherzigkeit und Gnade Gottes, die uns in Christus zuteil geworden ist. Und diese Art, von der Gerechtigkeit Gottes zu reden, hat vielen große Not bereitet, weil sie anders ist als der gewöhnliche Sprachgebrauch. Andererseits darf nicht völlig von der Hand gewiesen werden, daß die Gerechtigkeit Gottes auch nach dem schon erwähnten Sprachgebrauch die Gerechtigkeit ist, nach der Gott gerecht ist, so daß durch ein und dieselbe Gerechtigkeit Gott und wir gerecht sind, so wie durch ein und dasselbe Wort Gott wirkt, und wir sind, was er ist, so daß wir in ihm sind, und sein Wesen unser Wesen ist. Aber das ist zu schwierig, als daß hier der Ort dafür wäre, das darzulegen, und in einem anderen Sinne gemeint, als jene es verstehen. Mag es auch nützlich und notwendig sein; es muß trotzdem ein andermal davon gesprochen werden.

Sehr gut in den Zusammenhang paßt auch die Wendung des hebräischen Textes »(ebne) vor mir deinen Weg« (V. 9). In der Vulgata lesen wir dafür »vor deinem Angesicht meinen Weg«, also geradezu das Gegenteil. Der hebräische Text stimmt sinngemäß fast ganz mit der ersten Vershälfte überein, denn »deine Gerechtigkeit« und »dein Weg« bedeuten ja fast dasselbe. Denn der Weg Gottes ist die Gerechtigkeit Gottes, in der man leben und wandeln muß, nicht auf unserem Wege oder in unserer (eigenen) Gerechtigkeit. Dieser Weg Gottes ist auch der Weg der Gerechten, von dem der erste Psalm (V. 6) sagt: »Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten«, den auch Johannes der Täufer meinte, wenn er sagte (Mark. 1, 3): »Bereitet den Weg des Herrn.« Das ist aber der Weg Gottes, denn er »wandelt unter uns«, wie er 3. Mose 26, 12 sagt, das heißt, wirkt in uns, lebt in uns, redet durch uns. »Denn ihr seid es nicht (sagt Jesus, Matth. 10, 20) die da reden.« Aber trotzdem ist es nicht falsch, wenn es in unserer (lateinischen) Übersetzung heißt: »meinen Weg.« Denn wenn Gott in uns wirkt, wird auch von uns zu recht gesagt, wir wirkten, obwohl wir bei diesem Wirken mehr fortgerissen, geführt werden und eben zulassen, daß Gott in uns wirkt. Darauf weist auch dieser Vers hin, wenn es heißt: »Leite mich«, »(ebne) deinen Weg«. Damit zeigt der Psalmist an, daß er nicht aus sich handelt, sondern von Gott geführt und geleitet wird.

Auch das »vor mir« und »vor deinem Angesicht« widerspricht einander nicht. Denn beides ist gebräuchliche Redeweise der hl. Schrift, weil wir alles vor dem Angesicht Gottes gleichsam in seiner Gegenwart und im Lichte seines Antlitzes tun müssen. Denn unser Handeln steht nicht in unserem Gutdünken noch in unserer Gerechtigkeit, sondern ist das Werk der göttlichen Gnade. Und so zeigt unsere lateinische Übersetzung mit dieser Wendung, daß »mein Weg« Gottes Weg heißt, was der Hebräer mit »deinem Weg« ausdrückt. Umgekehrt: mit »vor mir« sagt der Hebräer, daß der Weg Gottes unser Weg ist, was der Lateiner mit »meinem Weg« ausdrückt, d.h. daß wir auf den Weg Gottes sehen und unseren Weg vor seinem Angesicht gehen sollen. Ein und dasselbe sind also der Weg Gottes vor uns und unser Weg vor ihm; beides muß ganz notwendig zugleich geschehen.

Diese Art zu reden klagt aber die Gottlosen an und geißelt ihr gerade umgekehrtes Handeln, denn sie sehen ja auf ihren eigenen Weg und kehren Gottes Weg den Rücken, sie gehen also so einher, wie es 3. Mose 26, 27f. heißt: »Werdet ihr gegen mich gehen, so will auch ich im Grimm gegen euch einschreiten.« Das alles geschieht (wie wir oft gesagt haben), weil sie vor dem Weg des Kreuzes und dem Leben des Glaubens zurückschrecken, das sie zwingt, abzulegen, was sie sind und worin sie weise sind. Dabei dienen sie Gott vergeblich mit Menschengeboten und -lehren, wie Jes. 29, 13 sagt und Matth. 15, 9 es wiederholt. Da nun der Prophet fürchtet, er könnte zu dieser Verderbtheit verführt werden, betet er für das, was er ererbt hat: Gott möge doch seinen Weg vor ihm ebnen, das heißt, er möge ihn allezeit mit rechtschaffenem Herzen beständig seinen Weg gehen und ihn immer (danach) leben lassen, was durch den reinen und vollen Glauben im Geiste geschieht.

Daher stellt er den Gottlosen und den Übeltätern, die vom Gehorsam gegen Gott abfallen nud Gott mit ihren eigenen Werken dienen wollen, die Gerechtigkeit Gottes und den Weg Gottes entgegen, das heißt, den Gehorsam gegen Gott. Auf diesem Weg wünscht er wie ein Schaf geführt zu werden vor seinen Feinden, Verfolgern und vor denen, die tückisch und gefährlich dem Erbe Gottes schaden, und zwar hauptsächlich mit ihrem allervornehmsten Werke, das sie »Gottesdienst« nennen. Denn es ist deutlich, daß es nirgends mehr gottlose Mißbräuche, Aberglauben, Ketzereien, Heuchelei, Lüge und Eitelkeit gibt. Sie alle haben die Bosheit an sich, daß sie sich mit dem äußeren Anschein, als seien sie ein vortreffliches Werk, verkleiden und verkaufen. Daher kann man diese Warnung gar nicht genug einschärfen.

[Martin Luther: Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 1022-1027
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521) - Psalm 5

Zu Vers 12: »Laß sich freuen alle, die auf dich trauen; ewiglich laß sie rühmen, denn du beschirmest sie. Fröhlich laß sein in dir, die deinen Namen lieben.« Bezeichnungen für vier Gemütsbewegungen sehen wir hier nahe beieinander: sich freuen, trauen auf, rühmen, fröhlich sein. Aber auch das »du beschirmest sie« weist beinahe auf die Stimmung der Hoffnung. Wie unterscheiden sie sich also? Das ist schwierig herauszufinden, denn diese Affekte sind selten und reichen hoch hinauf, und nur wer sie erfahren hat, kennt sie und kann sie wiedergeben. Dies eine ist nach der Ausrichtung des ganzen Psalms gewiß, daß er nicht von der Freude und Sicherheit des Herzens redet, die daraus erwachsen, daß äußere Widrigkeiten aus dem Weg geräumt sind (wo ja das eigentliche Feld der Geduld ist), sondern von der Freude und Sicherheit, die aus der Vergebung der Sünden, der Reinheit und Zuversicht des Gewissens (wo die Hoffnung herrscht) entstehen. Denn er beabsichtigte zu lehren, wie man gerecht und fromm werden könnte, nämlich durch Barmherzigkeit und Gottesfurcht, nicht aber durch ungerechte Werke. Nun suchen zwar alle Menschen nach Freude und Glück, doch nicht alle suchen es richtig und daher finden sie es auch nicht. Deshalb wollen wir diesen Vers in zwei Hälften teilen, so daß sie beide gewissermaßen das Gleiche sagen, nämlich daß das »Laß sich freuen alle, die auf dich trauen; ewiglich laß sie rühmen, denn du beschirmest sie« dasselbe ist wie das »Fröhlich laß sein in dir, die deinen Namen lieben!«

Willst du also wissen, wo die wahre Fröhlichkeit des Herzens ist? Es heißt: »Laß sich freuen, die auf dich trauen.« Diese Bestimmung steht sicher, und dieser Satz gilt fest: nicht an Werken, nicht an irgendwelchen Dingen freut sich das menschliche Herz, sondern allein an der Hoffnung. Wer außer in der Hoffnung seine Freude noch an anderen Orten sucht, der wird viel schwitzen und sich vergeblich mühen. Es wird ihm sogar noch schlechter gehen, wie der Frau im Evangelium (Mark. 5, 25ff.), die an Blutfluß litt und all ihr Gut auf die Ärzte verwendet hatte, so wie denen (nämlich), die, von ihrem Gewissen getrieben, hierhin und dorthin laufen, bald diese, bald jene um Rat fragen, heute dies und morgen das tun, und alles versuchen, um ihrem Herzen Ruhe zu schaffen. Nur die Hoffnung, die allein Ruhe gibt und die sie doch auch in sich selbst haben könnten, suchen sie nicht. Zu dieser Pein verhelfen ihnen die lügenhaften Lehrer, wenn sie in ihrer Unwissenheit Werke, (Selbst)rechtfertigung, Ablaß, Wallfahrten lehren und falschen Trost spenden, und mit ähnlichen dunklen Machenschaften die in Finsternis Wandelnden verführen, wie es ja heute zahllos geschieht. Da aber diese Hoffnung im Psalter so oft gelehrt wird, so wollen wir an dieser Stelle etwas weiter ausholen, um ein für allemal die Kraft und die Art der Hoffnung zu erkennen. Denn das zu wissen tut furchtsamen und kleinmütigen Gewissen sehr not.

Also: so wie Ungeduld, Traurigkeit und Verzagtheit eigentlich und vornehmlich nicht aus der Vielzahl oder Größe der Trübsale, Widerwärtigkeiten oder irgendwelcher Übel erwachsen, sondern vielmehr aus der (unseligen) Neigung, sich vor dergleichen zu entsetzen und das Gegenteil davon: Glück, Annehmlichkeiten und Ruhm zu begehren, so erwachsen auch Hoffnungslosigkeit, geistliche Traurigkeit und Verzagtheit des verstörten Gewissens nicht eigentlich und vornehmlich aus der Vielzahl und Menge der Sünden, sondern vielmehr aus der Neigung, sich vor den Sünden zu entsetzen und nach guten Werken in großer Zahl, nach Gerechtigkeit und Seligkeit töricht zu trachten.

Der erste Teil ist klar, denn hier sagt der Psalmist: »Laß sich freuen alle, die auf dich trauen.« Wenn alle, die hoffen, sich in dem Herrn freuen sollen, dann läßt er keine Ausnahme zu, auch bei denen nicht, die in Anfechtung sind. Ja gerade sie sind eigentlich gemeint, wenn es heißt, daß sie sich im Herrn freuen sollen, während sie bei sich selbst und unter den Menschen traurig sind. Sie sind die Gläubigen Christi, die »gleichwie sie des Leidens Christi viel haben, so auch reichlich durch ihn getröstet sind«, wie der Apostel (2. Kor. 1, 5) sagt. Denn sie wissen, wo und in wem sie sich freuen und sich rühmen sollen, nämlich in dem Herrn (Phil. 4, 4). Darum macht sie dieses ihr Wissen nicht traurig, nicht verzagt und nicht ungeduldig, weil sie nicht nach Wohlergehen, Glück und Ruhm trachten. Deshalb gehen sie durch Gutes wie Böses mitten hindurch, wie geschrieben steht (Spr. 12, 21): »Es wird dem Gerechten kein Leid geschehen, was ihm auch geschehe«, und Spr. 28, 1: »Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt; der Gerechte aber ist furchtlos wie ein junger Löwe.« Die aber töricht sind und nicht wissen und auch nicht wissen wollen, daß man sich in Gott freuen und rühmen soll, was tun sie anderes, als daß sie sich betrüben, sich Sorgen schaffen und ungeduldig werden, nicht weil Unheil und Schrecken kommen, sondern weil sie, wenn sie kommen, in ihrem törichten Herzen nicht auf Gott schauen, sondern auf ihr dahinschwindendes Glück und Wohlergehen. So fliehen sie, entfliehen aber nicht, weil sie nicht dahin fliehen, wohin man allein fliehen kann. Deshalb ist entscheidende Ursache einer jeden Traurigkeit das törichte Verlangen nach Freude und Ruhm. Wenn das Herz sich daran nicht hinge, so würden die Widrigkeiten nichts ausrichten, so daß das Sprichwort völlig wahr ist: Die Welt wird von Meinungen regiert, und für jeden sind die Dinge so, wie er meint, daß sie sind: verachtet man sie, so schaden sie weder noch nützen sie; schätzt man sie aber, so nützen sie bald, bald schaden sie aber auch.

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Jörg
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Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521) - Psalm 5

Der zweite Teil ist ähnlich sicher, weil viele große Sünder selig geworden sind; und auch die, welche sich, wie er hier sagt, in dem Herrn freuen, werden mit Hiob (9, 3) jedenfalls sagen müssen: »Wir können ihm auf tausend nicht eins antworten.« Und somit haben sie viele und große Sünden. An ihnen zeigt Gott ganz besonders, daß die Ursache der Verzweiflung nicht die Menge der Sünden ist, sondern der Unverstand des Herzens, welches in der Gewissensnot nach guten Werken sucht, um sie den Sünden entgegenhalten zu können, die es bedrücken. Denn es meint in seinem unseligen Wahn, es hätte durch Werke die Sünden überwinden können, und könne es noch. Wo es sie nun nicht findet, und nicht weiß, daß es zu Gottes Barmherzigkeit aufschauen muß, muß es alle Hoffnung fahren lassen, nicht anders als der ängstlich werden muß, der es unterläßt, auf Gott zu schauen und den bösen (Werken) gute entgegenhalten will, sie aber nicht hat. Denn kein Werk kann auch nur gegen eine einzige Sünde genügen, selbst nicht wider eine läßliche Sünde. Denn so spricht und bedenkt bei sich das unselige Gewissen eines Gottlosen, der im Sterben liegt und dem Gerichte Gottes zueilt: O ich elender Mensch, wenn ich jetzt doch viel Gutes getan hätte, wenn ich nichts Böses getan hätte, wenn ich rein geblieben wäre! Was können denn diese überaus törichten und gottlosen Worte anderes anzeigen, als daß jener Ausspruch des Augustinus völlig wahr ist: Der Gottlose wird auch mit dieser Strafe geschlagen: in der Todesstunde vergißt er sich selbst, er, der bei Lebzeiten Gott vergessen hat? Er sucht Gutes und haßt das Böse und merkt nicht, daß er niemals so schlecht gehandelt und weniger nach dem Guten gestrebt hat als gerade in dieser Stunde, in der er das sagt und aufs unweiseste denkt. Denn er beweist, daß er nicht auf Gott hofft, sondern auf seine Werke setzt. Denn wenn er hoffen wollte, so hätte er Gott noch gegenwärtig, auf den er hoffen könnte, er, der auf seine vergangenen Werks blickt und auf sie vertraut, die doch dann (d.h. im Sterben) ihrem Verdienst nach nicht derart sind, daß er auf sie vertrauen könnte. Wenn er um der Werke willen auf Gott hofft bzw. wenn er träumt, daß er dann zuversichtlicher und fröhlicher auf Gott hoffen könnte, wenn er eine Menge von Werken vor sich sähe, so erweist sich, daß er mehr auf Werke als auf Gott hofft; was gibt es aber Schrecklicheres und Gottloseres als das?

Die Gerechten aber verzweifeln nicht, wenn sie auch sündigen. Denn wie sie zwischen den leiblichen Übeln (das heißt, den Leiden dieses Lebens) und seinem Guten mitten hindurchgehen, so auch zwischen den geistlichen Übeln (das heißt den Sünden) und dem geistlich Guten. Sie sind nicht selbstsicher, weil sie rechtschaffen leben, noch verzweifeln sie, weil sie sündigen. Denn sie wissen, daß man sich über keines von beiden weder freuen noch betrüben darf, weil es, wie sie wissen, Gottes Gaben sind oder eine Hinwegnahme der Gaben Gottes; sie hängen aber fest an dem Geber selbst. Das ist es, was die Sprüche 24, 16 sagen: »Ein Gerechter fällt siebenmal und steht wieder auf, aber die Gottlosen versinken im Unglück«: das heißt, sie stehen nicht wieder auf, sondern stürzen in das Übel der Verzweiflung. Denn wenn du hoffst, oder hoffen könntest, falls du Gutes getan hättest, dann mußt du viel mehr dann hoffen, wenn du Böses getan hast, damit jener Vers aus Ps. 49, 19 nicht zu dir gesagt werde: »Er wird dich preisen, wenn du ihm wohltust«, und dieses Wort »zu der Zeit der Anfechtung fallen sie ab« (Luk. 8, 13), und du nicht Gottlosigkeit auf Gottlosigkeit und die Lästerung des Ungehorsams häufst.

So wie also Geduld, die sich nur im Glück bewährt, keine ist, so ist auch die Hoffnung, die sich auf Verdienste gründet, keine Hoffnung; und so leicht oder möglich es ist, im Glück Geduld zu haben, so leicht ist es, Hoffnung zu haben, wenn man sie auf Verdienste gründen kann. Denn beide Male besteht Gefahr: dort, daß der Mensch in Sicherheit hochmütig wird, hier, daß er, in Gerechtigkeit aufgeblasen, die Furcht vor Gott (das heißt, die Übung der Hoffnung) hintanstellt. Wenn es jedenfalls das Wesen der Geduld ist, daß es sie nur in Widrigkeiten gibt, so ist es auch das der Hoffnung, daß sie sich nur in Sünden bewährt. Sollen wir also Sünden tun, damit wir zu hoffen vermögen? Keineswegs! Es gibt schon übergenug davon, die wir getan haben und in denen wir geboren sind, so daß die Hoffnung schon reichlich genug gegen sie zu kämpfen hat, da ja die guten Werke vor Gott nichts als Sünden sind.

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Jörg
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Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521) - Psalm 5

Ist Gott also grausam, daß er alles, was von uns kommt, verdammt? Nein, sondern die unaussprechliche Barmherzigkeit Gottes hat, um sich uns mitteilen zu können und uns das Vertrauen auf uns selbst zu nehmen – allein dies widerstrebt seiner Barmherzigkeit – das Gesetz gegeben, durch das er alle unter die Sünde beschlossen hat, auf daß er sich aller erbarme (Röm. 11, 32). Denn wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Sünde, wo keine Sünde ist, da ist auch keine Barmherzigkeit, wo keine Barmherzigkeit ist, da ist auch keine Seligkeit, wo keine Seligkeit ist, da ist auch kein Gott. Und so ist die Kraft der Sünde das Gesetz (1. Kor. 15, 56), die Kraft des Gesetzes aber die Barmherzigkeit, die Kraft der Barmherzigkeit die Hoffnung, die Kraft der Hoffnung die Seligkeit, die Kraft aber der Seligkeit Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn, denn er ist der Gott, »der da hilft« und der Herr, »der vom Tode errettet« (Ps. 68, 21). Weil das Gesetz uns die Sünde schafft, schafft (das heißt, erfüllt) die Barmherzigkeit das Gesetz, die Hoffnung die Barmherzigkeit, die Seligkeit die Hoffnung, Gott die Seligkeit und alles in Christus. So steigt die Seligkeit hernieder von Christus, dem Gotte, bis zur Sünde, und wir steigen von der Sünde auf bis zur Seligkeit in Christus, dem Menschen.

Daraus folgt dies: So wie Gott im irdischen Bereich Güter gibt, damit wir dadurch lernen, ihn mehr zu ehren, auf ihn zu hoffen, ihn zu lieben, unser böses Herz ihn aber gerade dann um so schwerer und weniger ehren, auf ihn hoffen und ihn lieben läßt, sondern vielmehr leichter und mehr im Unglück, so schenkt Gott auch im geistlichen Bereich Güter der Gnade und Verdienste, damit sie uns deutlicher lehren, auf Gott zu vertrauen. Und siehe, unser böses Herz, das darauf baut, läßt uns gerade ihretwegen am allerwenigsten hoffen, sondern dazu kommt es eher in Sünden. Daher ist es der göttlichen Güte notwendig erschienen, das Kreuz aufzurichten, und durch seine Verkündigung die Gläubigen, Törichte und Sünder selig zu machen, die Weisen und Heiligen aber zu verwerfen, wie es 1. Kor. 1, 23f. heißt: »Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Griechen (d.h. den Weisen) eine Torheit, den Juden aber (d.h. den Heiligen) ein Ärgernis; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen (das heißt, den Sündern und Toren) predigen wir Christus als göttliche Kraft und göttliche Weisheit«, und so weiter, wie es dort sehr schön gesagt ist.

So wie es deshalb überaus gefährlich ist, einen Menschen immer im Wohlleben zu belassen, weil er dann entweder nie oder doch nur sehr selten Gott zu lieben lernt, so ist es noch gefährlicher, einen Menschen in vielen Verdiensten und Gnadenerweisen Gottes bis zum Tode zu lassen, weil er kaum jemals lernen wird, auf Gott zu hoffen. Deshalb ist es Gottes Erbarmen, das sie nicht nur in Gewissensnot fallen läßt, sondern auch, wenn sie noch verstockter sind, irgendwann in eine ganz handfeste Sünde, nämlich Hurerei oder ähnliche Schandtaten. Und dann muß Gott sie mit so großer Fürsorge erhalten, daß er sie wider seine Barmherzigkeit zur Barmherzigkeit führt und sie durch Sünde von der Sünde befreit.

Viele Leute plagen sich vielfältig ab und schwatzen vielerlei über die mystische, negative, eigentliche und sinnbildliche Theologie und wissen doch weder, was sie sagen, noch wovon sie etwas behaupten. Denn sie wissen nicht einmal, was eine Bejahung oder eine Verneinung ist, noch wie sie zustande kommt; auch können ihre Auslegungen nicht ohne Gefahr gelesen werden, denn wie sie selbst waren, so schrieben sie auch; wie sie dachten, so redeten sie. Sie dachten aber das Gegenteil der negativen Theologie, das heißt, sie liebten weder den Tod noch die Hölle, daher mußten sie zwangsläufig sowohl sich selbst als auch ihre Leser täuschen. Dies möchte zur Warnung gesagt sein, weil überall, in Italien wie auch in Deutschland, die Schrift des Dionysius über die mystische Theologie verbreitet wird, das heißt, bloßer Anreiz zu einer Wissenschaft, die sich selbst aufblasen und zeigen will. Niemand soll glauben, er sei ein mystischer Theologe, wenn er dies gelesen, verstanden und gelehrt hat, oder vielmehr bei sich meinte, er verstünde und lehre es. Durch Leben, ja, durch Sterben und Verdammnis wird man ein Theologe, nicht durch Verstehen, Lesen oder Forschen.

Dagegen wird nun das Wort des Apostels gestellt Röm. 5, 3-5: »Trübsal bringt Geduld, Geduld aber bringt Bewährung, Bewährung aber bringt Hoffnung, Hoffnung aber läßt nicht zuschanden werden.« Hier scheint doch der Apostel die Hoffnung unter die Verdienste zu setzen, so daß von hier aus Petrus Lombardus mit der ganzen Schar der Theologen folgende Definition der Hoffnung annimmt: Die Hoffnung ist die sichere Erwartung eines Lohns, sie erwächst aus verdienstlichen Werken. Und sie haben allerdings keine andere Hoffnung, als die, die auf verdienstlichen Werken beruht. Was konnte aus dieser Lehre anderes folgen, als der Untergang der gesamten Theologie, die Unkenntnis Christi und seines Kreuzes, und (wie bei Jer. 2, 32 geklagt wird) das Vergessen Gottes seit endlos langer Zeit? Was werden sie uns aber darauf sagen, daß sie selbst bekennen, Glaube, Hoffnung und Liebe seien eingegossene Tugenden und Grundlage aller guten Werke? Denn auch sie selbst sagen nicht, daß die Verdienste vor der Liebe erworben werden könnten. Ferner behaupten sie beständig, daß zugleich mit der Liebe die Hoffnung und der Glaube eingegossen würden. Also ist es auch nach ihrer Meinung sicher, daß nicht die Hoffnung aus den Verdiensten, sondern die Verdienste aus der Hoffnung kommen. Und dennoch kehren sie durch ihre Definition der Hoffnung diese Meinung um und widersprechen sich selbst, indem sie die Hoffnung aus den Verdiensten herleiten. Was wollen sie ferner dem Apostel antworten, wenn er die Geduld als ein Werk der Trübsal hinstellt (Röm. 5, 3)? Aber wer könnte ohne Hoffnung irgendeine Trübsal ertragen? Denn wer verzweifelt, gelangt nicht zur Geduld, noch zur Erfahrung, noch zum Rühmen in der Trübsal, sondern er wird im Gegenteil durch die Trübsal immer schlechter. So lehrt Christus Matth. 7, 26f. von dem Hause, das auf Sand gebaut ist, das einen großen Fall tut, wenn Winde und Wasser daran stoßen. Das will er auch mit dem Samen anzeigen, der auf das Felsige fiel (Matth. 13, 5f.), der aufging, aber verwelkte, als die Sonne hochstieg. So ist es mit denen, die in der Zeit der Anfechtung abfallen; deshalb muß die Hoffnung schon da sein, wenn die Trübsal einsetzt.

[Martin Luther: Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 1035-1040
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Zweite Vorlesung über die Psalmen (1518/1521) - Psalm 5

Aber betrachte auch jenes folgende: »Die Hoffnung kommt allein aus Verdiensten«. So kann also kein Sünder hoffen, sondern allein der Gerechte? Wer kann sich dann zur Buße bekehren? Wo wird dann ein Gerechter sein, wenn kein Sünder Buße tut? Aber wie soll er Buße tun, wenn er nicht auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen kann? Oder soll man etwa zu einem sterbenden Sünder sagen: Das sei ferne von dir! Hoffe ja nicht, du hast keine Verdienste, aus denen dir Hoffnung kommen könnte? Das wäre dann nicht mehr theologisch reden, sondern teuflisch reden. Denn des Teufels gewaltige Stimme ist es dann, die sagt: Hoffe nicht, denn du hast keine Verdienste; wo doch im Tode die vornehmste, höchste und allerbeste Werkstatt für die Hoffnung liegt, und eben der Tod der wirkungsvollste Erzeuger der Hoffnung ist. Ganz falsch ist also diese Definition der Hoffnung, und ich wollte lieber bekennen, daß ich das Wort des Apostels nicht verstehe, als daß ich zuließe, daß man diese Definition der Hoffnung von ihm ableitet.

Ich will daher meine törichte Meinung vortragen. Erstens ist gewiß, daß die Gnade, das heißt, Glaube, Hoffnung und Liebe nicht eingegossen werden, wenn nicht die Sünde zugleich ausgegossen wird, das heißt, der Sünder wird nicht gerechtfertigt, wenn er nicht verdammt wird, er wird nicht lebendig gemacht, wenn er nicht getötet wird, er steigt nicht in den Himmel auf, wenn er nicht zur Hölle hinabsteigt, wie es überall in der Schrift steht. Wenn die Gnade in den Menschen eingegossen wird, muß notwendig Bitterkeit, Trübsal, Leiden dabei sein, unter denen der alte Mensch stöhnt, der sehr daran trägt, daß er untergehen soll. Wenn er in dieser Not geduldig ist und auf die Hand dessen wartet, der an ihm wirkt und ihm die Gnade eingießt, so ist er angenommen und wird Hoffnung, Glauben und Liebe erhalten, welche ihm eben dabei eingegossen werden. Das geschieht, so oft uns etwas widerfährt, das uns und unserem Willen entgegengesetzt ist, und es geschieht um so mehr, je mehr es uns entgegengesetzt ist. So, behaupte ich, wird nicht nur die erste Gnade eingegossen, sondern auch jeder andere ihr folgende Zuwachs. Denn der alte Mensch wird immer mehr und mehr gekreuzigt und die Sünde wird ausgetrieben, weil immer mehr und mehr Gnade in ihn eingeht, bis zum Tode hin, wie es Offb. 22, 11 heißt, und Job. 1, 16, und wie Paulus Röm. 1, 17 sagt: »Wir werden gerecht aus Glauben in Glauben«, »wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur anderen« (2. Kor. 3, 18), Ps. 84, 8: »Wir gehen von einer Kraft zur anderen.« So wird richtig von uns gesagt werden, daß wir von einer Hoffnung zu der anderen gelangen.

Es ist also klar, daß der Apostel nicht so sehr von der Hoffnung selbst redet, die man schon erlangt hat, sondern von der Gewißheit des Herzens in der Hoffnung, kraft derer der Mensch nach der Not und nachdem ihm die Hoffnung eingegossen ist – wenn es ihm (noch) scheint, er sei ohne Hoffnung – merkt, daß er hofft und glaubt und liebt. Denn dann schmeckt man, wie freundlich der Herr sei, und der Mensch beginnt nach mehr Leiden zu hungern und zu dürsten, damit die Trübsal noch größere Hoffnung bewirke. Daher müssen Glaube, Hoffnung und Liebe schon im Anfange eines jeglichen guten Werkes und Leidens da sein, und doch wird erst nach dem Werk und dem Leiden das offenbar (Glaube, Hoffnung und Liebe), was verborgen war, auf daß die, die bewährt sind, offenbar werden. So wurden Hiob und Abraham versucht, damit auch sie sich erkennten und ihres Glaubens, ihrer Hoffnung und ihrer Liebe zu Gott gewiß würden, wie zu Abraham gesagt wurde (1. Mos. 22, 12): »Nun weiß ich, daß du Gott fürchtest«, das heißt, ich habe es dich erkennen lassen, wie Augustinus es erklärt. Denn man muß nicht allein glauben, hoffen und lieben, sondern es auch wissen, und gewiß sein, daß man glaubt, hofft und liebt. Im Ungewitter vollzieht sich jenes ganz im Verborgenen, dieses aber kommt nach dem Sturm. So wirkt das Kreuz bei denen, die es auf sich nehmen und bewährt erfunden werden, bis zum Ende eine feste Hoffnung (das heißt, es läßt sie aufblühen und wachsen und hervortreten) und macht sie gewiß und uns bewußt. Bei denen aber, die es nicht auf sich nehmen, sondern verwerflich erfunden werden, wirkt es sofort von Anfang an eine maßlose Verzweiflung. Daher sagen Tauler, der Mann Gottes, und alle, die es erfahren haben, daß Gott seinen Kindern niemals angenehmer, liebenswerter und liebreicher und vertrauter sei, als nach Bewährung in der Prüfung.

Nun wollen wir die Worte des Apostels betrachten, welcher (Röm. 5, 4) die Hoffnung das Werk der Bewährung nennt, die Bewährung das Werk der Geduld, die Geduld das Werk der Trübsal. Das hat Petrus Lombardus mit einem allzustarken Ausdruck die »Verdienste« genannt, aus denen die Hoffnung erwächst, oder wenigstens hat man doch jene »Verdienste« nicht richtig begriffen. Denn wahrlich, das (in Werken) tätige Leben, auf welches viele vermessen genug vertrauen, welches sie auch als Verdienst verstehen, bringt nicht Hoffnung hervor und bewirkt sie nicht, sondern (nur) Vermessenheit, nicht anders als das Wissen aufbläht. Deshalb muß das leidende Leben dazukommen, welches das ganze tätige Leben tötet und vernichtet, so daß nichts von Verdiensten übrig bleibt, derer sich ein Hoffärtiger rühmen könnte. Wenn das geschieht, und der Mensch ausharrt, dann wächst in ihm die Hoffnung, das heißt, er lernt, daß es nichts gibt, dessen man sich freuen, darauf man hoffen, oder dessen man sich rühmen könne, außer Gott. Denn während die Trübsal uns alles nimmt, läßt sie schlechterdings nur Gott allein zurück. Denn ihn kann sie nicht nehmen, vielmehr bringt sie ihn uns gerade. Wenn uns aber alles genommen ist, auch die guten Werke und Verdienste, und wir darin standhalten, dann finden wir Gott, auf den wir allein vertrauen, und so sind wir durch Hoffnung selig geworden.

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Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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