Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Der Pilgrim
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IV,7,24

Mit einem Bischof verhält es sich nicht so wie mit einem König; denn wenn dieser auch das, was eigentlich zu einem König gehört, nicht ausübt, so behält er trotzdem die Ehre und den Titel bei. Bei der Beurteilung eines Bischofs dagegen schaut man auf Christi Auftrag, der in der Kirche stets in Kraft bleiben muß. Die Römischen sollen mir also diesen Knoten auflösen. lch erkläre, daß ihr Bischof eben deshalb nicht der Oberste der Bischöfe ist, weil er kein Bischof ist! Sie müssen nun notwendig zunächst beweisen, daß die letztere Behauptung verkehrt ist, wenn sie bezüglich der ersteren obsiegen wollen. Was wollen sie aber sagen, wo ihr Bischof nicht nur nichts von dem hat, was die Eigenart eines Bischofs ausmacht, sondern vielmehr lauter Eigenschaften, die ihr zuwiderlaufen? Aber, o Gott, wo soll ich da den Anfang machen? Bei der Lehre oder etwa bei dem Lebenswandel? Was soll ich sagen oder – was soll ich verschweigen? Und wo soll ich aufhören? Das sage ich: wenn die Welt heutzutage so voll ist von soviel verkehrten und gottlosen Lehren, wenn sie erfüllt ist mit so vielartigem Aberglauben, wenn sie von soviel Irrtümern geblendet und in soviel Abgötterei versunken ist, so ist nirgendwo etwas von alledem, das nicht von Rom seinen Ursprung genommen oder wenigstens seine Billigung empfangen hätte. Und wenn die Päpste mit solcher Wut gegen die wieder aufkommende Lehre des Evangeliums vorgehen, wenn sie alle ihre Kräfte anspannen, um sie zu unterdrücken, wenn sie alle Könige und Fürsten zu grausamem Wüten anfeuern, so geschieht das aus keiner anderen Ursache, als weil sie sehen, daß ihre ganze Herrschaft ineinanderfällt und zusammenbricht, sobald einmal das Evangelium von Christus Geltung erlangt hat. Leo (X.) ist grausam gewesen, Clemens (VII.) blutdürstig, und Paul (III.) ist grimmig. Aber es war nicht so sehr ihre Natur, die sie zur Bestreitung der Wahrheit antrieb, als vielmehr die Tatsache, daß dies die einzige Art und Weise war, ihre Macht aufrechtzuerhalten. Da sie also nur dann bestehen bleiben können, wenn Christus niedergeschlagen ist, so mühen sie sich in dieser Sache nicht anders, als wenn sie für Haus und Herd und für ihr eigenes Leben kämpften! Wie nun, soll etwa da, wo wir nichts sehen als furchtbare Abtrünnigkeit, für uns der „apostolische Stuhl“ sein? Soll das der „Statthalter Christi“ sein, der in verbissenen Anlaufen das Evangelium verfolgt und dadurch offen zutage treten läßt, daß er der Antichrist ist? Soll das der „Nachfolger des Petrus“ sein, der mit Feuer und Schwert wütet, um alles niederzureißen, was Petrus aufgebaut hat? Soll der „das Haupt der Kirche sein, der die Kirche von Christus, ihrem einigen Haupte, wegreißt und abschneidet und sie dann in sich selbst zerstückelt und auseinanderreißt? Mag Rom wohl vorzeiten die Mutter aller Kirchen gewesen sein, so hat es jedenfalls, seitdem es begonnen hat, der Sitz des Antichrists zu werden, aufgehört, das zu sein, was es war.



IV,7,25

Einige haben den Eindruck, wir trieben gar zu große Lästerung und gar zu tollen Mutwillen, wenn wir den Papst zu Rom als Antichrist bezeichnen. Aber die das meinen, die merken nicht, daß sie damit Paulus der Maßlosigkeit beschuldigen, dem wir uns mit solcher Redeweise anschließen, ja, dessen eigene Worte wir nachsprechen. Damit uns nun niemand den Einwurf macht, als bezögen wir die Worte des Paulus, die an sich einen anderen Sinn hätten, in fälschlicher Verdrehung auf den Bischof von Rom, so will ich kurz zeigen, daß man diese Worte nicht anders verstehen kann, als daß sie das Papsttum betreffen. Paulus schreibt, der Antichrist werde im Tempel Gottes seinen Sitz nehmen (2. Thess. 2,4). Auch an anderer Stelle zeichnet uns der Heilige Geist ein Bild des Antichrists, und zwar in der Person des Antiochus, und da zeigt er, daß seine Herrschaft in Großsprecherei und Gotteslästerungen bestehen werden (Dan. 7,25). Daraus ziehen wir die Folgerung, daß dies Reich des Antichrists eine Tyrannei ist, die sich mehr gegen die Seelen als gegen die Leiber richtet, eine Tyrannei, die sich wider Christi geistliches Reich erhebt. Ferner ergibt sich, daß dies Reich von der Art ist, daß es weder Christi noch der Kirche Namen abschafft, sondern vielmehr Christus als Vorwand mißbraucht und sich unter dem Namen „Kirche“ wie hinter einer Maske versteckt. Freilich gehören alle Ketzereien und Sekten, die seit Anbeginn bestanden haben, zum Reiche des Antichrists. Wenn jedoch Paulus vorhersagt, es werde ein Abfall kommen (2. Thess. 2,3), so gibt er mit dieser Beschreibung zu erkennen, daß jener Sitz der Abscheulichkeit dann aufgerichtet werden wird, wenn gewissermaßen ein allgemeiner Abfall die Kirche ergriffen hat, mögen auch hin und her viele Glieder der Kirche in der wahren Einheit des Glaubens verharren. Wenn Paulus aber dann zusetzt, schon zu seiner Zeit beginne der Antichrist insgeheim das Werk der Bosheit zu wirken, das er dann hernach öffentlich ausrichten werde (2. Thess. 2,7), so erfahren wir daraus, daß diese Not weder durch einen einzigen Menschen aufgebracht werden noch auch in einem einzigen Menschen zu Ende kommen sollte. Wenn er dann weiter den Antichrist mit dem Merkmal bezeichnet, daß er Gott seine Ehre wegreißen und sie sich selber anmaßen werde (2. Thess. 2,4), so ist dies das wichtigste Zeichen, dem wir folgen müssen, wenn wir den Antichrist suchen wollen, vor allem, wo solcher Hochmut bis zur öffentlichen Zerstreuung der Kirche fortschreitet. Nun steht es aber fest, daß der Papst zu Rom das, was Gott allein und Christus in höchstem Maße, eigen war, unverschämt auf sich übertragen hat, und deshalb ist nicht daran zu zweifeln, daß er der Oberste und Anführer dieses gottlosen und abscheulichen Reiches ist.



IV,7,26

Nun mögen die Römischen hingehen und uns die alte Zeit entgegenhalten. Als ob angesichts einer solchen Verkehrung aller Dinge die Ehre eines (bischöflichen) Stuhls bestehen bleiben könnte, wo gar kein Bischofsstuhl ist! Eusebius berichtet, Gott habe, damit seiner Rache Raum geschafft würde, die Kirche, die zu Jerusalem war, nach Pella überführt (Kirchengeschichte III,5,3). Was nach dem, das wir hier vernehmen, einmal geschehen ist, das könnte auch öfters eintreten. Deshalb aber ist es doch gar zu lächerlich und ungereimt, wenn man die Ehre der Obergewalt derartig an einen Ort bindet, daß einer, der in Wirklichkeit der verbissenste Feind Christi, der vornehmste Widersacher des Evangeliums, der größte Verwüster und Zerstörer der Kirche und der grausamste Schlächter und Henker aller Heiligen ist, trotzdem als „Statthalter Christi“, als „Nachfolger des Petrus“ und als „erster Vorsteher der Kirche“ angesehen wird, und zwar einzig darum, weil er einen Sitz innehat, der vorzeiten einmal der erste von allen war! Ich schweige noch davon, was für ein großer Unterschied zwischen der Kanzlei des Papstes und einer recht eingerichteten Ordnung der Kirche besteht. Und das tue ich, obwohl diese eine Tatsache jeden Zweifel über diese Frage ausgezeichnet zu beheben vermag. Denn kein Mensch, der bei gesundem Verstand ist, wird das Bischofsamt in Blei und Bullen einschließen, noch viel weniger aber in solch eine Meisterschaft in allen Betrügereien und Übervorteilungen – denn das sind die Dinge, an denen man das „geistliche Regiment“ des Papstes erkennen kann. Sehr trefflich ist es daher, wenn einmal einer sagte, jene römische Kirche, deren man sich rühme, sei bereits seit längerer Zeit in einen Hof verwandelt worden, und diesen allein bekäme man jetzt in Rom zu sehen. Ich klage nun hier nicht die Gebrechen von Menschen an, sondern ich weise nach, daß das Papsttum selbst dem kirchlichen Wesen schlechterdings zuwider ist.



IV,7,27

Wollen wir nun aber auf die Menschen zu sprechen kommen, so weiß man ja genugsam, was für „Statthalter Christi“ wir da finden werden: da werden nämlich Julius (II.) und Leo (X.) und Clemens (VII.) und Paul (III.) die „Pfeiler des christlichen Glaubens“ und die „obersten Lehrer der Religion“ sein – Leute, die von Christus nichts anderes wissen, als was sie in der Schule des (Spötters) Lucian gelernt haben! Aber wozu zähle ich hier drei oder vier Päpste auf? Als ob es zweifelhaft wäre, was für eine Art Religion die Päpste samt dem ganzen Kardinalskollegium bereits seit langem bekannt haben und auch heutzutage bekennen! Denn das erste Hauptstück der verborgenen Theologie, die unter ihnen das Regiment führt, ist dies: Es gibt keinen Gott. Und das zweite heißt: Alles, was von Christus geschrieben steht und gelehrt wird, das ist Lüge und Betrug. Und das dritte: Die Lehre vom künftigen Leben und von der letzten Auferstehung – das sind lauter Fabeln! Nicht alle denken so, und nur wenige sprechen sich so aus, das gebe ich zu. Aber trotzdem hat das schon lange angefangen, die gewöhnliche Religion der Päpste zu sein, und obwohl es allen, die Rom kennengelernt haben, völlig bekannt ist, so hören doch die römischen Theologen nicht auf zu rühmen, durch ein von Christus gegebenes Vorrecht sei Vorsorge dagegen getroffen, daß der Papst irren könne – denn zu Petrus sei gesagt: „Ich … habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre“ (Luk. 22,32). Ich möchte doch wissen: was werden sie mit diesem schamlosen Gespött anders erreichen, als daß die ganze Welt einsieht, wie sie dermaßen den höchsten Gipfel der Ruchlosigkeit erreicht haben, daß sie weder Gott fürchten noch sich vor den Menschen scheuen?



IV,7,28

Aber nehmen wir an, die Gottlosigkeit der genannten Päpste bliebe verborgen, weil sie sie weder in Predigten noch in Schriften an die Öffentlichkeit gebracht, sondern bloß bei Tisch, in der Kammer oder wenigstens zwischen ihren Wänden von sich gegeben haben. Wenn sie jedoch wollen, daß jenes Vorrecht, das sie vorwenden, seine Geltung hat, so müssen sie (auf jeden Fall) Johann XXII. aus der Zahl der Päpste ausstreichen, der offen behauptet hat, die Seelen seien sterblich und gingen mit den Leibern zusammen bis zum Tage der Auferstehung zugrunde. Damit man nun aber sieht, daß damals der ganze (päpstliche) Stuhl mitsamt seinen vornehmsten Stützen ganz und gar zusammengefallen ist, (so sei auf folgende Tatsache hingewiesen): von den Kardinälen hat sich keiner solch einem großen Wahnwitz widersetzt, sondern die Schule von Paris hat den König von Frankreich dazu gebracht, daß er den Mann zum Widerruf zwang! Der König hat die (kirchliche) Gemeinschaft mit ihm untersagt, wofern er nicht baldigst Buße täte; und das hat er auch nach gewohnter Sitte durch einen Herold bekanntmachen lassen. Unter diesem Zwang hat der Papst dann seinen Irrtum abgeschworen. Dafür ist Johannes Gerson Zeuge, der damals lebte. Dieses Beispiel hat die Wirkung, daß ich mit unseren Widersachern nicht mehr weiter über ihre Aussage streiten muß, der römische Stuhl und seine Päpste könnten im Glauben nicht fallen, weil zu Petrus gesagt worden sei: „Ich habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre …” (Luk. 22,32). Sicherlich ist jener Johann XXII. in einer so scheußlichen Art von Abfall vom rechten Glauben abgeirrt, um den Nachfahren einen ausgezeichneten Beweis dafür zu bieten, daß nicht alle, die dem Petrus im Bischofsamt nachfolgen, auch Petrusse sind! Allerdings ist jene Behauptung auch an sich zu kindisch, als daß sie einer Antwort bedürfte. Denn wenn sie alles, was zu Petrus gesagt worden ist, auf seine Nachfolger beziehen wollen, so ergibt sich auch, daß alle Päpste Satane sind – denn der Herr hat zu Petrus doch auch gesagt: „Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich“ (Matth. 16,23). Es wird nämlich für uns ebenso leicht sein, das letztere gegen sie zu kehren, wie es für sie sein mag, uns das erste vorzuhalten!
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,7,29

Aber ich habe keine Lust, meinen Streit mit Albernheiten zu führen – ich will also zu dem zurückkommen, von dem ich abgeschweift war. Wenn man Christus, den Heiligen Geist und die Kirche dergestalt an einen Ort bindet, daß nun jeder, der da die Leitung hat, selbst wenn er der Teufel ist, trotzdem als Christi Statthalter und als Haupt der Kirche gilt, weil dort einst der Sitz des Petrus war, so behaupte ich, ist das nicht nur gottlos und eine Schmähung Christi, sondern auch gar zu widersinnig und dem gesunden Menschenverstand zuwider. Schon seit langer Zeit sind die römischen Päpste entweder gänzlich ohne Religion oder aber gar die ärgsten Feinde der Religion. Sie werden also um des Stuhles willen, den sie einnehmen, ebensowenig zu „Christi Statthaltern“, wie etwa ein Abgott, wenn er in Gottes Tempel aufgestellt wird, für Gott zu halten ist (2. Thess. 2,4). Will man aber über ihren Lebenswandel urteilen, so mögen die Päpste selber für sich die Antwort geben, was das denn überhaupt sein soll, an dem sie als Bischöfe erkannt werden könnten. Zunächst: daß man zu Rom so lebt, wie man es tut, und daß sie dabei nicht allein durch die Finger sehen und schweigen, sondern es gleichsam mit stummer Zustimmung billigen, das ist eines Bischofs ganz und gar unwürdig; denn ein Bischof hat doch die Pflicht, die Ausgelassenheit des Volkes durch die Strenge der Zucht in Schranken zu halten. Aber ich will nicht so rücksichtslos gegen sie sein, daß ich sie mit fremden Missetaten belaste. Daß sie aber selbst samt ihrer Hausgenossenschaft, samt beinahe dem ganzen Kardinalskollegium, samt dem ganzen Haufen ihres Klerus aller Schlechtigkeit, Unsittlichkeit und Unreinheit, jeder Art von Lastern und Schandtaten dermaßen ergeben sind, daß sie eher Ungeheuern gleichen als Menschen – darin legen sie nun sicherlich an den Tag, daß sie nichts weniger sind als Bischöfe. Sie brauchen trotzdem nun nicht zu fürchten, daß ich ihre Schande weiterhin aufdeckte. Denn es verdrießt mich, mit solchem stinkenden Schlamm umzugehen, zudem muß ich auf schamhafte Ohren Rücksicht nehmen – und dann habe ich auch den Eindruck, als ob ich das, was ich zeigen wollte, bereits mehr als zur Genüge dargetan hätte. Das war nämlich dies: selbst wenn Rom einst das Haupt der Kirchen gewesen sein mag, so ist es doch heute nicht wert, zu ihren kleinsten Zehen gerechnet zu werden.



IV,7,30

Was nun die von ihnen so genannten Kardinäle anbetrifft, so weiß ich nichts was eigentlich geschehen ist, daß sie so plötzlich zu solcher Bedeutung emporgestiegen sind. Zu Gregors Zeiten kam dieser Titel allein den Bischöfen zu. Denn jedesmal, wenn er Kardinäle erwähnt, so schreibt er sie nicht der Kirche zu Rom, sondern irgendwelchen anderen zu, so daß also kurzum ein „Kardinalpriester” nichts anderes ist als ein Bischof (Brief I,15; I,77; I,79; II,12; II,37; III,13). Bei den Schriftstellern der früheren Zeit finde ich den Titel nicht. Ich sehe aber, daß die Kardinäle damals den Bischöfen nachgeordnet waren, während sie ihnen heute wesentlich übergeordnet sind. Bekannt ist ein Wort des Augustin: „Obgleich nach dem in der Kirche gebräuchlich gewordenen Ehrennamen das Bischofsamt höher steht als das des Presbyters, so ist doch (der Bischof) Augustin in vielen Dingen geringer als (der Presbyter) Hieronymus“ (Brief 82). Hier macht er unzweifelhaft zwischen einem Presbyter der Kirche zu Rom und anderen Presbytern keinen Unterschied, sondern er ordnet sie alle gleichermaßen den Bischöfen nach. Das wurde so weitgehend beobachtet, daß auf dem Konzil zu Karthago, als zwei Abgesandte des römischen Stuhls zugegen waren, der eine ein Bischof, der andere ein Presbyter, der letztere an den untersten Platz zurückgedrängt wurde. Aber um nicht gar zu alte Dinge durchzugehen: es gibt ein Konzil, das zu Rom unter Gregor gehalten wurde; da haben nun die Presbyter ihren Sitz auf dem untersten Platz, und sie unterschreiben auch für sich, die Diakonen aber haben bei der Unterschrift gar keinen Platz (Gregor, Brief V,57a). Und ohne Zweifel hatten sie (die heutigen Kardinäle) damals keine andere Amtspflicht, als dem Bischof bei der Verwaltung der Lehre und der Sakramente zur Seite – und nach zustehen. Heutzutage aber hat sich ihr Los derart gewendet, daß sie zu Verwandten von Königen und Kaisern geworden sind. Es ist auch außer Zweifel, daß sie zusammen mit ihrem Oberhaupt allmählich gewachsen sind, bis sie zu dem heutigen Gipfel der Würde emporstiegen. Ich habe aber auch dies mit wenigen Worten, gleichsam im Vorübergehen, berühren wollen, damit der Leser besser sieht, daß sich der römische Stuhl, wie er heute beschaffen ist, sehr wesentlich von jenem alten unterscheidet, den er stets als Vorwand benutzt, um sich zu schützen und zu verteidigen. Aber die Kardinäle mögen früher gewesen sein, wie sie wollen, so haben sie doch in der Kirche keinerlei wahres und rechtmäßiges Amt und deshalb bloß einen Schein und eine eitle Maske inne. Ja, weil alles, was sie haben, dem kirchlichen Amte gänzlich zuwider ist, so ist ihnen notwendig zugestoßen, was Gregor so oft schreibt: „Weinend sage ich es und seufzend tue ich es kund: da der priesterstand innerlich zerfallen ist, so wird er auch äußerlich keinen Bestand haben können“ (Brief V,58; V,62; VI,7; V,63). Ja, es mußte sich vielmehr an ihnen erfüllen, was Maleachi von solchen Leuten sagt: „Ihr seid von dem Wege abgetreten und ärgert viele im Gesetz und habt den Bund Levis gebrochen, spricht der Herr. Darum habe ich auch euch gemacht, daß ihr verachtet und unwert seid vor dem ganzen Volk …” (Mal. 2,8f.). Nun überlasse ich es allen Frommen, darüber nachzudenken, von welcher Art der höchste Gipfel der römischen Hierarchie ist, dem die Papisten in gottloser Unverschämtheit ungescheut selbst das Wort Gottes unterwerfen, das doch für Himmel und Erde, für Engel und Menschen hätte verehrungswürdig und heilig sein sollen.



Achtes Kapitel

Von der Macht der Kirche im Bezug auf die Glaubenssätze, und mit was für einer zügellosen Willkür diese im Papsttum zur Verfälschung aller Reinheit der Lehre benutzt worden ist




IV,8,1

Nun folgt das dritte Hauptstück: von der Vollmacht der Kirche. Diese tritt teils bei den einzelnen Bischöfen in Erscheinung, teils bei den Konzilien, und zwar sowohl bei den Provinzialkonzilien als auch bei den allgemeinen. Dabei rede ich ausschließlich von der geistlichen Vollmacht, die der Kirche eigen ist. Diese besteht nun in der Lehre, in der Rechtsprechung oder in der Gesetzgebung. Das Lehrstück von der Lehre hat zwei Teile: es handelt von der Autorität, Glaubenssätze aufzustellen, und von der Auslegung der Glaubenssätze. Bevor wir nun anfangen, die einzelnen Stücke besonders zu erörtern, möchten wir den frommen Leser auffordern, daß er daran denke, alles, was über die Vollmacht der Kirche gelehrt wird, auf das Ziel zu beziehen, zu dem diese nach dem Zeugnis des Paulus gegeben ist; dies Ziel aber ist Erbauung und nicht Niederreißung (2. Kor. 10,8; 13,10), und die, welche diese Vollmacht rechtmäßig ausüben, sind nicht der Meinung, daß sie mehr seien als Diener Christi und zugleich Diener des Volkes (d.h. der Gemeinde) in Christus. Die Erbauung der Kirche geschieht nun aber nur auf eine einzige Art und Weise, nämlich dann, wenn die Diener selbst sich befleißigen, Christus die ihm gebührende Autorität zu erhalten; diese aber kann nur dann unverkürzt bleiben, wenn ihm gelassen wird, was er vom Vater empfangen hat, nämlich daß er der einzige Lehrmeister seiner Kirche ist. Denn nicht von irgendwem anders, sondern von ihm allein steht geschrieben: „Den sollt ihr hören“ (Matth. 17,5). So soll also die kirchliche Vollmacht wohl ohne Kleinlichkeit ihre Zier bekommen, aber doch in bestimmte Grenzen eingeschlossen werden, damit sie nicht nach der Willkür der Menschen hierhin und dorthin gezerrt werde. Hierzu wird es in höchstem Maße dienlich sein, wenn wir unser Augenmerk darauf richten, in welcher Weise sie von den Propheten und Aposteln beschrieben wird. Denn wenn wir es den Menschen einfach überlassen, die Macht an sich zu nehmen, die ihnen gefällt, dann sieht jeder sofort ein, wie leicht es ist, in eine Tyrannei zu verfallen, die von der Kirche Christi weit entfernt bleiben muß.



IV,8,2

Deshalb müssen wir hier bedenken, daß alles, was der Heilige Geist in der Schrift den Priestern oder auch den Propheten oder den Aposteln oder den Nachfolgern der Apostel an Autorität und Würde überträgt, voll und ganz nicht eigentlich den Menschen selbst beigelegt wird, sondern dem Amte, dem sie vorstehen, oder, um deutlicher zu reden, dem Worte, dessen Dienst ihnen anvertraut ist. Wenn wir sie nämlich alle der Reihe nach durchgehen, so werden wir nicht finden, daß sie mit irgendeiner Autorität ausgestattet waren, zu lehren oder einen Spruch zu tun, als allein im Namen des Herrn und auf Grund seines Wortes. Denn wenn sie zu ihrem Amt berufen werden, so wird ihnen jedesmal zugleich die Verpflichtung auferlegt, nichts aus sich selbst heraus vorzubringen, sondern aus dem Mund des Herrn heraus zu reden. Auch läßt er sie nicht eher in der Öffentlichkeit auftreten, um vom Volke gehört zu werden, als bis er ihnen aufgetragen hat, was sie reden sollen – damit sie nichts reden außer seinem Wort. Mose war doch der Oberste aller Propheten, und ihn mußte man vor anderen hören; aber auch er wurde zuvor mit bestimmten Aufträgen versehen, damit er durchaus nichts verkündigen konnte als das, was von dem Herrn kam (Ex. 3,4ff.). Als daher das Volk seine Lehre angenommen hatte, da hieß es von ihm, es habe an Gott und an seinen Knecht Mose geglaubt (Ex. 14,31). Auch die Autorität der Priester wurde mit schwersten Strafandrohungen gesichert, damit sie nicht in Verachtung geriet (Deut. 17, 9-13). Zugleich aber gibt der Herr zu erkennen, unter welcher Bedingung sie gehört werden sollten, indem er nämlich sagt, er habe mit Levi seinen Bund gemacht, damit „das Gesetz der Wahrheit … in seinem Munde“ sei (Mal. 2,4.6). Und kurz nachher fügt er noch zu: „Des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde das Gesetz suche; denn er ist ein Bote des Herrn der Heerscharen“ (Mal. 2,7; nicht ganz Luthertext). Will also der Priester gehört werden, so muß er sich als ein Bote Gottes erweisen, das heißt: er muß die Weisungen, die er von seinem Auftraggeber empfangen hat, getreulich weitergeben. Und wo davon die Rede ist, daß die Priester gehört werden sollen, da wird ausdrücklich festgesetzt, daß sie ihren Spruch „nach dem Gesetz“ Gottes tun sollen (Deut. ,7,10.11).



IV,8,3

Wie es um die Vollmacht der Propheten allgemein bestellt war, das wird bei Ezechiel trefflich beschrieben: „Du Menschenkind, spricht der Herr, ich habe dich zum Wächter gesetzt über das Haus Israel, du sollst also aus meinem Munde das Wort hören und ihnen von mir aus Botschaft geben“ (Ez. 3,17; nicht durchweg Luthertext). Wenn er da die Weisung erhält, (das Wort) „aus dem Munde des Herrn“ zu hören – wird ihm damit nicht untersagt, aus sich selbst heraus etwas zu ersinnen? Und wenn es dann heißt, er solle „von dem Herrn aus Botschaft geben“ – was bedeutet das anders, als so zu reden, daß er zuversichtlich zu rühmen wagt, daß es nicht sein, sondern des Herrn Wort ist, was er vorbringt? Das nämliche steht mit anderen Worten bei Jeremia: „Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort, das da wahr ist“ (Jer. 23,28; Schluß nicht Luthertext). Damit gibt er unzweifelhaft allen Propheten ein Gesetz. Und dies Gesetz ist von der Art, daß er es nicht duldet, daß einer mehr lehrt, als ihm befohlen ist. Und alles, was nicht von ihm allein ausgegangen ist, das nennt er nachher „Stroh“ (Jer. 23,28b). Deshalb hat auch von den Propheten keiner den Mund aufgetan, wofern nicht der Herr die Worte vorsagte. Deshalb begegnen uns bei ihnen so oft solche Wendungen wie „das Wort des Herrn“, „die Last des Herrn“, „So spricht der Herr“ oder „Der Mund des Herrn hat’s geredet“. Und das mit Recht: denn Jesaja rief doch aus, er habe befleckte Lippen (Jes. 6,5), und Jeremia bekannte, er vermöge nicht zu reden, weil er noch ein Knabe sei (Jer. 1,6). Was hätte aus des einen beflecktem, des anderen einfältigem Munde anders hervorgehen können als Unreines und Törichtes, wenn sie ihr eigenes Wort geredet hätten? Heilige und reine Lippen aber hatten sie, als diese anfingen, die Werkzeuge des Heiligen Geistes zu sein. Sobald die Propheten an die heilige Verpflichtung gebunden sind, nichts von sich zu geben, als was sie empfangen haben, da werden sie mit herrlicher Vollmacht und mit glänzenden Titeln ausgezeichnet. Denn wenn der Herr bezeugt, daß er sie „über Völker und Königreiche“ gesetzt hat, damit sie „ausreißen, zerbrechen, zerstören und verderben … und bauen und pflanzen“ (Jer. 1,10), so fügt er gleich auch die Ursache bei: all dies geschieht, weil er „seine Worte in ihren Mund gelegt“ hat (Jer. 1,9).
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,8,4

Und wenn man nun seinen Blick auf die Apostel richtet, so werden diese allerdings mit vielen und herrlichen Bezeichnungen gepriesen: es heißt von ihnen, daß sie „das Licht der Welt“ und „das Salz der Erde“ sind (Matth. 5,13,14), daß man sie an Christi Statt hören soll (Luk. 10,16), daß alles, was sie auf Erden gebunden oder gelöst haben, auch im Himmel gebunden und gelöst sein soll (Joh. 20,23; Matth. 18,18). Aber (schon) durch ihren Namen (Apostel, Abgesandte) legen sie an den Tag, wieviel ihnen in ihrem Amte zugestanden ist: nämlich wenn sie „Apostel“ sind, so sollen sie eben nicht schwatzen, was ihnen gefällt, sondern vielmehr getreulich die Aufträge dessen vorbringen, von dem sie „gesandt“ sind! Deutlich genug sind auch Christi Worte, mit denen er ihre Sendung umgrenzt hat: er trug ihnen doch auf, sie sollten hingehen und alle Völker lehren, was er ihnen geboten hatte (Matth. 28,19f.). Ja, damit es niemand verstattet sei, sich diesem Gesetz zu entziehen, so hat er es selbst auf sich genommen und sich selbst auferlegt. „Meine Lehre“, spricht er, „ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat, des Vaters“ (Joh. 7,16; Schluß ist Zusatz). Er ist doch allezeit der einige, wahre Ratgeber des Vaters gewesen, und der Vater hat ihn als Herrn und Meister über alle eingesetzt – trotzdem gibt er, weil er das Amt der Lehrunterweisung ausübt, durch sein eigenes Beispiel allen Dienern die Weisung, welcher Regel sie bei ihrem Lehren folgen sollen. Die Vollmacht der Kirche ist also nicht unbegrenzt, sondern sie ist dem Worte des Herrn unterworfen und gleichsam darin eingeschlossen.



IV,8,5

Obgleich nun aber in der Kirche seit Anbeginn der Grundsatz in Geltung war und es auch heute noch sein muß, daß die Knechte Gottes nichts lehren sollen, was sie nicht von ihm selbst gelernt hätten, so haben sie doch solch Lernen je nach der Verschiedenheit der Zeiten auf verschiedene Art und Weise geübt. Die Art aber, wie es heute geschieht, unterscheidet sich sehr wesentlich von derjenigen früherer Zeiten. Zunächst gilt doch das Wort Christi, daß niemand den Vater gesehen hat außer dem Sohne und dem, dem es der Sohn hat offenbaren wollen (Matth. 11,27). Ist das aber wahr, so haben alle, die zur Erkenntnis Gottes gelangen wollten, unzweifelhaft allezeit von jener ewigen Weisheit geleitet werden müssen. Denn wie hätten sie anders die Geheimnisse Gottes innerlich erfassen oder aussprechen sollen, als unter der Unterweisung dessen, dem allein die Verborgenheiten des Vaters offenstehen? So haben also die heiligen Menschen von jeher Gott nicht anders erkannt, als indem sie ihn im Sohne wie in einem Spiegel anschauten. Wenn ich das sage, so verstehe ich es so: Gott hat sich den Menschen niemals anders offenbart als durch den Sohn, das heißt durch seine einige Weisheit, sein einiges Licht und seine einige Wahrheit. Aus diesem Brunnquell haben Adam, Noah, Abraham, Isaak, Jakob und andere alles geschöpft, was sie an himmlischer Lehre besaßen. Aus derselben Quelle haben auch alle Propheten entnommen, was sie an himmlischen Offenbarungsworten von sich gegeben haben. Jedoch hat sich diese Weisheit nicht allezeit auf eine und dieselbe Weise offenbart. Bei den Erzvätern hat sie geheime Offenbarungen benutzt, zugleich aber zu deren Bestätigung Zeichen von solcher Art angewandt, daß es für jene Männer durchaus keinem Zweifel mehr unterliegen konnte, daß es Gott war, der da redete. Was die Erzväter empfangen hatten, das haben sie dann von Hand zu Hand an ihre Nachkommen überliefert; denn Gott hatte es ihnen mit der Bestimmung anvertraut, daß sie es in dieser Weise fortpflanzten. Die Söhne aber und Enkel wußten durch Gottes innerliche Eingebung (Deo intus dictante), daß das, was sie vernahmen, vom Himmel und nicht von der Erde stammte.



IV,8,6

Als es aber Gott gefiel, eine deutlicher sichtbare Gestalt der Kirche aufzurichten, da hatte er den Willen, daß sein Wort schriftlich niedergelegt und versiegelt wurde, damit die Priester daraus entnähmen, was sie dem Volke vorbringen sollten, und damit jegliche Lehre, die vorgetragen werden sollte, nach dieser Richtschnur geprüft würde. Wenn den Priestern also nach der öffentlichen Kundmachung des Gesetzes die Weisung erteilt wird, sie sollten „aus dem Munde“ des Herrn lehren (Mal. 2,7), so ist der Sinn folgender: sie sollen nichts lehren, was außerhalb der Art der Unterweisung liegt, die Gott im Gesetz beschlossen hat, oder was dieser fremd ist. Vollends war es ihnen nicht erlaubt, etwas hinzuzufügen oder davonzutun (Deut. 4,2; 13,1). Dann folgten die Propheten. Durch sie hat Gott zwar neue Offenbarungsworte kundgemacht, die zum Gesetz hinzugetan werden sollten; aber diese waren doch nicht so neu, daß sie etwa nicht aus dem Gesetz herrührten und darauf gerichtet wären. Bezüglich der Lehre waren die Propheten nämlich bloß Ausleger des Gesetzes, und sie haben ihm nichts zugefügt als Weissagungen über zukünftige Dinge. Mit Ausnahme dieser Weissagungen haben sie nichts vorgebracht als die reine Auslegung des Gesetzes. Es war aber des Herrn Wohlgefallen, daß die Lehre deutlicher und weitläufiger ans Licht trat, damit den schwachen Gewissen um so besser Genüge geschähe, und deshalb gebot er, daß auch die Prophetien schriftlich niedergelegt wurden und als Teil seines Wortes galten. Dazu sind dann zugleich auch die Geschichtsbücher gekommen, die ebenfalls Arbeiten von Propheten sind, aber unter der Eingebung des Heiligen Geistes zusammengestellt. Die Psalmen rechne ich zu den Propheten, weil ja das, was wir diesen zuschreiben, auch ihnen gemein ist. Dieses ganze Schriftengefüge, das aus dem Gesetz, den Prophetenbüchern, den Psalmen und den Geschichtsbüchern gebildet war, war also für das Volk des Alten Bundes das Wort Gottes, nach dessen Regel die Priester und Lehrer bis zum Kommen Christi ihre Unterweisung ausrichten sollten, und es war ihnen nicht erlaubt, davon abzuweichen, „weder zur Rechten noch zur Linken“ (Deut. 5,29); denn ihr ganzes Amt war von der Begrenzung umschlossen, daß sie aus Gottes Mund zum Volke sprechen sollten. Das geht aus der wichtigen Stelle bei Maleachi hervor, an der er ihnen die Weisung gibt, des Gesetzes zu gedenken und darauf achtzuhaben – bis zur Verkündigung des Evangeliums (Mal. 3,22 = 4,4)! Denn auf diese Weise hält er sie von allen fremden Lehren ab und erlaubt ihnen nicht, das geringste Stücklein von dem Wege abzuweichen, den ihnen Mose getreulich gewiesen hatte. Und das ist auch der Grund, weshalb David die Herrlichkeit des Gesetzes so prachtvoll verkündigt und so viele Lobpreise desselben aufführt: die Juden sollten eben nichts außerhalb des Gesetzes begehren, weil ja alle Vollkommenheit in ihm beschlossen lag!



IV,8,7

Als aber endlich Gottes Weisheit im Fleische geoffenbart wurde, da hat sie uns alles, was mit dem menschlichen Verstande über den himmlischen Vater begriffen werden kann und gedacht werden soll, mit offenem Munde dargelegt. Daher haben wir jetzt, seitdem Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, leuchtend aufgegangen ist, den vollen Glanz der göttlichen Wahrheit, so wie die Klarheit am Mittag zu sein pflegt, wenn auch das Licht zuvor einigermaßen verdüstert war. Denn der Apostel wollte wahrhaftig nichts Gewöhnliches verkündigen, als er schrieb: „Nachdem vorzeiten Gott manchmal und mancherleiweise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns zu reden begonnen durch seinen geliebten Sohn …” (Hebr. 1,1f.; Schluß ungenau). Er gibt hier nämlich zu verstehen, ja, er erklärt offen, daß Gott fortan nicht mehr, wie zuvor, bald durch den einen, bald wieder durch den anderen reden, auch nicht mehr eine Prophetie an die andere, eine Offenbarung an die andere fügen wird, sondern vielmehr im Sohne jedwede Unterweisung dergestalt vollendet hat, daß dies für das letzte und ewige Zeugnis von ihm zu gelten hat. Aus diesem Grunde wird die ganze Zeit des Neuen Bundes, von da an, da uns Christus mit der Predigt seines Evangeliums erschienen ist, bis zum Tage des Gerichtes, mit solchen Ausdrücken bezeichnet wie „die letzte Stunde“ (1. Joh. 2,18), „die letzten Zeiten“ (1. Tim. 4,1; 1. Petr. 1,20) oder „die letzten Tage“ (Apg. 2,17; 2. Tim. 3,1; 2. Petr. 3,3). Das geschieht, damit wir uns mit der Vollkommenheit der Lehre Christi zufriedengeben und es lernen, uns darüber hinaus keine neue zu ersinnen und auch keine neue anzunehmen, die sich etwa andere erdacht haben. Deshalb hat uns der Vater nicht ohne Ursache den Sohn mit einem einzigartigen Vorrecht als Lehrer verordnet, indem er gebietet, daß er, nicht irgendeiner von den Menschen, gehört werden soll. Es sind zwar bloß wenige Worte, mit denen er uns die Lehrmeisterschaft des Sohnes ans Herz gelegt hat, indem er spricht: „Den sollt ihr hören“ (Matth. 17,5). Aber in diesen wenigen Worten liegt mehr Gewicht und Kraft, als man gemeiniglich glaubt; es ist nämlich so, als wenn er uns von allen Lehren der Menschen wegführte, uns allein vor diesen Einen stellte und uns geböte, von ihm allein alle Lehre des Heils zu begehren, an ihm allein zu hängen, in ihm allein zu bleiben, kurzum – wie die Worte lauten – auf seine Stimme allein zu horchen! Und wahrlich, was sollte man noch von einem Menschen erwarten und begehren, wo sich uns doch das Wort des Lebens selber vertraut und gegenwärtig kundgegeben hat? Ja, aller Menschen Mund muß füglich geschlossen sein, nachdem einmal der geredet hat, in dem nach dem Willen des himmlischen Vaters „verborgen liegen“ sollen „alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol. 2,3), und zwar dergestalt geredet hat, wie es der Weisheit Gottes geziemte, die in keinem Stück fehlgeht, und dem Messias, von dem man die Offenbarung aller Dinge erhoffte (Joh. 4,25), das heißt so, daß er anderen nach sich selbst nichts mehr zu sagen übrigließ.
Simon W.

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IV,8,8

Daher soll es als unerschütterlicher Grundsatz gelten: für Gottes Wort, dem man in der Kirche Raum geben soll, darf nichts anderes gehalten werden, als was zunächst in Gesetz und Propheten und alsdann in den apostolischen Schriften verfaßt ist, und es gibt in der Kirche auch keine andere Art, rechtmäßig zu lehren, als nach der Vorschrift und Richtschnur dieses Wortes. Daraus schließen wir auch, daß den Aposteln nichts anderes zugestanden war, als was vordem die Propheten besessen hatten: sie sollten nämlich die überkommene Schrift auslegen und nachweisen, daß das, was darin gelehrt wird, in Christus seine Erfüllung gefunden hat; jedoch sollten sie dies allein vom Herrn her tun, das heißt: indem Christi Geist ihnen Weisung gab und ihnen die Worte gewissermaßen in den Mund legte. Denn das war das Gesetz, mit dem Christus selbst ihre Sendung bestimmte, indem er ihnen gebot, sie sollten hingehen und lehren – nicht, was sie sich selber zufällig erdacht hatten, sondern was er ihnen aufgetragen hatte (Matth. 28,19f.). Es hätte auch nichts deutlicher gesprochen werden können, als was er an anderer Stelle sagt: „Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister, Christus“ (Matth. 23,8). Damit dies dann noch tiefer in ihren Herzen haftete, so wiederholte er es an derselben Stelle noch zweimal (Matth. 23,9f.). Und weil sie in ihrer Unkundigkeit das, was sie aus dem Munde des Meisters gehört und gelernt hatten, nicht zu fassen vermochten, so verhieß er ihnen den „Geist der Wahrheit“, von dem sie zum wahren Begreifen aller Dinge geleitet werden sollten (Joh. 14,26; 16,13). Denn man muß gründlich auf die Begrenzung achten, die darin liegt, daß Christus dem Heiligen Geiste die Aufgabe zuerteilte, den Jüngern einzugeben, was er sie zuvor mit seinem Munde gelehrt hatte.



IV,8,9

Deshalb läßt Petrus, der doch von seinem Meister sehr wohl darüber belehrt war, wie weit seine Vollmacht ging, sich selber wie auch anderen nichts weiter übrig, als daß sie die Lehre austeilten, die ihnen von Gott gegeben war. „So jemand redet“, sagt er, „daß er’s rede als Gottes Wort“ (1. Petr. 4,11) – das heißt: nicht unter Zweifeln, wie ja Leute, die ein schlechtes Gewissen haben, zu zagen pflegen, sondern vielmehr mit hoher Zuversicht, wie sie einem Knechte Gottes geziemt, der mit festen Aufträgen versehen ist. Was heißt das aber anders, als alle Erfindungen des menschlichen Verstandes, aus welchem Haupte sie auch schließlich entsprungen sein mögen, fernzuhalten, damit Gottes reines Wort in der Kirche der Gläubigen gelehrt und gelernt werde? Was heißt es anders, als die Meinungen oder vielmehr die Erdichtungen aller Menschen, welchen Rang sie auch innehaben mögen, aus dem Wege zu räumen, damit Gottes Ratschlüsse allein in Geltung bleiben? Das sind jene geistlichen „Waffen“, die da „mächtig vor Gott“ sind, „zu zerstören Befestigungen“, jene Waffen, mit denen Gottes treue Knechte „zerstören … die Anschläge und alle Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes“, und mit denen sie „gefangennehmen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi“ (2. Kor. 10,4f.). Sieh da, das ist jene gewaltige Macht, mit der die Hirten der Kirche, was für einen Namen sie auch tragen mögen, ausgerüstet sein müssen, damit sie nämlich auf Grund des Wortes Gottes zuversichtlich alles wagen, seiner Majestät alle Kraft und Herrlichkeit, alle Weisheit und Hoheit dieser Welt zu weichen und Gehorsam zu leisten zwingen, damit sie ferner, auf seine Macht gestützt, allen Menschen, vom höchsten bis zum geringsten gebieten, Christi Haus bauen und das des Satans umstürzen, die Schafe weiden und die Wölfe überwältigen, die Gelehrigen unterweisen und ermahnen, die Widerspenstigen und Halsstarrigen aber strafen, schelten und unterwerfen, und damit sie binden und lösen und schließlich auch Wetterstrahl und Donnerschlag ausgehen lassen, wenn es nötig ist, aber alles mit dem Worte Gottes! Allerdings besteht, wie ich bereits sagte, zwischen den Aposteln und ihren Nachfolgern der Unterschied, daß jene sichere und beglaubigte Schreiber (amanuenses) des Heiligen Geistes waren und ihre Schriften deshalb als Offenbarungsworte Gottes zu gelten haben, diese dagegen keine andere Aufgabe haben als zu lehren, was in der Heiligen Schrift überliefert und versiegelt ist. Wir stellen also fest, daß es den treuen Dienern (der Kirche) nicht mehr freisteht, einen neuen Glaubenssatz zu schmieden, sondern daß sie einfach bei der Lehre bleiben müssen, der Gott alle ohne Ausnahme unterworfen hat. Wenn ich das sage, so will ich nicht allein zeigen, was einzelnen Menschen, sondern auch, was der gesamten Kirche erlaubt ist. Was die einzelnen Menschen betrifft, so war Paulus den Korinthern doch sicherlich vom Herrn als Apostel verordnet, und doch erklärt er, daß er über ihren Glauben nicht Herr sei (2. Kor. 1,24). Wer will es nun wagen, sich ein Herrenrecht anzumaßen, das dem Paulus nach seinem Zeugnis nicht zukam? Hätte Paulus jene willkürliche Freiheit im Lehren anerkannt, nach der ein Hirte (Pastor) von Rechts wegen verlangen könnte, daß ihm in allem, was er auch vorbrächte, fester Glaube beigemessen würde, so hätte er sicherlich den nämlichen Korinthern nicht die Ordnung gegeben, daß, wenn zwei oder drei Propheten redeten, die anderen (ihre Worte) beurteilen sollten, und daß, wenn einem, der dasäße, etwas offenbart wäre, der erste zu schweigen hätte (1. Kor. 14,29). Denn niemandem hat er solche Schonung gewährt, daß er seine Autorität etwa nicht dem Urteil des Wortes Gottes unterworfen hätte! Ja, wird vielleicht jemand sagen, aber mit der gesamten Kirche ist es doch anders bestellt. Ich antworte, daß Paulus an anderer Stelle auch diesem Zweifel entgegentritt, indem er sagt, der Glaube komme aus dem Hören, das Hören aber aus dem Worte Gottes (Röm. 10,17). Wenn der Glaube nämlich allein am Worte Gottes hängt, wenn er allein nach ihm schaut und auf ihm ruht – was für ein Raum bleibt dann für das Wort der ganzen Welt? Hier kann auch niemand zweifeln, der recht erkannt hat, was Glaube ist; denn dieser muß sich doch auf einen so festen Grund stützen, daß er dadurch gegen den Satan und alle Listen der Hölle und gegen die ganze Welt unüberwindlich und unerschrocken standhält. Diesen festen Grund aber werden wir einzig und allein in Gottes Wort finden. Zudem besteht noch eine allgemeine Ursache, auf die man hier achten muß: wenn Gott dem Menschen die Fähigkeit nimmt, ein neues Dogma vorzubringen, so geschieht das dazu, daß er allein in der geistlichen Unterweisung unser Meister sei, wie ja er allein auch der Wahrhaftige ist (Röm. 3,4), der nicht lügen noch trügen kann. Diese Ursache hat ihre Geltung nicht weniger für die ganze Kirche als für jeden einzelnen unter den Gläubigen.



IV,8,10

Wenn man nun aber die jetzt beschriebene Vollmacht der Kirche mit derjenigen vergleicht, deren sich schon einige Jahrhunderte lang die geistlichen Tyrannen, die sich „Bischöfe“ und „Vorsteher in der Religion“ nannten, im Volke Gottes gerühmt haben, dann werden diese beiden keineswegs besser zueinander stimmen als Christus und Belial. Ich habe hier nicht die Absicht auseinanderzusetzen, wie und auf wie empörende Weise sie ihre Tyrannei ausgeübt haben; nein, ich will nur ihre Lehre wiedergeben, die sie zunächst in ihren Schriften, dann aber auch heutzutage mit Feuer und Schwert verteidigen. Sie nehmen es zunächst als ausgemacht an, daß ein allgemeines Konzil die wahre Darstellung (d.h. Repräsentation) der Kirche sei. Nachdem sie diesen Grundsatz einmal angenommen haben, stellen sie dann gleichzeitig als über jeden Zweifel erhaben den Satz auf, dergleichen Konzilien würden unmittelbar durch den Heiligen Geist regiert und könnten deshalb nicht irren. Da sie nun aber selbst die Konzilien regieren, ja, sie (in ihre Gewalt) einsetzen, so machen sie auf das, was nach ihrer Behauptung den Konzilien zukommt, tatsächlich selber Anspruch. Sie wollen also, daß unser Glaube nach ihrem Gutdünken steht und fällt, so daß also alles, was sie nach der einen oder anderen Richtung festgesetzt haben, für unsere Herzen fest und endgültig beschlossen sein soll: wenn sie also etwas gutgeheißen haben, so soll das gleiche auch von uns ohne jegliches Bedenken gebilligt werden, und wenn sie etwas verdammt haben, so soll es auch für uns als verdammt gelten. Unterdessen schmieden sie nach ihrer Willkür und unter Verachtung des Wortes Gottes Glaubenssätze zusammen und erheben dann die Forderung, man solle diesen auf Grund der obigen Ursache Glauben beimessen. Denn es sei, so behaupten sie, nur der ein Christ, der alle ihre Glaubenssätze, die behauptenden wie die verneinenden, mit Gewißheit annähme, und zwar wenn nicht mit „entwickeltem“, so doch mit „unentwickeltem“ Glauben – denn es liege eben bei der Kirche, neue Glaubensartikel zu machen.



IV,8,11

Wir wollen nun zunächst hören, mit welchen Beweisgründen sie es bekräftigen, daß der Kirche eine solche Autorität gegeben sei; dann wollen wir zusehen, wieviel ihnen das, was sie bezüglich der Kirche anführen, helfen kann. Die Kirche, so sagen sie, besitzt herrliche Verheißungen, daß sie von Christus, ihrem Bräutigam, niemals verlassen werden, sondern von seinem Geiste „in alle Wahrheit geleitet“ werden wird (vgl. Joh. 16,13). Aber nun sind von den Verheißungen, die sie anzuführen pflegen, viele ebensowohl jedem einzelnen Gläubigen wie der gesamten Kirche gegeben. Denn wenn der Herr sprach: „Siehe, ich bin bei euch … bis an der Welt Ende“ (Matth. 28,20), oder ebenso: „Ich will den Vater bitten, und er soll euch einen anderen Tröster geben …, den Geist der Wahrheit“ (Joh. 14,16f.), so richtete er diese Worte zwar an die zwölf Apostel, aber er gab diese Verheißung nicht nur der Zwölfzahl, sondern auch jedem einzelnen von ihnen insonderheit, ja, in gleicher Weise auch anderen Jüngern, die er bereits angenommen hatte oder die später noch hinzukommen sollten. Wenn die Römischen also derartige Verheißungen, die so voll herrlichen Trostes sind, dergestalt auslegen, als ob sie keinem unter den Christenmenschen (für sich allein) gegeben wären, sondern der gesamten Kirche insgemein – was tun sie dann anders, als daß sie allen Christen die Zuversicht nehmen, die aus diesen Verheißungen zu ihrer Ermutigung hätte kommen sollen? Ich bestreite nun hier nicht, daß die ganze Gemeinschaft der Gläubigen, die doch mit einer vielfachen Mannigfaltigkeit von Gaben ausgerüstet ist, einen viel reicheren und völligeren Schatz himmlischer Weisheit zum Geschenk erhalten hat als jeder einzelne für sich allein; auch bin ich nicht der Meinung, daß jene Zusage allen Gläubigen miteinander in dem Sinne gegeben sei, als ob sie alle gleichermaßen mit jenem Geist des Verstehens und der Unterweisung begabt wären; nein, ich sage das nur, weil man den Widersachern Christi nicht erlauben darf, daß sie die Schrift zur Verteidigung einer bösen Sache in einem ihr fremden Sinn verdrehen. Aber ich lasse das beiseite und bekenne schlicht, wie es sich auch tatsächlich verhält, daß der Herr immerfort den Seinen gegenwärtig ist und sie mit seinem Geist regiert. Dieser ist nun, so bekenne ich weiter, nicht ein Geist des Irrtums, der Unwissenheit, der Lüge oder der Finsternis, sondern ein Geist gewisser Offenbarung, ein Geist der Weisheit, der Wahrheit und des Lichtes, von dem die Gläubigen ohne Trug lernen, was ihnen geschenkt ist (1. Kor. 2,12), das heißt: „welche da sei die Hoffnung ihrer Berufung, und welcher sei der Reichtum seines herrlichen Erbes bei seinen Heiligen“ (Eph. 1,18). Aber da die Gläubigen in diesem Fleische bloß die „Erstlinge“ und einen gewissen Geschmack dieses Geistes empfangen – auch die, welche vor anderen mit hervorragenderen Gnadengaben beschenkt sind -, so bleibt ihnen nichts Besseres übrig, als daß sie sich, ihrer Schwachheit wohl bewußt, sorglich innerhalb der Grenzen des Wortes Gottes halten, damit sie nicht, wenn sie nach ihrem eigenen Sinn allzu weit ausschweifen, alsbald vom rechten Wege abirren, sofern sie nämlich jenes Geistes, durch dessen Unterweisung allein Wahrheit und Lüge unterschieden werden, noch ledig sind. Denn alle bekennen mit Paulus, daß sie das Endziel noch nicht erreicht haben (Phil. 3,12). Und deshalb streben sie mehr nach dem täglichen Fortschreiten, als daß sie sich etwa der Vollkommenheit rühmten!
Simon W.

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IV,8,12

Unsere Widersacher werden jedoch den Einwand machen, es komme doch das, was stückweise jedem einzelnen unter den Heiligen zugesprochen wird, gänzlich und vollkommen der Kirche selber zu. Obwohl dies nun einigermaßen den Schein der Wahrheit hat, so behaupte ich doch, daß es nicht wahr ist. Zwar hat Gott die Gaben seines Geistes an jedes einzelne Glied „nach dem Maß“ (Eph. 4,7) dergestalt ausgeteilt, daß, wofern die Gaben selbst dem allgemeinen Nutzen zugewandt werden, dem gesamten Leibe nichts Notwendiges abgeht. Aber die Reichtümer der Kirche sind allezeit von der Art, daß noch sehr viel zu jener höchsten Vollkommenheit fehlt, die unsere Widersacher rühmen. Und doch hat die Kirche deswegen in keinem Stück solchen Mangel, daß sie etwa nicht allezeit soviel hätte, wie notwendig ist; denn der Herr weiß, was ihre Notdurft erfordert. Aber um sie in der Demut und in frommer Bescheidenheit zu halten, reicht er ihr nicht mehr dar, als ihr, wie er weiß, nützlich ist. Ich weiß, was sie auch hier gewöhnlich für einen Einwand machen: sie sagen nämlich, die Kirche sei doch „gereinigt durch das Wasserbad im Wort“ des Lebens, auf daß sie „nicht habe einen Flecken oder Runzel“ (Eph. 5,26f.), und deshalb werde sie an anderer Stelle „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“ genannt (1. Tim. 3,15). Aber an der ersteren Stelle wird mehr dargelegt, was Christus Tag für Tag an seiner Kirche wirkt, als was er bereits vollendet hat. Denn wenn er all die Seinen von Tag zu Tag heiligt, reinigt, glättet und von ihren Flecken säubert, so steht jedenfalls fest, daß sie noch mit allerlei Flecken und Runzeln bedeckt sind und daß an ihrer Heiligung noch manches fehlt. Wie töricht und unglaubwürdig ist es dann aber, die Kirche bereits durch und durch und in jeder Hinsicht für heilig und unbefleckt zu halten, wo doch alle ihre Glieder noch befleckt und einigermaßen unrein sind! Es ist also wahr, daß die Kirche durch Christus geheiligt ist; aber hier tritt bloß der Anfang dieser Heiligung in die Erscheinung, ihr Ende dagegen und ihre vollkommene Erfüllung wird dann vorhanden sein, wenn sie Christus, der Heilige der Heiligen, wahrhaft und vollkommen mit seiner Heiligkeit erfüllen wird. Wahr ist auch, daß ihre Flecken und Runzeln getilgt sind, aber doch so, daß sie noch Tag für Tag getilgt werden, bis Christus durch sein Kommen alles gänzlich wegnimmt, was noch übrig ist. Denn wenn wir das nicht annehmen, so müssen wir notwendig mit den Pelagianern behaupten, die Gerechtigkeit der Gläubigen sei schon in diesem Leben vollkommen, oder wir müssen mit den Katharern und Donatisten dazu kommen, keinerlei Schwachheit in der Kirche zu ertragen. Die andere Stelle (1. Tim. 3,15) hat, wie wir anderwärts gesehen haben (vgl. Kap. 2, Sektion 1), einen völlig anderen Sinn, als sie ihr geben wollen. Paulus hat da nämlich zuvor den Timotheus belehrt und zum rechten Amt eines Bischofs unterwiesen, und jetzt (1. Tim. 3,14f.) sagt er, er habe das zu dem Zweck getan, daß Timotheus nun wüßte, wie er in der Kirche „wandeln“ sollte. Und damit sich nun Timotheus mit um so größerer Ehrfurcht und um so größerem Eifer dafür einsetzt, fügt Paulus hinzu, die Kirche selbst sei „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“. Was sollen nun aber diese Worte anders bedeuten, als daß in der Kirche die Wahrheit Gottes gewahrt wird, nämlich durch das Predigtamt? So lehrt er auch an anderer Stelle, Christus habe Apostel, Hirten und Lehrer gegeben, damit wir uns nicht mehr von jeglichem „Wind der Lehre“ umtreiben oder von den Menschen zu Narren halten lassen, sondern vielmehr, von der wahren Erkenntnis des Sohnes Gottes erleuchtet, alle miteinander zur Einheit des Glaubens herzueilen (Eph. 4,1-11). Daß also die Wahrheit in der Welt nicht ausgelöscht wird, sondern unversehrt erhalten bleibt, das kommt daher, daß sie zu ihrer getreuen Hüterin die Kirche hat, durch deren Arbeit und Dienst sie getragen wird. Wenn aber diese Wacht im prophetischen und apostolischen Amte gelegen ist, dann ergibt sich, daß sie voll und ganz davon abhängt, ob das Wort des Herrn treu bewahrt wird und seine Reinheit behält.



IV,8,13

Damit nun die Leser besser begreifen, um welchen Angelpunkt sich diese Frage vor allem dreht, so will ich mit wenigen Worten auseinandersetzen, was unsere Widersacher verlangen und in was wir uns ihnen widersetzen. Wenn sie behaupten, die Kirche könne nicht irren, so geht das auf folgendes hinaus, und sie legen es folgendermaßen aus: da die Kirche durch den Geist Gottes geleitet wird, so kann sie mit Sicherheit ohne das Wort ihren Weg gehen; wohin sie auch gehen mag, so kann sie nichts denken oder reden als die Wahrheit; wenn sie also außerhalb des Wortes Gottes oder über dasselbe hinaus etwas festsetzt, so ist das für nichts anderes anzusehen als für einen untrüglichen Offenbarungsspruch Gottes. Wenn wir ihnen nun jenen ersten Satz zugeben, nämlich daß die Kirche in solchen Dingen, die zum Heil notwendig sind, nicht irren kann, so ist unsere Meinung die, daß dies darum gilt, weil sie aller eigenen Weisheit den Abschied gibt und sich vom Heiligen Geist durch das Wort Gottes unterweisen läßt. Der Unterschied besteht also in folgendem: unsere Widersacher stellen die Autorität der Kirche außerhalb des Wortes Gottes, wir dagegen wollen, daß sie an das Wort gebunden sei, und wir dulden es nicht, daß sie von ihm getrennt wird. Was soll auch Verwunderliches daran sein, wenn die Braut und Schülerin Christi ihrem Bräutigam und Meister unterstellt wird, um beständig und fleißig an seinem Munde zu hängen? Denn in einem wohleingerichteten Hause ist es so bestellt, daß die Frau dem Gebot ihres Mannes gehorcht, und in einer wohlgeordneten Schule herrscht die Regel, daß darin allein die Unterweisung des Meisters gehört werde. Darum soll die Kirche nicht aus sich selbst heraus weise sein, nicht aus sich heraus etwas denken, sondern sie soll ihrer Weisheit eine Grenze setzen, wo er seinem Reden ein Ende gesetzt hat. Auf diese Weise wird sie auch allen Fündlein ihrer eigenen Vernunft mit Mißtrauen begegnen, in den Dingen aber, in denen sie sich auf Gottes Wort stützt, wird sie sich von keinem Mangel an Vertrauen und keinem Zagen ins Wanken bringen lassen, sondern sie wird sich mit großer Gewißheit und fester Beständigkeit darauf verlassen. So wird sie auch auf die Größe der Verheißungen, die sie besitzt, vertrauen und sie wird darin Anlaß finden, um ihren Glauben herrlich zu erhalten, so daß sie nicht im geringsten zweifelt, daß ihr der Heilige Geist, der beste Führer auf dem rechten Wege, allezeit zur Seite stehen wird. Aber sie wird zugleich im Gedächtnis behalten, welchen Nutzen wir nach Gottes Willen von seinem Geiste empfangen sollen. „Der Geist“, spricht der Herr, „den ich vom Vater senden werde, der soll euch in alle Wahrheit leiten“ (Joh. 16,7.13; Anfang ungenau). Aber wie wird er das machen? „Denn er wird euch“, so sagt er, „erinnern alles des, das ich euch gesagt habe“ (Joh. 14,26). Er tut uns also kund, daß wir von seinem Geiste nichts mehr erwarten sollen, als daß er unseren Verstand erleuchte, damit wir die Wahrheit seiner Lehre erfassen. Es ist daher sehr trefflich geredet, wenn Chrysostomus sagt: „Viele rühmen sich des Heiligen Geistes, aber die ihre eigenen Dinge reden, die berufen sich fälschlich auf ihn. Wie Christus nach seinem Zeugnis nicht aus sich selbst heraus redete, weil er eben aus dem Gesetz und aus den Propheten heraus redete, so sollen wir auch nicht glauben, wenn man uns etwas außerhalb des Evangeliums unter Berufung auf den Geist aufdrängen will. Denn wie Christus die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten ist, so ist der Geist die Erfüllung des Evangeliums“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt über den Heiligen Geist,10; vgl. Joh. 12,49f.; 14,10; Röm. 10,4). Soweit Chrysostomus. Jetzt läßt sich ohne weiteres entnehmen, wie verkehrt unsere Widersacher handeln, die sich des Heiligen Geistes allein zu dem Zweck rühmen, um unter seinem Namen solche Lehren anzupreisen, die dem Worte Gottes fremd sind und außer ihm stehen, während der Heilige Geist doch selber ein unzertrennliches Band mit dem Worte Gottes verbunden sein will und Christus dies von ihm bezeugt, als er ihn seiner Kirche verheißt. Ja, so verhält es sich. Die maßvolle Nüchternheit, die der Herr seiner Kirche einmal zur Vorschrift gemacht hat, will er auch fort und fort gewahrt wissen. Er hat aber verboten, daß sie seinem Wort etwas zufügt oder etwas von ihm wegnimmt. Das ist Gottes und des Heiligen Geistes unverletzlicher Beschluß – und den versuchen unsere Widersacher umzustoßen, indem sie so tun, als ob die Kirche ohne das Wort vom Heiligen Geiste regiert würde.



IV,8,14

Hier erheben sie nun abermals murrenden Einspruch: die Kirche habe den Schriften der Apostel manches hinzufügen müssen oder die Apostel selbst seien genötigt gewesen, hernach mündlich zu vervollständigen, was sie (in schriftlicher Form) weniger deutlich überliefert hätten; denn Christus habe doch zu ihnen gesagt: „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnet es jetzt nicht tragen“ (Joh. 16,12); eben dies aber seien die Lehrsatzungen, die ohne die Heilige Schrift, allein durch den Gebrauch und die Gewöhnung zur Annahme gekommen seien. Aber was ist das nun für eine Unverschämtheit! Ich gebe allerdings zu: als die Jünger jenes Wort zu hören bekamen, da waren sie noch unkundig und fast ungelehrig. Aber waren sie auch noch zu der Zeit, als sie ihre Lehre schriftlich niederlegten, mit solcher Schwerfälligkeit behaftet, daß sie es hernach notwendig hatten, mündlich zu vervollständigen, was sie in ihren Schriften aus Unwissenheit ausgelassen hatten? Wenn sie aber bereits von dem Geiste der Wahrheit geleitet waren, als sie ihre Schriften ausgaben – was stand dann im Wege, daß sie etwa nicht eine vollkommene Erkenntnis der Lehre des Evangeliums in jenen Schriften zusammengefaßt und dann versiegelt hinterlassen hätten? Aber wohlan, wir wollen ihnen zugeben, was sie begehren – sie sollen nur die Dinge aufweisen, die ohne schriftliche Niederlegung offenbart werden mußten! Wenn sie nun das zu unternehmen wagen, dann will ich ihnen mit den Worten Augustins begegnen, der da sagt: „Wo der Herr geschwiegen hat – wer von uns will da sagen: das oder das ist es? Oder wenn er es wagt, das zu sagen – woher will er es beweisen?“ (Predigten zum Johannesevangelium 96,2). Aber was streite ich hier um eine überflüssige Sache? Denn es weiß doch selbst ein Kind, daß uns in den apostolischen Schriften, die jene Leute gewissermaßen verstümmelt und halbiert sein lassen wollen, die Frucht jener Offenbarung entgegentritt, die der Herr damals (Joh. 16,12) seinen Jüngern verheißen hat.



IV,8,15

Wieso, sagen sie – hat denn Christus nicht alles, was die Kirche lehrt und entscheidet, jeder Erörterung entzogen, indem er die Weisung gibt, man solle den, der (ihr) zu widersprechen wagte, für einen „Heiden und Zöllner“ halten (Matth. 18,17)? Zunächst: an dieser Stelle ist keine Rede von der Lehre, sondern es empfängt nur die (kirchliche) Zuchtübung die Sicherung ihrer Autorität zwecks Bestrafung von Vergehen, und das geschieht, damit die, die ermahnt oder getadelt worden sind, sich nicht etwa ihrem Urteil widersetzen. Aber lassen wir das beiseite – es ist doch sehr verwunderlich, daß diese Schwätzer so gar keine Scham haben, so daß sie sich nicht scheuen, selbst diese Stelle zu ihrem Übermut zu benutzen. Denn was können sie damit schließlich beweisen, als daß man die einhellige Überzeugung der Kirche nicht verachten soll, der Kirche, die doch allein auf die Wahrheit des Wortes Gottes hin zusammenstimmt? Man muß die Kirche hören, so sagen sie. Wer leugnet das denn? Denn die Kirche tut keinen Ausspruch als allein aus des Herrn Wort heraus! Verlangen unsere Widersacher irgend etwas mehr, dann müssen sie wissen, daß ihnen diese Worte Christi dabei keinen Beistand tun. Ich darf auch nicht streitsüchtig scheinen, weil ich mit solcher Schärfe darauf bestehe, daß es der Kirche nicht erlaubt ist, irgendeine neue Lehre zu begründen, das heißt: mehr zu lehren und als Offenbarungswort zu überliefern, als was der Herr in seinem Wort geoffenbart hat. Denn verständige Menschen sehen wohl, was für eine große Gefahr entsteht, wenn man den Menschen einmal soviel Recht zugestanden hat. Sie sehen auch, was für ein großes Fenster dem Gespött und den Sticheleien der Gottlosen aufgetan wird, wenn wir behaupten, es sei das, was Menschen für richtig gehalten haben, unter den Christen für ein Offenbarungswort zu halten. Zudem muß man beachten, daß Christus, nach dem Brauch seiner Zeit redend, (an der obigen Stelle, Matth. 18,17) diesen Namen („Kirche“ oder „Gemeinde“) dem (damaligen, örtlichen) Synedrium beilegt, damit seine Jünger es lernten, hernach die heiligen Zusammenkünfte der Kirche zu ehren. So würde es denn (wenn die Widersacher mit ihrer Beziehung dieser Stelle auf die Lehre recht hätten) dazu kommen, daß jede Stadt und jedes Dorf die gleiche Freiheit hätte, Lehrsatzungen aufzustellen!
Simon W.

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IV,8,16

Die Beispiele, die unsere Widersacher gebrauchen, helfen ihnen nichts. So sagen sie, die Kindertaufe sei nicht so sehr aus einer offenen Weisung der Schrift als aus einem Beschluß der Kirche hervorgegangen. Aber es wäre eine höchst jämmerliche Zuflucht, wenn wir genötigt würden, uns zur Verteidigung der Kindertaufe auf die bloße Autorität der Kirche zurückzuziehen; es wird jedoch an anderer Stelle genugsam deutlich werden, daß es sich weit anders verhält (vgl. Kap. 16). Ebenso steht es mit ihrem Einwand: was man in der Synode von Nicäa ausgesprochen habe, nämlich daß der Sohn gleichen Wesens mit dem Vater ist, das stehe nirgendwo in der Schrift. Damit sprechen sie gegen die Väter eine schwere Beleidigung aus, als ob sie den Arius ohne Grund verdammt hätten, weil er nicht auf ihre Worte hätte schwören wollen, während er doch die ganze Lehre bekannt hätte, die in den prophetischen und apostolischen Schriften beschlossen ist. Ich gebe zwar zu, daß sich dieser Ausdruck („gleichen Wesens mit dem Vater“) in der Schrift nicht findet. Aber es wird doch so oft in der Schrift ausgesprochen, daß ein Gott ist, und wiederum wird Christus so oft wahrer und ewiger Gott genannt, eins mit dem Vater; wenn nun die Väter von Nicäa erklären, Christus sei eines Wesens mit dem Vater, was tun sie dann anders, als daß sie den ursprünglichen Sinn der Schrift schlicht auslegen? Und dazu berichtet Theodoret, daß Konstantin in ihrer Versammlung folgende Vorrede gehalten habe: „In Erörterungen über göttliche Dinge hat man die Lehre des Heiligen Geistes als bindende Vorschrift; die evangelischen und apostolischen Bücher samt den Offenbarungsworten der Propheten zeigen uns völlig klar den Sinn der Gottheit. Deshalb wollen wir die Zwietracht ablegen und aus den Worten des Geistes die Klärung unserer Fragen entnehmen“ (Theodoret Kirchengeschichte I,7). Es war damals niemand da, der sich diesen heiligen Ermahnungen widersetzt hätte. Niemand machte den Einwand, die Kirche könne aus dem Ihrigen heraus etwas zufügen, der Heilige Geist habe den Aposteln nicht alles geoffenbart oder wenigstens nicht alles auf ihre Nachfolger kommen lassen, oder sonst dergleichen. Wenn das wahr ist, was unsere Widersacher wollen, dann hat erstens Konstantin verkehrt gehandelt, daß er die Kirche ihrer Macht beraubt hat, zweitens war, da sich damals keiner von den Bischöfen erhob, um die Macht der Kirche dagegen zu verteidigen, dieses Stillschweigen ein Zeichen von Treulosigkeit, und so waren also die Bischöfe Verräter des kirchlichen Rechtes! Da aber Theodoret berichtet, daß sie das, was der Kaiser sagte, gern angenommen haben, so steht fest, daß dieses neue Dogma damals ganz und gar unbekannt gewesen ist.



Neuntes Kapitel: Von den Konzilien und ihrer Autorität



IV,9,1

Selbst wenn ich nun den Römischen bezüglich der Kirche alles zugäbe, so hätten sie auch damit für ihren Zweck noch nicht viel erreicht. Denn alles, was man von der Kirche sagt, das übertragen sie alsbald auf die Konzilien, die nach ihrer Meinung die Kirchen vergegenwärtigen (repraesentare). Ja, daß sie so hartnäckig um die Vollmacht der Kirche streiten, das tun sie aus keiner anderen Absicht, als um alles und jedes, was sie dabei errungen haben, dem römischen Papst und seinem Trabantenschwarm zu eigen zu geben. Bevor ich aber diese Frage zu erörtern beginne, muß ich einleitend zweierlei kurz aussprechen.

(1) Wenn ich hier recht scharf sein werde, so geschieht das nicht etwa, weil ich die alten Konzilien geringer einschätze, als es sich gebührt. Denn ich verehre sie von Herzen, und ich wünsche, daß sie bei allen Menschen die ihnen zukommende Ehre empfangen. Aber es besteht hier ein Maß, nämlich dies, daß Christus nichts benommen werden darf. Christi Recht ist nun aber dies, daß er in allen Konzilien die Leitung und in solcher Würde keinen Menschen zum Mitgenossen habe. Er hat aber, so behaupte ich, nur dann die Leitung, wenn er die ganze Versammlung mit seinem Wort und seinem Geist regiert.

(2) Und dann: daß ich den Konzilien weniger Rechte zuerkenne, als unsere Widersacher verlangen, das tue ich nicht aus dem Grunde, daß ich etwa vor den Konzilien Angst hätte, als ob sie der Sache unserer Widersacher Beistand gewährten, der unseren aber entgegenstünden. Denn wie wir zum vollen Beweis für unsere Lehre und zum Umsturz des ganzen Papsttums mehr als genug mit dem Worte des Herrn ausgerüstet sind, so daß es nicht besonders darauf ankommt, darüber hinaus etwas zu suchen, so geben uns doch, wenn es die Sache erfordert, die alten Konzilien weitgehend Stoff an die Hand, der zu beidem genug ist.



IV,9,2

Nun wollen wir über die Sache selbst reden. Wenn man aus der Schrift erfahren will, welche Autorität die Konzilien besitzen, so gibt es keine herrlichere Verheißung, als sie uns in dem Wort Christi begegnet: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20). Freilich, das bezieht sich ebensosehr auf irgendeine besondere (d.h. örtliche) Versammlung als auf ein allgemeines Konzil. Doch liegt der Knoten der Frage nicht darin, sondern vielmehr in der zugefügten Bedingung, nach der Christus nur dann inmitten des Konzils sein wird, wenn es in seinem Namen versammelt ist. Wenn sich also unsere Widersacher auch tausendmal auf ihre Bischofskonzilien berufen, so werden sie damit wenig vorankommen, und sie werden es erst dann zuwege bringen, daß wir ihnen glauben, was sie behaupten, nämlich daß diese Konzilien vom Heiligen Geist regiert würden, – wenn sie uns bewiesen haben, daß diese auch in Christi Namen versammelt werden. Denn es kann ebensogut sein, daß sich gottlose und böse Bischöfe gegen Christus zusammenrotten, wie daß sich gute und rechtschaffene in seinem Namen versammeln. Dafür dienen uns sehr viele Beschlüsse, die von solchen Konzilien ausgegangen sind, zum klaren Beweis. Aber das werden wir später noch sehen. Jetzt gebe ich nur mit einem einzigen Wort die Antwort, daß Christus nur denen etwas verheißt, die sich in seinem Namen versammeln. Wir wollen also feststellen, was das heißt. Ich bestreite, daß sich die in Christi Namen versammeln, die Gottes Gebot verwerfen, in dem er untersagt, daß man zu seinem Worte irgend etwas zufüge oder etwas davontue (Deut. 4,2; Apk. 22,18f.), die dann nach ihrem eigenen Gutdünken das eine oder andere festsetzen, die sich mit den Offenbarungsworten der Schrift, das heißt mit der einigen Richtschnur vollkommener Weisheit, nicht zufriedengeben und sich aus ihrem eigenen Kopf heraus irgend etwas Neues ersinnen. Da Christus nicht verheißen hat, bei allen möglichen Konzilien gegenwärtig zu sein, sondern vielmehr ein besonderes Kennzeichen zugefügt hat, um die wahren und rechtmäßigen Konzilien von den anderen zu unterscheiden, so gebührt es sich jedenfalls, daß wir diese Unterscheidung durchaus nicht vernachlässigen. Der Bund, den Gott vorzeiten mit den levitischen Priestern geschlossen hat, bestand doch darin, daß sie ihre Unterweisung aus seinem Munde heraus geben sollten (Mal. 2,7). Eben dies hat er allezeit von den Propheten verlangt, und wir sehen, daß dieses Gesetz auch den Aposteln auferlegt worden ist. Die diesen Bund verletzen, die würdigt Gott weder der Ehre des Priesteramtes noch irgendwelcher Autorität. Diesen Knoten sollen mir die Widersacher auflösen, wenn sie meinen Glauben an Menschenmeinungen knechten wollen, die außerhalb des Wortes Gottes stehen!



IV,9,3

Wenn nämlich unsere Widersacher der Meinung sind, die Wahrheit könne nicht in der Kirche verbleiben, wofern sie nicht unter den Hirten ihren festen Bestand hätte, und die Kirche selbst könne nicht bestehen, wenn sie nicht in allgemeinen Konzilien ans Licht träte, so ist das bei weitem nicht allezeit wahr gewesen, wenn anders uns die Propheten wahrheitsgemäße Zeugnisse über ihre Zeiten hinterlassen haben. Zur Zeit des Jesaja war in Jerusalem noch Kirche, die Gott noch nicht verlassen hatte. Trotzdem redet er über die Hirten wie folgt: „Alle ihre Wächter sind blind, sie wissen alle nichts; stumme Hunde sind sie, die nicht bellen können, sind faul, liegen und schlafen gerne … Sie, die Hirten, wissen noch verstehen nichts; ein jeglicher sieht auf seinen Weg …” (Jes. 56,10f.; nicht ganz Luthertext). In derselben Weise sagt Hosea: „Der Wächter Israels mit Gott, er ist der Strick eines Vogelstellers und ein Greuel im Hause Gottes“ (Hos. 9,8; nicht Luthertext). Hier vergleicht der Prophet die „Wächter“ ironisch mit Gott und lehrt dadurch, daß ihr Vorwand, Priester zu sein, eitel ist. Auch bis in die Zeit des Jeremia hinein währte die Kirche. Hören wir, was er von den Hirten sagt: „Beide, Propheten und Priester gehen allesamt mit Lügen um“ (Jer. 6,13). Ebenso: „Die Propheten weissagen Lüge in meinem Namen; ich habe sie nicht gesandt und ihnen nichts befohlen“ (Jer. 14,14; nicht ganz Luthertext). Und damit wir uns mit der Aufzählung seiner Worte nicht gar zu sehr ins Weite verlieren, lese man doch, was er im ganzen dreiundzwanzigsten und vierzigsten Kapitel geschrieben hat. Zur gleichen Zeit fuhr Ezechiel von der anderen Seite keineswegs milder gegen die nämlichen Leute los. „Die Propheten“, sagt er, „so darin sind, haben sich gerottet, … wie ein brüllender Löwe, wenn er raubt … Ihre Priester verkehren mein Gesetz freventlich und entheiligen mein Heiligtum; sie halten unter dem Heiligen und Unheiligen keinen Unterschied …“ (Ez. 22,25f.). Dazu kommt dann das Weitere, das er in dem gleichen Sinne folgen läßt. Ähnliche Klagen begegnen uns bei den Propheten immer wieder, so daß uns da nichts häufiger entgegentritt.
Simon W.

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IV,9,4

Aber – so könnte jemand sagen – das mag wohl unter den Juden gegolten haben, unsere Zeit aber ist doch von solch einem großen Übel frei. Ja, wollte Gott, es wäre so! Der Heilige Geist aber hat angekündigt, daß es anders sein soll. Denn die Worte des Petrus sind klar; „wie in dem alten Volke falsche Propheten gewesen sind“, sagt er, „so werden auch unter euch falsche Lehrer sein, die verderbliche Sekten neben einführen“ (2. Petr. 2,1). Sieht man, wie nach seiner Predigt die Gefahr nicht von den gewöhnlichen Leuten droht, sondern von solchen, die sich des Titels von Lehrern und Hirten rühmen werden? Sieht man außerdem, wie oft Christus und seine Apostel vorausgesagt haben, daß der Kirche die höchsten Gefahren von seiten ihrer Hirten drohten (Matth. 24,11.24)? Ja, Paulus zeigt offen, daß der Antichrist seinen Sitz nirgendwo anders als im Tempel Gottes haben wird (2. Thess. 2,4)! Damit gibt er zu erkennen, daß jene entsetzliche Not, von der er an dieser Stelle redet, nirgendwo anders herkommen wird als von solchen, die als Hirten in der Kirche ihren Sitz haben werden. Und an anderer Stelle weist er nach, daß der Beginn dieses großen Übels bereits (zu seiner Zeit) nahe bevorsteht. Denn in seiner Ansprache an die Bischöfe von Ephesus sagt er: „Das weiß ich, daß nach meinem Abschied werden unter euch kommen greuliche Wölfe, die der Herde nicht verschonen werden. Auch aus euch selbst werden aufstehen Männer, die da verkehrte Lehren reden, die Jünger an sich zu ziehen“ (Apg. 20,29f.). Wieviel Verderbnis konnte unter den Hirten die lange Reihe der Jahre mit sich bringen, wenn sie bereits in einem so geringen Zeitraum dermaßen entarten konnten! Und um nicht viele Blätter mit Aufzählungen vollzuschreiben – wir werden durch Beispiele aus fast allen Jahrhunderten daran gemahnt, daß die Wahrheit nicht allezeit im Busen der Hirten genährt wird und daß der unversehrte Bestand der Kirche auch nicht von dem Zustande der Hirten abhängig ist. Sie sollten zwar die Verteidiger und Hüter des kirchlichen Friedens und Heiles sein, zu deren Wahrung sie ja bestimmt sind – aber Leisten, was man soll, und Sollen, was man nicht leistet, das sind zweierlei Dinge!



IV,9,5

Jedoch soll niemand diese unsere Worte in dem Sinne verstehen, als ob ich die Autorität der Hirten ohne Ausnahme, ohne Überlegung und ohne jeglichen Unterschied ins Wanken bringen wollte. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß man zwischen ihnen einen Unterschied zur Geltung bringen muß, und zwar, damit wir die, die da Hirten heißen, nicht auch gleich für solche halten! Wenn nun der Papst samt der ganzen Herde der Bischöfe Gottes Wort von sich schütteln und nach ihrer Willkür alles umstürzen und verkehren, so handeln sie aus keiner anderen Ursache heraus, als eben weil sie als Hirten bezeichnet werden; unterdessen aber bemühen sie sich noch, uns zu überzeugen, daß sie des Lichtes der Wahrheit nicht verlustig gehen könnten, daß der Geist Gottes unablässig unter ihnen wohne und daß die Kirche in ihnen ihren Bestand habe und mit ihnen sterbe! Als ob der Herr keine Gerichte mehr hätte, um heutzutage mit der gleichen Art von Strafe gegen die Welt vorzugehen, mit der er einst die Undankbarkeit des alten Volkes gerächt hat, nämlich die Hirten mit Blindheit und Verstumpfung zu schlagen (Sach. 11,17)! Auch begreifen diese Menschen in ihrer furchtbaren Torheit nicht, daß sie das gleiche Liedlein singen, das einst die im Munde geführt haben, die mit dem Worte Gottes Krieg führten. Denn als sich die Feinde Jeremias gegen die Wahrheit rüsteten, da taten sie es mit den Worten: „Kommt, lasset uns wider Jeremia ratschlagen; denn dem Priester kann das Gesetz nicht entfallen noch der Rat dem Weisen, noch das Wort dem Propheten“ (Jer. 18,18; nicht Luthertext).



IV,9,6

Von hier aus läßt sich auch auf den anderen Punkt, der die allgemeinen Konzilien betrifft, leicht eine Antwort geben. Daß die Juden unter den Propheten wahre Kirche gehabt haben, das läßt sich nicht leugnen. Was für eine Gestalt der Kirche aber wäre in die Erscheinung getreten, wenn man damals aus den Priestern ein allgemeines Konzil versammelt hätte? Wir hören doch, was Gott nicht einem oder zweien von ihnen, sondern dem gesamten Stande ansagt. So: „Die Priester werden bestürzt und die Propheten erschrocken sein“ (Jer. 4,9). Oder ebenso: „Es wird weder Gesetz bei den Priestern noch Rat bei den Alten mehr sein“ (Ez. 7,26). Oder endlich: „Darum soll euer Gesicht zur Nacht und euer Wahrsagen zur Finsternis werden. Die Sonne soll über den Propheten untergehen und der Tag über ihnen finster werden“ (Micha 3,6). Nun, was für ein Geist hätte wohl in ihrer Versammlung die Leitung gehabt, wenn sie zu jener Zeit alle an einem Ort zusammengekommen wären? Dafür haben wir ein ausgezeichnetes Beispiel an jenem Konzil, das Ahab (1. Kön. 22) zusammenberief. Da waren vierhundert Propheten zugegen. Aber weil sie mit keinem anderen Willen zusammengekommen waren als allein, um dem gottlosen König zu schmeicheln, so wurde von dem Herrn der Satan ausgesandt, damit er ein Geist der Lüge sei in ihrer aller Munde (1. Kön. 22,22). Da wurde denn die Wahrheit mit den Stimmen aller verdammt, und Micha wurde als Ketzer verurteilt, geschlagen und in das Gefängnis geworfen. Ebenso ist es dem Jeremia widerfahren, ebenso auch anderen Propheten.



IV,9,7

Aber ein Beispiel, das denkwürdiger ist als die anderen, mag statt aller anderen genug sein. Was sollte man an dem Konzil, das die Hohenpriester und Pharisäer in Jerusalem gegen Christus zusammenberiefen (Joh. 11,47), noch zu wünschen übrig finden – wenigstens was die äußere Erscheinung anbetrifft? Denn wenn damals in Jerusalem keine Kirche gewesen wäre, so hätte Christus nie und nimmer an den Opfern und anderen Zeremonien teilgenommen. Es fand eine feierliche Einberufung statt, der Hohepriester hatte die Leitung, der gesamte Priesterstand saß dabei – und doch wurde Christus da verurteilt und seine Lehre aus dem Wege geräumt! Diese Tatsache ist ein Beweis dafür, daß die Kirche keineswegs in dieses Konzil eingeschlossen gewesen ist. Aber, so könnte jemand einwenden, es besteht doch keine Gefahr, daß uns etwas Derartiges widerfährt! Wer hat uns das bewiesen? Denn wenn man in so wichtiger Sache allzu sorglos ist, so macht man sich immerhin der Fahrlässigkeit schuldig. Ja, der Heilige Geist weissagt doch durch den Mund des Paulus mit ausdrücklichen Worten, daß ein Abfall kommen wird (2. Thess. 2,3), und solcher Abfall kann nicht kommen, wofern nicht die Hirten Gott zuerst verlassen. Wenn es so steht, weshalb sind wir denn hier zu unserem eigenen Verderben mit Willen blind? Es ist also unter keinen Umständen zuzugeben, daß die Kirche auf der Versammlung der Hirten beruhe; denn der Herr hat nirgendwo verheißen, daß diese allezeit gut sein werden, wohl aber angekündigt, daß sie zu Zeiten böse sein sollen. Wo er uns aber auf eine Gefahr aufmerksam macht, da tut er es, um uns vorsichtiger zu machen.



IV,9,8

Wieso nun, wird man sagen, sollen denn die Konzilien bei ihren Beschlußfassungen gar keine Autorität haben? Aber gewiß doch! Denn es geht mir hier nicht darum, daß alle Konzilien verdammt, alle ihre Verhandlungsergebnisse umgestoßen und, wie man sagt, mit einem Federstrich ungültig gemacht werden sollten. Aber, so wird man sagen, du setzest ihnen doch allen sehr enge Schranken, so daß es nun jeder frei in der Hand hat, das, was die Konzilien beschlossen haben, anzunehmen oder zu verwerfen. Durchaus nicht! Aber sooft man den Beschluß irgendeines Konzils vorbringt, möchte ich, daß man zunächst gründlich erwägt, zu welcher Zeit es gehalten worden ist, aus welchem Grunde und mit welcher Absicht man es gehalten hat und was für Leute dabei waren. Alsdann soll man, das möchte ich weiter, den Gegenstand, um den es sich handelt, nach dem Richtmaß der Schrift prüfen, und das soll in der Weise vor sich gehen, daß die Entscheidung des Konzils ihr Gewicht hat und als vorläufiges Urteil (plaeiudicium) gilt, aber doch die Prüfung, von der ich sprach, nicht hindert. Wenn doch alle das Verfahren beobachteten, das Augustin im dritten Buche (seiner Schrift) gegen Maximinus vorzeichnet! Er will nämlich diesen Ketzer, der über die Beschlüsse der Synoden Streit führt, kurz zum Schweigen bringen, und deshalb sagt er: „Weder darf ich dir die Synode von Nicäa, noch darfst du mir die Synode von Ariminum (359) vorhalten, um etwa damit ein Vorurteil zu fällen. Ich bin nicht durch die Autorität der letzteren, du nicht durch die der ersteren gebunden. Nein, es soll Sache gegen Sache, Angelegenheit gegen Angelegenheit, Begründung gegen Begründung streiten, und zwar auf Grund der mit Autorität ausgerüsteten Aussagen der Schrift, die also nicht der einzelne für sich allein hat, sondern die uns beiden gemeinsam sind“ (Gegen Maximinus, Buch II,14,3). Wenn man es so machte, dann würde es dazu kommen, daß die Konzilien die ihnen gebührende Majestät erhielten, die Schrift aber unterdessen an einem höheren Platz stünde und den Vorrang hätte, so daß es nichts gäbe, das ihrer Richtschnur nicht unterworfen würde. So nehmen wir die alten Synoden, wie die zu Nicäa, zu Konstantinopel, die erste Synode zu Ephesus, die Synode von Chalcedon und ähnliche, die zur Widerlegung von Irrtümern gehalten worden sind, gern an, wir verehren sie als heilig, soweit es die Glaubenssätze betrifft; denn sie enthalten nichts als eine reine und ursprüngliche Auslegung der Schrift, die die heiligen Väter in geistlicher Weisheit dazu angewendet haben, die Feinde der Religion, die sich damals erhoben hatten, zu überwinden. Auch in manchen späteren Synoden sehen wir wahren Eifer der Frömmigkeit aufleuchten, dazu auch unverkennbare Zeichen von Verstand, Gelehrsamkeit und Weisheit. Aber wie die Dinge im allgemeinen schlimmer zu werden und in Verfall zu geraten pflegen, so kann man auch aus den späteren Konzilien ersehen, wie sehr die Kirche allgemach von der Lauterkeit jenes goldenen Zeitalters abgekommen ist. Ich zweifle nun nicht daran, daß die Konzilien auch in diesen verdorbeneren Zeiten ihre besser gearteten Bischöfe gehabt haben. Aber mit diesen Konzilien ist eben das vorgegangen, wovon in den römischen Senatsbeschlüssen die Senatoren selbst klagen, daß es nicht recht geschehe. Denn da man die Stimmen zählt und nicht wägt, so ist notwendig häufiger der bessere Teil von dem größeren überstimmt worden. Auf jeden Fall haben diese Konzilien viele gottlose Meinungen vorgebracht. Es ist auch hier nicht nötig, Beispiele zu sammeln; denn das würde viel zu weit führen, und andere haben es auch so gründlich besorgt, daß man nicht mehr viel zufügen kann.
Simon W.

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IV,9,9

Was soll ich weiter aufzählen, wie Konzilien mit Konzilien im Streite gelegen haben? Es besteht auch kein Grund, daß mir jemand murrend den Einwurf macht, von diesen Konzilien, die miteinander im Widerspruch stehen, sei eben das eine oder das andere nicht rechtmäßig. Denn woher sollen wir darüber eine Meinung gewinnen? Doch daher, wenn ich mich nicht täusche, daß wir auf Grund der Schrift zu dem Urteil kommen, daß die Beschlüsse des betreffenden Konzils nicht rechtgläubig sind. Denn das ist das einzige sichere Gesetz für eine solche Unterscheidung. Es ist jetzt ungefähr neunhundert Jahre her, daß die Synode zu Konstantinopel (754), die unter dem Kaiser Leo zusammenberufen worden war, den Beschluß faßte, es sollten die in den Kirchengebäuden aufgestellten Bilder umgeworfen und zerbrochen werden. Kurz nachher beschloß das Konzil zu Nicäa (787), das Irene jenem ersten Konzil zum Trotz einberufen hatte, die Bilder sollten wiederhergestellt werden. Welches von den beiden sollen wir nun als rechtmäßig anerkennen? Im allgemeinen hat sich das letztere durchgesetzt, das den Bildern in den Kirchengebäuden einen Platz gegeben hat. Augustin dagegen erklärt, daß dies nicht geschehen kann ohne die unmittelbarste Gefahr der Abgötterei! Und Epiphanius, der zu noch früherer Zeit lebte, redet noch viel schärfer: er lehrt nämlich, es sei frevlerisch und ein Greuel, daß man in der Kirche von Christen Bilder anschauen sollte. Wenn nun diese Männer, die so geredet haben, heute noch lebten – würden die wohl jenes Konzil anerkennen? Wenn nun die Geschichtsschreiber die Wahrheit berichten und wenn man den niedergelegten Verhandlungsergebnissen selber Glauben schenkt, so hat man auf dieser Synode nicht nur die Bilder selbst, sondern auch ihre Verehrung anerkannt. Es liegt aber auf der Hand, daß ein solcher Beschluß vom Satan stammt! Was sollen wir aber dazu sagen, daß diese Männer durch ihre Verkehrung und Zerreißung der ganzen Schrift offen zu erkennen geben, daß sie sich über sie lustig machen? Eben dies aber habe ich oben (vgl. Buch I, Kap. 11) mehr als zureichend deutlich gemacht. Wie dem auch sei, wir werden zwischen den einander widersprechenden und verschieden lehrenden Synoden, deren es viele gegeben hat, nur dann unterscheiden können, wenn wir sie alle mit jener Waage der Menschen und Engel nachprüfen, von der ich gesprochen habe, nämlich mit dem Wort des Herrn. So nehmen wir die Synode zu Chalcedon an und verwerfen die zweite Synode zu Ephesus, weil in dieser die Gottlosigkeit des Eutyches bestätigt wurde, die jene andere (die Synode zu Chalcedon) verdammt hat. Das Urteil über diese Sache haben die heiligen Männer ausschließlich auf Grund der Schrift gefällt, und wir folgen ihnen in unserem Urteilen dergestalt, daß Gottes Wort, das ihnen vorangeleuchtet hat, auch uns nun voranleuchtet. Nun sollen die Römischen hingehen und nach ihrer Gewohnheit den Anspruch erheben, an ihre Konzilien sei der Heilige Geist geheftet und festgebunden!



IV,9,10

Allerdings bleibt auch bei jenen alten, reineren Konzilien noch manches mit Recht auszusetzen, sei es, weil die sonst gelehrten und verständigen Männer, die damals dabei waren, infolge ihrer vielseitigen Inanspruchnahme durch die gegenwärtigen Angelegenheiten vieles andere nicht vorhersahen, sei es, weil sie bei ihrer Beschäftigung mit schwereren und ernsteren Dingen manche Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung beiseiteließen, sei es, weil sie einfach als Menschen durch Unkundigkeit getäuscht werden konnten, oder sei es auch, weil sie sich aus allzu großer innerer Bewegung heraus dann und wann zu vorschnellem Handeln hinreißen ließen. Das letztere scheint das schwerste von allem zu sein, und dafür gibt es ein hervorragendes Beispiel bei der Synode zu Nicäa (325), deren Würde, wie sie es verdiente, einhellig mit höchster Ehrerbietung anerkannt worden ist. Da war doch der wichtigste Artikel unseres Glaubens in Gefahr, da war Arius, der Feind, zum Kampfe gerüstet zugegen, und man mußte mit ihm handgemein werden; in solcher Lage aber kam es in höchstem Maße auf die Eintracht derer an, die in der Bereitschaft gekommen waren, den Irrtum des Arius zu bekämpfen; aber obwohl es so stand, so vergaßen diese doch sorglos diese großen Gefahren, ja, sie ließen geradezu allen Ernst, alle Bescheidenheit und alle Menschlichkeit fahren, sie schlugen sich den Kampf, den sie unmittelbar zu führen hatten – gerade als ob sie mit der festen Absicht hergekommen wären, dem Arius zu Gefallen zu sein! -, aus dem Kopf und begannen, sich über inneren Streitigkeiten zu entzweien und die Feder, die sie gegen Arius hätten zücken sollen, wider sich selbst zu richten; schändliche Beschuldigungen gab es zu hören, Anklageschriften flogen daher, und die Streitereien hätten wohl kein Ende gefunden, ehe sich diese Männer gegenseitig durch Verwundungen niedergestreckt hätten, wenn sich nicht der Kaiser Konstantin ins Mittel gelegt hätte, der erklärte, die Untersuchung über ihren Lebenswandel sei eine Sache, die über seine Zuständigkeit hinausginge, und solche Ungezügeltheit mehr mit Lobworten als mit Tadel züchtigte. In wievieler Hinsicht sind aller Wahrscheinlichkeit nach auch die anderen Konzilien, die später gefolgt sind, ausgeglitten! Das bedarf auch keines langen Nachweises; denn wenn jemand die Akten durchliest, so wird er da viele Schwachheiten bemerken – um kein schlimmeres Wort zu gebrauchen!



IV,9,11

Auch der römische Bischof Leo (I.) trägt kein Bedenken, der Synode von Chalcedon Ehrsucht und unberatene Leichtfertigkeit vorzuwerfen, obwohl er zugibt, daß sie in den Glaubenssätzen rechtgläubig war. Er leugnet zwar nicht, daß sie rechtmäßig ist, aber er behauptet offen, daß sie hat irren können. Vielleicht komme ich jemandem töricht vor, daß ich Mühe daran wende, derartige Irrtümer aufzuweisen, wo doch unsere Widersacher zugeben, daß die Konzilien in solchen Dingen irren können, die zum Heil nicht notwendig sind. Aber diese Mühe ist doch nicht überflüssig. Denn unsere Widersacher machen zwar mit Worten gezwungenermaßen jenes Zugeständnis; da sie uns aber trotzdem den Beschluß aller Konzilien in jeder beliebigen Sache und ohne jeden Unterschied als Offenbarungswort des Heiligen Geistes aufdringen, so fordern sie eben mehr, als sie sich im Anfang herausgenommen haben. Was behaupten sie aber mit dieser Handlungsweise anders, als daß die Konzilien nicht irren können oder daß es, wofern sie irren, doch unerlaubt ist, die Wahrheit zu sehen oder den Irrtümern nicht zuzustimmen? Ich habe nun nichts anderes im Sinne, als daß man eben aus solchen Irrtümern folgern kann: der Heilige Geist hat die im übrigen frommen und heiligen Synoden zwar regiert, aber doch so, daß er es, damit wir unser Vertrauen nicht gar zu sehr auf Menschen setzen, wohl zuließ, daß ihnen ab und an etwas Menschliches widerfuhr. Diese Ansicht ist viel besser als die des Gregor von Nazianz, er habe noch nie gesehen, daß ein Konzil gut ausgegangen sei (Brief 130). Denn wenn jemand behauptet, sie seien alle ohne Ausnahme übel ausgegangen, so läßt er ihnen nicht viel Autorität übrig. Die Provinzialkonzilien noch besonders zu erwähnen, ist nicht mehr erforderlich; denn von den allgemeinen her läßt sich leicht ein Urteil darüber gewinnen, wieviel Autorität sie haben dürfen, um Glaubensartikel aufzustellen und irgendeine ihnen gut scheinende Art der Lehre anzunehmen.



IV,9,12

Aber wenn unsere Römischen den Eindruck gewinnen, daß ihnen bei der Verteidigung ihrer Sache alle Stützen, die in vernünftigen Beweisen bestehen könnten, dahinsinken, dann ziehen sie sich auf eine äußerste, jämmerliche Ausflucht zurück: sie erklären selbst, wenn sie nach Verstand und Rat ganz dumm, nach Herz und Willen ganz nichtsnutzig wären, so bliebe doch das Wort des Herrn bestehen, das uns gebietet, den Oberen zu gehorchen (Hebr. 13,17). Aber steht es denn so? Was soll denn geschehen, wenn ich behaupte, daß Menschen, die von solcher Art sind, gar keine Oberen sind? Denn sie dürfen sich nicht mehr anmaßen, als Josua besessen hat, der doch ein Prophet des Herrn und dazu ein ausgezeichneter Hirte war. Hören wir aber, mit was für Worten er von dem Herrn in sein Amt eingeführt wird! „Laß das Buch dieses Gesetzes“, so spricht der Herr, „nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken. Dann wirst du deinen Weg recht richten und ihn verstehen“ (Jos. 1,8.7; Schluß nicht Luthertext). „Geistliche Obere“ sollen also für uns diejenigen sein, die vom Gesetz des Herrn weder nach der einen noch nach der anderen Richtung abweichen. Wenn wir aber die Lehre aller beliebigen Hirten ohne Zögern annehmen sollen – was hat es dann für einen Zweck gehabt, daß wir so oft und so nachdrücklich von des Herrn Stimme ermahnt werden, nicht auf die Rede der falschen Propheten zu hören? „Höret nicht“, so spricht er durch Jeremia, „auf die Worte der Propheten, die euch weissagen; denn sie lehren euch Trug und nicht aus des Herrn Munde“ (Jer. 23,16; nicht Luthertext). Oder ebenso: „Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe“ (Matth. 7,15). Sollten wir unterschiedslos die Lehre aller Hirten annehmen, so wäre es auch umsonst, daß uns Johannes mahnt, die Geister zu prüfen, „ob sie aus Gott sind“ (1. Joh. 4,1). Von dieser Prüfung werden nicht einmal die Engel ausgenommen, geschweige denn der Satan mit seinen Lügen. Was bedeutet es aber, wenn uns gesagt wird: „Wenn aber ein Blinder den anderen leitet, so werden sie beide in die Grube fallen“ (Matth. 15,14)? Gibt uns dies Wort nicht genugsam zu erkennen, daß eben viel daran liegt, was für Hirten man hört, und daß man nicht unbedacht alle hören soll? Deshalb haben sie auch keinen Anlaß, uns mit ihren Titeln zu schrecken, um uns in die Mitgenossenschaft an ihrer Blindheit hineinzuziehen; denn wir sehen auf der anderen Seite, daß der Herr besondere Sorgfalt daran wendet, uns Furcht davor einzujagen, daß wir uns von einem fremden Irrtum leiten lassen, unter was für einem Decknamen er auch verborgen sein mag! Denn wenn Christi (obige) Antwort (Matth. 15,14) wahr ist, dann können jedwede blinden Führer, seien sie nun Vorsteher oder Oberste oder Päpste genannt, nichts anderes fertigbringen, als ihre Mitgenossen mit sich in den gleichen Abgrund hineinzustürzen. Deshalb sollen uns keine Namen von Konzilien, Hirten oder Bischöfen – die man ja ebenso gut fälschlich vorwenden wie in Wahrheit führen kann – daran hindern, daß wir uns von den Beweisen warnen lassen, die uns Worte wie Tatsachen bieten, und alle Geister aller Menschen nach der Richtschnur des göttlichen Wortes prüfen, um festzustellen, ob sie aus Gott sind.



IV,9,13

Da wir nun bewiesen haben, daß der Kirche nicht die Vollmacht gegeben ist, eine neue Lehre aufzurichten, so wollen wir jetzt von der Vollmacht sprechen, die ihr die Römischen bei der Auslegung der Schrift beimessen. Wir geben gewiß gerne zu, daß, falls über irgendeinen Glaubenssatz ein Streit vorkommt, kein besseres und zuverlässigeres Mittel dagegen besteht, als wenn eine Synode von wahren Bischöfen zusammentritt, damit auf ihr der strittige Glaubenssatz gründlich erörtert wird. Denn (1) eine solche Entscheidung, zu der sich die Hirten der Kirchen nach Anrufung des Geistes Christi alle miteinander einmütig zusammentun, wird viel mehr Gewicht haben, als wenn jemand für sich allein zu Hause eine Entscheidung aufsetzte und sie dem Volke vortrüge oder auch einige wenige amtlose Leute eine zusammenstellten. Ferner (2): wenn die Bischöfe an einem Ort versammelt sind, so können sie mit größerer Leichtigkeit gemeinschaftlich erwägen, was gelehrt werden soll und in welcher Gestalt, damit die Verschiedenheit kein Ärgernis erzeugt. Und (3) drittens: dies ist das Verfahren, das Paulus für die Beurteilung von Lehren vorschreibt. Denn indem er die Beurteilung den einzelnen Kirchen zuerkennt (1. Kor. 14,29), macht er deutlich, welche Ordnung des Vorgehens in schwereren Fällen eintreten soll: da sollen nämlich die Kirchen miteinander gemeinsam das Urteil in die Hand nehmen. Und das Empfinden der Frömmigkeit selbst weist uns den Weg: wenn jemand die Kirche durch ein ungewohntes Dogma in Verwirrung bringt und wenn die Verhältnisse dahin kommen, daß die Gefahr einer einigermaßen ernsten Zwistigkeit besteht, so sollen die Kirchen zunächst zusammenkommen, dann sollen sie die vorgelegte Frage prüfen, und schließlich sollen sie nach Abhaltung einer gehörigen Besprechung die aus der Schrift genommene Entscheidung vorbringen, damit diese im Volke (d.h. in der Gemeinde) die Unsicherheit behebt und nichtsnutzigen, parteisüchtigen Leuten den Mund stopft, so daß sie nicht mehr weiterzugehen wagen. So wurde nach dem Auftreten des Arius die Synode von Nicäa einberufen, die mit ihrer Autorität die frevlerischen Anschläge dieses gottlosen Menschen zerstörte, in den Kirchen, die er in Unruhe versetzt hatte, den Frieden wiederherstellte und Christi ewige Gottheit gegen sein gotteslästerliches Dogma behauptete. Als dann hernach Eunomius und Macedonius neue Wirren erregten, da hat man das gleiche Mittel dagegen angewandt und ist ihrem Aberwitz durch die Synode von Konstantinopel entgegengetreten. Auf dem Konzil zu Ephesus hat man die Gottlosigkeit des Nestorius zu Boden geschlagen. Kurz, dies war von Anfang an in der Kirche die gewohnte Weise, die Einheit aufrechtzuerhalten, so oft der Satan etwas ins Werk zu setzen begann. Aber wir müssen bedenken, daß man nicht in allen Jahrhunderten und an allen Orten solche Männer findet wie Athanasius, Basilius, Kyrill und andere Verteidiger der wahren Lehre, die der Herr damals erweckt hat. Ja, wir wollen daran denken, was auf der zweiten Synode zu Ephesus sich zugetragen hat: da setzte sich die Ketzerei des Eutyches durch, Flavian, ein Mann heiligen Angedenkens, wurde mit einer Anzahl frommer Männer in die Verbannung geschickt, und noch viele Schandtaten dieser Art hat man beschlossen! Das kam eben daher, daß dort Dioskur, ein parteisüchtiger und ganz übelgesinnter Mann, die Leitung hatte, nicht aber der Geist des Herrn! Aber, so wird man einwerfen, da war doch nicht die Kirche. Das gebe ich zu. Ich stelle nämlich grundsätzlich fest: die Wahrheit geht in der Kirche nicht davon unter, daß sie wohl auch einmal von einem Konzil unterdrückt wird, sondern sie wird von dem Herrn wunderbar erhalten, so daß sie zu ihrer Zeit wieder hervorbricht und den Sieg behält. Dagegen bestreite ich, daß es fort und fort so wäre, daß die Auslegung der Schrift, die durch die Abstimmung eines Konzils angenommen ist, die wahre und sichere darstellte.
Simon W.

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IV,9,14

Wenn dagegen die Römischen lehren, daß die Vollmacht zur Auslegung der Schrift bei den Konzilien liegt und zwar ohne Berufungsmöglichkeit, so haben sie damit etwas anderes im Auge (als es soeben ausgeführt wurde). Denn sie mißbrauchen diese Behauptung als Deckfarbe, um alles, was in den Konzilien beschlossen worden ist, als Auslegung der Schrift zu bezeichnen. Nun findet man vom Fegefeuer, von der Fürbitte der Heiligen, von der Ohrenbeichte und dergleichen in der Schrift nicht eine einzige Silbe. Weil das nun aber alles durch die Autorität der Kirche festgelegt, das heißt, um richtiger zu reden, durch Ansicht und Übung in Aufnahme gekommen ist, so soll man jedes von diesen Lehrstücken als Auslegung der Schrift gelten lassen! Und nicht nur dies, nein, wenn ein Konzil einen Beschluß gegen den Widerspruch der Schrift gefaßt hat, so soll er doch den Namen einer „Auslegung“ führen! Christus gebietet, daß alle aus dem Kelch trinken, den er im Abendmahle darreicht (Matth. 26,26) – das Konzil von Konstanz dagegen verbot, ihn dem Volke zu reichen, sondern wollte, daß nur der Priester daraus tränke! Was in dieser Weise in genauem Gegensatz zur Einsetzung Christi steht, das soll nach dem Willen der Römischen für deren Auslegung gehalten werden. Paulus nennt das Verbot des Ehestandes eine „Gleisnerei“ böser Geister (1. Tim. 4,1f.), und an anderer Stelle macht der Heilige Geist kund, daß der Ehestand bei allen Ständen heilig und ehrbar ist (Hebr. 13,4). Daß aber die Römischen hernach den Priestern die Ehe verboten haben, das wollen sie für die wahre und ursprüngliche Auslegung der Schrift gehalten wissen, obwohl sich nichts erdenken läßt, das der Schrift fremder wäre. Wagt jemand dagegen zu mucksen, so wird er als Ketzer beurteilt werden; denn gegen die Bestimmung der Kirche gibt es keine Berufung, und es ist Sünde, an der von ihr gegebenen Auslegung zu zweifeln (und sich zu fragen), ob sie auch wahr sei. Wozu soll ich gegen eine solche Unverschämtheit mit scharfen Worten vorgehen? Es heißt doch bereits gewonnen zu haben, wenn man sie nachgewiesen hat! Die Römischen sprechen in ihrer Lehre auch von einer Vollmacht (der Kirche), die Schrift zu bestätigen; aber das lasse ich mit voller Überlegung beiseite. Denn wenn man auf diese Weise die Offenbarungsworte Gottes der Prüfung von Menschen unterwirft, so daß sie also deshalb ihre Gültigkeit hätten, weil sie den Menschen behagten, so ist das eine Gotteslästerung, die der Erwähnung nicht wert ist; auch habe ich diesen Punkt bereits oben (vgl. Buch I, Kapitel 7) berührt. Ich möchte den Römischen nur eine einzige Frage stellen: wenn die Autorität der Schrift auf die Billigung durch die Kirche gegründet ist – von welchem Konzil wollen sie dann einen diesbezüglichen Beschluß anführen? Ich denke, sie haben keinen! Weshalb ließ sich denn Arius in Nicäa durch Zeugnisse überwinden, die man aus dem Evangelium des Johannes angeführt hatte? Denn nach der Lehre der Römischen stand es ihm frei zu widersprechen, weil keine Anerkennung (dieses Evangeliums) durch ein allgemeines Konzil vorangegangen war. Sie berufen sich auf eine alte Liste, die man Kanon nennt, und sie sagen, dieser sei aus einer Entscheidung der Kirche hervorgegangen. Aber ich frage wiederum: in welchem Konzil ist denn dieser Kanon aufgestellt worden? Da müssen sie verstummen. Allerdings wäre ich außerdem begierig zu erfahren, was für ein Kanon das denn nach ihrer Ansicht gewesen ist. Denn ich bemerke, daß dies unter den Alten sehr wenig festgestanden hat. Wenn das Geltung haben soll, was Hieronymus sagt, so müssen die Makkabäerbücher, das Buch Tobias, Jesus Sirach und dergleichen unter die Apokryphen verwiesen werden – aber das unterstehen sich doch die Römischen in keiner Weise zu tun!



Zehntes Kapitel: Von der gesetzgebenden Gewalt der Kirche, in welcher der Papst samt den Seinen die Seelen einer grausamen Tyrannei und Quälerei unterworfen hat



IV,10,1

Es folgt nun der zweite Teil (der Kirchengewalt, vgl. Kap. 8, Sektion 1 am Anfang), der nach dem Willen der Papisten in der Gesetzgebung bestehen soll. Das ist nun ein Quell, aus dem unzählige menschliche Überlieferungen entsprungen sind – lauter Stricke, um die armen Seelen damit zu erwürgen! Denn die Papisten haben sich ebensowenig wie die Schriftgelehrten und Pharisäer gescheut, anderen Leuten Lasten auf die Schultern zu legen, die sie selbst nicht mit dem Finger hätten anrühren wollen (Matth. 23,4). Ich habe an anderer Stelle bereits dargelegt, was für eine grausame Quälerei ihre Bestimmungen über die Ohrenbeichte darstellen. In anderen Gesetzen tritt nicht eine derartige Gewalttätigkeit zutage; aber auch die, die von allen am erträglichsten erscheinen, üben einen tyrannischen Druck auf die Gewissen aus. Ich schweige noch davon, daß sie die Verehrung Gottes verfälschen und Gott selber, der doch der einige Gesetzgeber ist, seines Rechtes berauben. Diese Vollmacht müssen wir nun behandeln (und es ist dabei die Frage), ob die Kirche das Recht hat, mit ihren Gesetzen die Gewissen zu binden. Bei dieser Erörterung wird die bürgerliche (politische) Ordnung nicht berührt, sondern es geht ausschließlich darum, daß Gott nach der von ihm vorgeschriebenen Richtschnur recht verehrt werde und uns die geistliche Freiheit, die sich auf Gott bezieht, unverkürzt erhalten bleibe. Es hat sich nun die Gewohnheit durchgesetzt, daß man unter dem Begriff „menschliche Überlieferungen“ alle jene Bestimmungen versteht, die im Bezug auf die Verehrung Gottes außerhalb seines Wortes von Menschen ausgegangen sind. Gegen diese haben wir zu kämpfen, nicht aber gegen die heiligen und nützlichen Ordnungen der Kirche, die zur Aufrechterhaltung der Zucht, der Ehrbarkeit oder des Friedens dienen. Unser Kampf hat aber das Ziel, daß jene ungemessene und barbarische Herrschaft gebrochen werde, die sich Leute, die für Hirten der Kirche gehalten werden wollen, tatsächlich aber die erbarmungslosesten Marterknechte sind, über die Seelen anmaßen. Denn sie behaupten von den Gesetzen, die sie machen, sie seien „geistlich“ und hätten auf die Seelen Bezug, erklären auch, sie seien zum ewigen Leben notwendig. So aber geschieht dem Reiche Christi, wie ich oben kurz aussprach, Gewalt, so wird die Freiheit, die er selbst den Gewissen der Gläubigen geschenkt hat, ganz und gar unterdrückt und vernichtet. Ich schweige hier davon, mit was für einer Gottlosigkeit sie die Beobachtung ihrer Gesetze als unverbrüchliche Forderung vertreten, indem sie nämlich lehren, man solle in ihr die Vergebung der Sünden, die Gerechtigkeit und das Heil suchen, und indem sie die ganze Summe der Religion und Frömmigkeit in sie hineinlegen. Ich behaupte dies eine: man darf den Gewissen in solchen Dingen, in denen sie durch Christus frei gemacht werden, keinerlei Zwang auferlegen – sie können doch auch, wie wir oben dargelegt haben, nur dann bei Gott ausruhen, wenn sie solcher Freiheit teilhaftig geworden sind! Wollen sie die Gnade behalten, die sie einmal in Christus erlangt haben, so müssen sie auch den als den einigen König anerkennen, der ihr Befreier ist, nämlich Christus, und von dem einen Gesetz der Freiheit regiert werden; keine Knechtschaft darf sie mehr festhalten, und keine Fesseln dürfen sie mehr binden!



IV,10,2

Nun tun zwar diese Solons (Gesetzgeber), als ob ihre Ordnungen „Gesetze der Freiheit“, als ob sie ein „sanftes Joch“, eine „leichte Last“ wären – aber wer sollte nicht sehen, daß das lauter Lügen sind? Sie selbst empfinden freilich die Schwere ihrer Gesetze nicht; denn sie haben ja Gottes Furcht von sich geworfen und verachten nun sorglos und wacker sowohl ihre eigenen als auch die göttlichen Gesetze. Die Menschen aber, die einigermaßen von der Sorge um das Heil berührt sind, die kommen bei weitem nicht zu der Meinung, frei zu sein, solange sie von diesen Stricken festgehalten werden. Wir sehen doch, mit wieviel Vorsicht Paulus in diesem Stück gewandelt ist, so daß er es nicht einmal in einer einzigen Sache gewagt hat, den anderen „einen Strick um den Hals zu werfen“ (1. Kor. 7,35). Und das nicht ohne Ursache; denn er sah sicherlich voraus, was für eine schwere Verwundung man den Gewissen beibringen würde, wenn man ihnen zwangsweise solche Dinge auferlegen wollte, in denen ihnen der Herr Freiheit gelassen hat. Dagegen kann man kaum die Ordnungen aufzählen, die die Römischen mit höchstem Ernst durch Androhung des ewigen Todes bekräftigt haben und die sie mit äußerster Strenge als zum Heil notwendig fordern. Und darunter sind sehr viele äußerst schwer, alle zusammen aber, wenn man sie auf einen Haufen zusammenbringt, unmöglich zu halten – so groß ist die Masse! Wie soll es also geschehen, daß Menschen, auf denen eine so große, schwere Last ruht, nicht in die schlimmste Angst und Schrecknis verstrickt werden und sich daran zerreiben? Ich habe also hier die Absicht, mich gegen Satzungen von dieser Art zu wenden, die man dazu gemacht hat, um die Seelen innerlich vor Gott zu binden und ihnen heilige Scheu einzujagen, als ob man Vorschriften über Dinge gäbe, die zum Heil notwendig sind.



IV,10,3

Diese Frage bereitet nun vielen Leuten deshalb große Schwierigkeiten, weil sie zwischen dem „äußeren“ Rechtsbereich – wie man ihn nennt – und dem des Gewissens nicht scharf genug unterscheiden. Zudem wird die Verlegenheit noch dadurch vergrößert, daß wir nach dem Gebot des Paulus der Obrigkeit nicht allein aus Furcht vor der Strafe gehorchen sollen, sondern auch „um des Gewissens willen“ (Röm. 13,1.5). Daraus folgt (so meint man), daß unser Gewissen auch an die bürgerlichen Gesetze gebunden ist. Wenn es sich so verhielte, so würde alles, was wir im vorigen Kapitel) gesagt haben und was wir noch von dem geistlichen Regiment ausführen werden, in sich zusammenfallen. Um diesen Knoten aufzulösen, ist es zunächst von Nutzen, festzustellen, was eigentlich das Gewissen ist. Die Beschreibung dieses Begriffs entnehmen wir der (sprachlichen) Wurzel des Wortes. Die Menschen erlangen ja durch Verstand und Einsicht eine Erkenntnis der Dinge; man sagt also: sie wissen das und das, und daraus wird dann auch das Wort Wissenschaft abgeleitet. Nun haben sie aber auch ein Empfinden des göttlichen Gerichts, das wie ein Zeuge stets bei ihnen steht, sie ihre Sünde nicht verhehlen läßt, sondern sie als Schuldige vor Gottes Richterstuhl zieht. Dies Empfinden heißt Gewissen (conscientia = Mitwissen!). Es ist also gewissermaßen etwas, das mitten zwischen Gott und dem Menschen steht; denn es läßt nicht zu, daß der Mensch das, was er doch weiß, in sich selbst unterdrückt, sondern es bedrängt ihn so lange, bis er sich schuldig bekennt. – Das meint Paulus mit seiner Lehre, das Gewissen lege zugleich mit dem Menschen Zeugnis ab, und zwar wenn die Gedanken sich untereinander vor Gottes Gericht verklagen oder entschuldigen (Röm. 2,15f.). Die bloße Erkenntnis könnte im Menschen gewissermaßen verschlossen (und daher unwirksam, verborgen) bleiben. Da ist denn dies Empfinden, das den Menschen vor Gottes Gericht stellt, gleichsam ein ihm bei gegebener Wächter, damit nichts im Finsteren begraben bleibt. Daher auch das alte Sprichwort: das Gewissen ist wie tausend Zeugen. Aus dem gleichen Grunde setzt auch Petrus das Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott der Ruhe unseres Herzens gleich, wenn wir in der Gewißheit um die Gnade Christi unerschrocken vor Gott hintreten (1. Petr. 3,21). Auch wenn der Verfasser des Hebräerbriefs davon spricht, daß Menschen „kein Gewissen mehr hätten von den Sünden“ (Hebr. 10,2), so meint er damit: wir sind befreit und losgesprochen, so daß die Sünde uns nicht mehr weiter bedrängt.
Simon W.

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IV,10,4

Wie sich also unsere Werke auf die Menschen beziehen, so bezieht sich das Gewissen auf Gott. Ein gutes Gewissen ist also nichts anderes als die innere Lauterkeit des Herzens. In diesem Sinne schreibt Paulus: „Die Hauptsumme des Gesetzes ist Liebe … von gutem Gewissen und von ungeheucheltem Glauben“ (1. Tim. 1,5). In dem gleichen Kapitel zeigt er etwas nachher, wie sehr das Gewissen von dem bloßen Wissen unterschieden ist: er redet (1. Tim. 1,19) von einigen, „die am Glauben Schiffbruch erlitten haben“, und erklärt, sie hätten das Gewissen „von sich gestoßen“. Mit diesen Worten macht er ja deutlich, daß das Gewissen ein lebendiger Trieb ist, Gott zu dienen, und ein lauteres Streben nach frommem und heiligem Leben. Zuweilen wird das Gewissen auch auf die Menschen bezogen; so, wenn Paulus bei Lukas bezeugt, er habe sich Mühe gegeben, „zu haben ein unverletzt Gewissen allenthalben, gegen Gott und die Menschen“ (Apg. 24,16). Aber das ist deshalb so gesagt, weil die Früchte des guten Gewissens auch bis zu den Menschen hin strömen und dringen. Im eigentlichen Sinne aber sieht das Gewissen allein auf Gott, wie ich bereits sagte. So sagen wir auch, ein Gesetz „binde“ das Gewissen, wenn es den Menschen stracks verpflichtet, ohne den Blick auf Menschen und ohne Rücksicht auf sie. Zum Beispiel: Gott hat uns nicht nur geboten, unser Herz keusch und von aller Lust rein zu erhalten, sondern er hat auch alle schandbaren Worte und alle äußere Üppigkeit verboten. Zum Halten dieses Gebots ist mein Gewissen verpflichtet – auch wenn in der Welt kein einziger Mensch leben würde. Wer also in seinem Verhalten zuchtlos ist, der sündigt nicht nur insofern, als er den Brüdern ein schlechtes Vorbild gibt, sondern er hat auch ein schuldverhaftetes Gewissen vor Gott. Anders ist es aber mit dem bestellt, was an sich ein „Mittelding“ ist. Wir müssen davon abstehen, wenn daraus ein Anstoß erwächst – aber mit freiem Gewissen! In diesem Sinne spricht Paulus von dem Fleisch, das den Götzen geweiht war; er sagt: „Wenn dir aber jemand Bedenken einflößt, so rühre das Fleisch nur ja nicht an, und zwar um des Gewissens willen. Ich sage aber vom Gewissen nicht deiner selbst, sondern des anderen“ (1. Kor. 10,28f.; Vers 28 summarisch). Der Gläubige würde also sündigen, wenn er trotz vorheriger Warnung solches Fleisch doch äße. Aber wenn er auch nach Gottes Gebot aus Rücksicht auf den Bruder solche Enthaltsamkeit üben muß, so hört er deshalb doch nicht auf, die Freiheit seines Gewissens zu wahren. Wir sehen also, wie ein solches Gesetz das äußere Werk bindet, aber das Gewissen doch frei läßt.



IV,10,5

Jetzt wollen wir wieder auf die menschlichen Gesetze zurückkommen. Wenn sie zu dem Zweck gegeben sind, uns heilige Scheu einzuflößen, als ob ihre Einhaltung an und für sich notwendig sei, dann behaupten wir, daß den Gewissen etwas auferlegt wird, das sich nicht gehört. Denn unser Gewissen hat es eben nicht mit den Menschen, sondern allein mit Gott zu tun. Dahin gehört auch die gebräuchliche Unterscheidung zwischen dem irdischen Rechtsbereich und dem des Gewissens. Als der ganze Erdkreis in die dichteste Finsternis der Unwissenheit gehüllt war, da blieb doch der kleine Lichtstrahl übrig, daß man erkannt hat, daß das Gewissen der Menschen höher steht als alle menschlichen Urteile. Allerdings hat man das, was man mit einem Wort zugab, nachher tatsächlich wieder umgestoßen, aber Gott hatte doch den Willen, daß selbst damals irgendein Zeugnis der christlichen Freiheit bestand, um die Gewissen von der Tyrannei der Menschen loszumachen. Aber noch ist jene Schwierigkeit nicht gelöst, die sich aus den Worten des Paulus (Röm. 13,1.5) ergibt. Denn wenn wir den Obrigkeiten nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern „um des Gewissens willen“ gehorchen sollen, so scheint sich daraus zu ergeben, daß die Gesetze der Obrigkeiten auch über das Gewissen herrschen. Ist das aber wahr, so muß man das gleiche auch von den kirchlichen Gesetzen sagen. Ich antworte, daß man hier zunächst zwischen Allgemeinem und Besonderem unterscheiden muß. Denn obwohl die einzelnen Gesetze das Gewissen nicht berühren, so sind wir doch an Gottes allgemeines Gebot gebunden, das uns die Autorität der Obrigkeit als etwas Wichtiges anbefiehlt. Eben um diesen Angelpunkt dreht sich die Erörterung des Paulus: da die Obrigkeiten von Gott geordnet sind, so sollen wir ihnen Ehre erweisen (Röm. 13,1). Indessen lehrt er durchaus nicht, daß sich die Gesetze, die sie geben, auf die innere Leitung der Seele beziehen; denn er hebt allenthalben sowohl die Verehrung Gottes als auch die geistliche Regel zum gerechten Leben über jegliche Satzungen der Menschen hinaus. Auch ist hier noch ein Zweites erwähnenswert, das allerdings von dem Obigen abhängt: obwohl die menschlichen Gesetze, ob sie nun von der Obrigkeit oder von der Kirche gegeben werden, notwendig zu halten sind – ich rede von den guten und gerechten Gesetzen -, so binden sie doch das Gewissen nicht an und für sich, und zwar deshalb nicht, weil alle und jede Notwendigkeit, sie zu halten, auf ein allgemeines Ziel gerichtet ist, nicht aber in den Dingen liegt, die da geboten werden. Weit entfernt von dieser Gruppe sind aber solche Gesetze, die eine neue Form der Verehrung Gottes vorschreiben und einen Zwang mit Bezug auf Dinge aufrichten, die frei sind.



IV,10,6

Eben von dieser Art aber sind die Gesetze, die heutzutage im Papsttum als Kirchensatzungen bezeichnet werden und die man den Leuten als wahren und notwendigen Gottesdienst aufdrängt. Und so unzählbar wie sie sind, so zahllose Fesseln sind sie auch, um die Seelen darin zu fangen und zu verstricken. Wir haben nun freilich manches davon bereits bei der Auslegung des Gesetzes (Buch II, Kapitel 7 und 8) berührt; weil aber diese Stelle für eine gehörige Behandlung der geeignetere Ort war, so will ich mich jetzt bemühen, den ganzen wesentlichen Inhalt in möglichst guter Ordnung zusammenzufassen. Und weil wir von der Tyrannei, die sich die falschen Bischöfe anmaßen, um willkürlich zu lehren, was ihnen paßt, bereits soeben gesprochen haben, soweit es ausreichend zu sein schien, so werde ich diesen ganzen Teil beiseitelassen und mich hier nur mit der Vollmacht zur Gesetzgebung befassen, die sie zu haben behaupten. Wenn also unsere falschen Bischöfe die Gewissen mit neuen Gesetzen beschweren, so tun sie das unter dem Vorwand, sie seien eben von dem Herrn als geistliche Gesetzgeber eingesetzt, und zwar, weil ihnen die Regierung der Kirche anbefohlen sei. Deshalb behaupten sie, alles, was sie gebieten oder vorschreiben, das müßte das Christenvolk notwendig innehalten; wer es aber verletze, der sei eines doppelten Ungehorsams schuldig, weil er sich ja gegen Gott und die Kirche auflehne. Freilich, wenn sie wahre Bischöfe wären, dann würde ich ihnen in diesem Stück wohl einige Autorität zuerkennen – nicht soviel, wie sie für sich verlangen, sondern soviel, wie erforderlich ist, um die Ordnung der Kirche gehörig zu regeln. Nun aber, wo sie nichts weniger sind als das, für das sie gehalten werden wollen, so können sie sich nicht das geringste herausnehmen, ohne damit über das Maß hinauszugehen. Aber weil wir auch das bereits an anderer Stelle gesehen haben, so wollen wir ihnen für den Augenblick zugeben, daß ihnen alle Vollmacht, die die wahren Bischöfe besitzen, mit Recht zukommt. Trotzdem bestreite ich, daß sie deshalb den Gläubigen als Gesetzgeber aufgelegt wären, die aus sich selbst heraus eine Regel für das Leben vorschreiben oder das ihnen anvertraute Volk zwangsweise an ihre Satzungen binden könnten. Wenn ich das sage, so ist meine Meinung die, daß es ihnen in keiner Weise zusteht, etwas, das sie sich aus sich selbst ohne Gottes Wort ausgedacht haben, der Kirche als Befehl aufzutragen, und zwar so, als ob es sich dabei um etwas (zum Heile) Notwendiges handelte. Da dies Recht den Aposteln unbekannt gewesen und den Dienern der Kirche so oft durch den Mund des Herrn abgesprochen worden ist, so wundere ich mich, wieso sie es doch gewagt haben, es ohne das Beispiel der Apostel und gegen Gottes offenbares Verbot an sich zu reißen, und wieso sie es noch heute zu verteidigen wagen.
Simon W.

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IV,10,7

Was zur vollkommenen Regel für ein rechtes Leben gehörte, das hat der Herr voll und ganz in seinem Gesetz zusammengefaßt, und zwar so, daß er den Menschen nichts übriggelassen hat, was sie etwa zu jener Hauptsumme hinzufügen könnten. Und das hat er erstens zu dem Zweck getan, daß er von uns für den alleinigen Meister und Regierer unseres Lebens gehalten werde, weil ja alle Rechtschaffenheit des Wandels darin besteht, daß alle unsere Werke nach seinem Willen wie nach einer Richtschnur ausgerichtet werden. Zum zweiten hat er es getan, um uns zu bezeugen, daß er von uns nichts dringlicher verlangt als Gehorsam. In diesem Sinne sagt Jakobus: „Wer seinen Bruder richtet, der ist nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. Es ist ein einiger Gesetzgeber, der kann selig machen und verdammen“ (Jak. 4,11f.; Vers 11 nicht ganz Luthertext). Da hören wir, daß Gott es sich allein als etwas ihm Eigenes vorbehält, uns durch den Befehl und die Gesetze seines Wortes zu regieren. Das nämliche war zuvor auch von Jesaja gesagt worden, wenn auch etwas dunkler: „Der Herr ist unser König, der Herr ist unser Gesetzgeber, der Herr ist unser Richter, der hilft uns“ (Jes. 33,22; nicht ganz Luthertext). Unzweifelhaft wird an beiden Stellen gezeigt, daß der die Entscheidung über Leben und Tod hat, der das Recht über die Seele besitzt. Ja, Jakobus spricht das klar aus. Dies Recht kann sich nun aber keiner von den Menschen nehmen. Also muß Gott als der einige König der Seelen anerkannt werden, bei dem allein die Gewalt liegt, selig zu machen oder verlorengehen zu lassen, oder, wie jene Worte des Jesaja lauten, als König, Richter, Gesetzgeber und Retter. Deshalb fordert Petrus die Hirten, indem er sie an ihre Pflicht gemahnt, dazu auf, sie sollten die Herde so weiden, daß sie keine Herrschaft über den „Klerus“ übten – ein Begriff, mit dem er das Erbteil Gottes, das heißt das Volk der Gläubigen, bezeichnet (1. Petr. 5,2f.). Wenn wir das recht erwägen, daß es unzulässig ist, etwas auf einen Menschen zu übertragen, was sich Gott ganz allein zueignet, dann werden wir auch begreifen, daß damit alle Vollmacht abgeschnitten ist, die jene Leute beanspruchen, die sich dazu aufwerfen wollen, in der Kirche etwas ohne Gottes Wort zu befehlen.



IV,10,8

Die ganze Angelegenheit hängt also von dem Grundsatz ab: wenn Gott der einige Gesetzgeber ist, so steht es dem Menschen nicht zu, sich diese Ehre herauszunehmen. Ist es aber so, dann muß man zugleich jene beiden oben festgestellten Ursachen im Gedächtnis halten, warum sich denn Gott dieses Recht ganz allein zueignet. Die erste Ursache ist nun die: sein Wille soll für uns die vollkommene Richtschnur aller Gerechtigkeit und Heiligkeit sein, und so soll also in dessen Erkenntnis das vollkommene Wissen um das rechte Leben liegen. Und die zweite Ursache: Er allein soll, wo man nach der Weise fragt, ihn gebührend und rechtschaffen zu verehren, die Befehlsgewalt über unsere Seelen haben, so daß wir also ihm Gehorsam leisten und an seinem Willen hängen sollen.
Wenn wir diese beiden Ursachen ins Auge gefaßt haben, dann werden wir leicht ein Urteil darüber gewinnen, welche Ordnungen von Menschen dem Worte des Herrn zuwiderlaufen. Von dieser Art sind nun alle, von denen man vorgibt, sie gehörten zur wahren Verehrung Gottes, und zu deren Innehaltung die Gewissen gezwungen werden, als ob sie notwendig beobachtet werden müßten. Wir wollen also daran denken, daß auf dieser Waagschale alle menschlichen Gesetze gewogen werden müssen, wenn wir eine sichere Regel haben wollen, die uns niemals abirren läßt. Unter Berufung auf die erstgenannte Ursache führt Paulus im Briefe an die Kolosser seinen Streit gegen die falschen Apostel, die die Kirchen mit neuen Lasten zu bedrücken trachteten (Kol. 2, S). Die zweite verwendet er mehr im Galaterbrief, und zwar in ähnlicher Sache. Im Kolosserbrief führt er also folgendes aus: eine Unterweisung über die wahre Verehrung Gottes sollen wir nicht von Menschen begehren, weil uns der Herr getreulich und vollkömmlich darüber belehrt hat, wie er verehrt werden soll. Um dies nachzuweisen, erklärt Paulus im ersten Kapitel (des Briefes), im Evangelium sei alle Weisheit verfaßt, kraft deren der Mensch Gottes in Christus vollkommen gemacht würde (Kol. 1,28). Im Anfang des zweiten Kapitels sagt er, daß in Christus „verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol. 2,3). Von da aus kommt er dann hernach zu dem Ergebnis, die Gläubigen sollten sich in acht nehmen, daß sie nicht durch eitle Weltweisheit „nach der Menschen“ „Satzungen“ von der Herde Christi weggeführt würden (Kol. 2,8). Und am Schluß dieses Kapitels verurteilt er mit noch größerer Freimütigkeit alle „selbsterwählte Geistlichkeit“, das heißt jeglichen ersonnenen Gottesdienst, den sich die Menschen selbst ausdenken oder von anderen übernehmen, dazu auch alle Vorschriften über die Verehrung Gottes, die sie aus sich heraus aufzustellen wagen (Kol. 2,16-23). So ergibt sich also für uns: gottlos sind alle Satzungen, von denen man vorgibt, in ihrer Beobachtung sei der Dienst Gottes gelegen. Die Stellen aber, an denen Paulus im Galaterbrief darauf dringt, daß man den Gewissen, die doch von Gott allein regiert werden sollen, keinen Strick umlegen darf, sind deutlich genug; sie finden sich vornehmlich im fünften Kapitel des Briefes (Gal. 5,1-12). Es mag daher genügen, sie genannt zu haben.



IV,10,9

Weil aber die ganze Angelegenheit durch Beispiele besser deutlich werden wird, so ist es, bevor wir weitergehen, wohl angebracht, diese Lehre auf unsere Zeiten anzuwenden. Die sogenannten „kirchlichen“ Satzungen, mit denen der Papst samt den Seinen die Kirche beschwert, sind nach unserer Behauptung verderblich und gottlos; unsere Widersacher dagegen erklären, sie seien heilig und heilbringend. Diese Satzungen zerfallen nun allgemein in zwei Gruppen: die einen betreffen nämlich Zeremonien und gottesdienstliche Gebräuche, die anderen beziehen sich mehr auf die (kirchliche) Zucht. Besteht nun also eine gerechte Ursache, die uns bewegen muß, gegen beide anzugehen? Wahrhaftig eine gerechtere, als wir wohl möchten!



Zunächst: erklären die Urheber dieser Satzungen nicht selbst mit deutlichen Worten, daß in ihnen sozusagen der eigentliche Kern der Verehrung Gottes beschlossen liege? Was für einem Zweck sollen denn ihre Zeremonien anders dienen, als daß Gott durch sie verehrt werde? Und zwar geschieht das nicht allein aus dem „Irrtum der unerfahrenen Menge“ heraus, sondern mit Zustimmung derer, die das Lehramt innehaben! Ich befasse mich hier noch nicht mit den groben Abscheulichkeiten, mit denen sie jegliche Frömmigkeit zunichte zu machen unternommen haben – aber sie würden nicht so tun, als ob es ein so grausiges Verbrechen wäre, sich gegen irgendein noch so geringfügiges Gesetzlein vergangen zu haben, wenn sie eben nicht die Verehrung Gottes ihren Hirngespinsten unterordneten! Paulus hat doch gelehrt, es sei nicht tragbar, daß man die rechtmäßige Art und Weise der Verehrung Gottes dem Gutdünken der Menschen unterwerfe. Was für eine Sünde soll aber dann darin liegen, wenn wir heutzutage das, was er für untragbar erklärt hat, tatsächlich nicht ertragen können? Vor allem gar dann, wenn diese Leute gebieten, man solle Gott nach den „Elementen“ (Luther: „Satzungen“) dieser Welt verehren, während doch Paulus bezeugt, daß dies Christus zuwider ist (Kol. 2,20)! Auf der anderen Seite ist sehr wohl bekannt, mit welch scharfem Zwang sie die Gewissen daran binden, alles zu halten, was sie gebieten. Wenn wir hier Einspruch erheben, so haben wir gemeinsame Sache mit Paulus, der es auf keinerlei Weise duldet, daß die gläubigen Gewissen unter die Knechtschaft der Menschen gebracht werden (Gal. 5,1).



IV,10,10

Dazu kommt dann noch das Allerschlimmste: hat man einmal angefangen, die Religion durch dergleichen eitle Hirngespinste bestimmt sein zu lassen, so ergibt sich aus dieser Verkehrtheit sogleich auch die andere entsetzliche Verzerrung, die Christus den Pharisäern vorgeworfen hat, nämlich daß Gottes Gebot um der Satzungen der Menschen willen seine Geltung einbüßt (Matth. 15,3). Ich will gegen unsere gegenwärtigen Gesetzgeber nicht mit meinen eigenen Worten streiten – sie sollen wahrhaftig gewonnen haben, wenn sie es auf irgendeine Weise fertigbringen, sich von dieser Anklage Christi zu reinigen! Aber wie sollten sie sich zu entschuldigen vermögen? Bei ihnen gilt es doch als eine unendlich größere Sünde, wenn einer am Ende des Jahres die Ohrenbeichte unterlassen, als wenn er das ganze Jahr hindurch den schandbarsten Lebenswandel geführt hat! Sie halten es doch für unvergleichlich frevelhafter, wenn man am Freitag die Zunge mit einem geringen Geschmäcklein von Fleisch hat in Berührung kommen lassen, als wenn man den ganzen Leib alle Tage lang mit Hurerei verunreinigt hat! Es gilt bei ihnen als ganz wesentlich schlimmer, wenn man an einem Tage, der wer weiß welchem unbedeutenden Heiligen geweiht ist, die Hand an ein ehrliches Stück Arbeit gelegt hat, als wenn man immerfort alle Glieder mit den übelsten Bubenstücken beschäftigt gehalten! Wenn ein Priester durch eine rechtmäßige Ehe gebunden wird, so halten sie das für viel, viel „sündhafter“, als wenn er sich in tausendfältigen Ehebruch verstrickt! Wenn man eine zugesagte Wallfahrt nicht vollbracht hat, so soll das unendlich schlimmer sein, als wenn man bei allen Versprechungen das gegebene Wort bricht! Wenn man für den verschwenderischen und ebenso überflüssigen wie nutzlosen Prunk der Kirchengebäude kein Geld vergeudet hat, so gilt das als ungleich größere „Sünde“, als wenn man die Armen in ihrer allerschlimmsten Not im Stich gelassen hat. Viel, viel frevelhafter soll es sein, wenn man an einem Götzenbild ohne Ehrenbezeigung vorbeigegangen ist, als wenn man jegliche Art von Menschen schmählich behandelt hat! Unendlich schlimmer soll es sein, wenn man zu bestimmten Stunden nicht langatmige Worte ohne Sinn und Verstand dahergemurmelt hat, als wenn man in seinem Herzen niemals ein rechtes Gebet gesprochen! Wenn das nicht heißt, Gottes Gebote um der eigenen „Aufsätze“ willen ungültig machen (Matth. 15,3) – was dann? Wo sie doch die Beobachtung der Gebote Gottes bloß kühl und nur, um der Pflicht zu genügen, den Leuten anbefehlen – nichtsdestoweniger aber auf den strengen Gehorsam gegenüber ihren eigenen Satzungen mit Eifer und ängstlichem Nachdruck dringen, als ob diese alle Kraft der Frömmigkeit in sich beschlössen. Wo sie die Übertretung des göttlichen Gesetzes bloß mit geringfügigen Strafgenugtuungen ahnden, selbst den mindesten Verstoß gegen ein einziges ihrer eigenen Dekrete dagegen mit keiner leichteren Strafe rächen als mit Kerker, Verbannung, Feuer und Schwert! Wer Gott verachtet – gegen den sind sie nicht so streng und unerbittlich; wer aber sie verachtet, den verfolgen sie mit unversöhnlichem Haß bis zum äußersten. Und alle, deren Einfältigkeit sie gefangenhalten, unterweisen sie derart, daß sie es mit mehr Gleichmut ansehen würden, wenn Gottes gesamtes Gesetz umgestoßen, als wenn ein Tüttelchen an den Geboten – wie sie sagen: – der „Kirche“ verletzt würde. Zunächst liegt schon ein schweres Vergehen darin, daß man sich um ganz geringer und, wenn man bei Gottes Urteil stehenbleibt, freigelassener Dinge willen gegenseitig verachtet, verurteilt und verwirft. Als ob das nun aber noch nicht übel genug wäre, so legt man jetzt jenen „wertlosen Elementen dieser Welt“, wie sie Paulus im Galaterbrief nennt (Gal. 4,9; Luther: „Satzungen“), mehr Gewicht bei als den himmlischen Offenbarungsworten Gottes. Und so kommt es dazu: wer im Ehebruch beinahe freigesprochen wird, der wird über Essen und Trinken verurteilt, wem die Hure verstattet wird, dem versagt man ein Eheweib! Soweit bringt man es nämlich mit jenem pflichtvergessenen „Gehorsam“, der von Gott je mehr abweicht, je mehr er sich den Menschen zuwendet.
Simon W.

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IV,10,11

Es gibt noch zwei weitere, nicht geringe Mängel, die wir an diesen Satzungen mißbilligen. Erstens, daß sie zu einem großen Teil nutzlose, zuweilen auch närrische Verhaltungsweisen vorschreiben, und zweitens, daß durch ihre unermeßliche Menge die frommen Gewissen bedrückt werden und nun in eine gewisse Art von Judentum zurückgefallen, dermaßen an Schatten hängen, daß sie nicht zu Christus kommen können.

(1.) Daß ich diese Satzungen „närrisch“ und „nutzlos“ nenne, das wird, so weiß ich wohl, der Klugheit des Fleisches nicht einleuchten, die vielmehr solches Gefallen daran findet, daß man der Meinung ist, die Kirche würde ganz und gar verunstaltet, wenn man sie abschaffte. Aber das ist es eben, was Paulus schreibt: sie „haben einen Schein der Weisheit durch selbsterwählte Geistlichkeit und Demut“ und dadurch, daß sie durch ihre Härte zur Zähmung des Fleisches imstande zu sein scheinen (Kol. 2,23). Wahrhaftig eine sehr heilsame Mahnung, die uns nie aus dem Sinn kommen darf! Die menschlichen Satzungen, so sagt also Paulus, betrügen unter dem Schein der Weisheit. Woher haben sie denn diese Deckfarbe? Ja, eben daher, daß sie von Menschen ersonnen sind! Die menschliche Vernunft erkennt in ihnen ihr eigenes Werk wieder, und was sie dergestalt wiedererkannt hat, das nimmt sie bereitwilliger an als alles, was ihrer Eitelkeit weniger entsprechen möchte, und sei es auch das allerbeste. Und dann scheinen diese Satzungen auch geeignete Übungen zur Demut zu sein, weil sie den Verstand der Menschen unter ihrem Joch zu Boden gedrückt halten – und das ist dann das zweite, das ihnen Empfehlung verschafft! Endlich hat es den Anschein, als ob sie den Zweck hätten, die Lüste des Fleisches in Schranken zu halten und das Fleisch durch die Härte der (von ihnen geforderten) Enthaltsamkeit zu unterjochen, und deshalb scheinen sie verständig ausgedacht zu sein. Was sagt nun aber Paulus zu alledem? Reißt er den Satzungen etwa jene Masken herunter, damit schlichte Leute nicht durch solchen falschen Vorwand betrogen werden? Nein, er ist der Überzeugung, daß zur Ablehnung seine Erklärung genügt, diese Satzungen seien von Menschen ausgeklügelt (Kol. 2,22), und deshalb übergeht er das alles, als ob er es für nichts achtete, ohne Widerlegung. Ja, weil er wußte, daß in der Kirche jeglicher ersonnene Gottesdienst verdammt und den Gläubigen um so mehr verdächtig ist, je mehr er der menschlichen Vernunft behagt, weil er wußte, daß jenes falsche Bild äußerlicher Demut so wenig mit wahrer Demut zu schaffen hat, daß sie leicht voneinander zu unterscheiden sind, und da er endlich wußte, daß jene (durch die „Satzungen“ bewirkte) Erziehung nicht höher zu achten ist als eine leibliche Übung, so hatte er den Willen, daß eben das, um des willen die menschlichen Satzungen bei einfältigen Leuten angepriesen werden, für die Gläubigen zu deren Widerlegung dienen soll.



IV,10,12

So wird heutzutage von dem Schaubild der Zeremonien nicht nur das ungelehrte Volk wundersam gefangengenommen, sondern auch sonst jedermann, so sehr er auch von der Weltklugheit aufgeblasen sein mag. Heuchler aber und närrische Weiblein sind der Meinung, Köstlicheres und Besseres ließe sich nichts erdenken. Wer dagegen tiefer nachforscht und wahrheitsgemäßer nach der Regel der Frömmigkeit erwägt, was eigentlich die Zeremonien in solcher Anzahl und Gestalt für einen Wert haben, der wird verstehen, daß sie erstens lauter Possenzeug sind, weil sie ja keinerlei Nutzen haben, und zweitens Gaukeleien, weil sie die Augen der Zuschauer mit eitlem Prunk betrügen. Ich rede von solchen Zeremonien, unter denen nach der Meinung der römischen Lehrmeister große Geheimnisse verborgen liegen, die aber nach unserer Erfahrung nichts anderes sind als lauter Spott und Hohn. Es ist auch kein Wunder, daß die Urheber dieser Zeremonien darauf verfallen sind, sich selbst wie auch andere mit wertlosen Albernheiten zu Narren zu halten; denn sie haben sich teils an den Phantastereien der Heiden ein Beispiel genommen, teils haben sie wie die Affen ohne Besinnung die alten Gebräuche des mosaischen Gesetzes nachgeahmt, die mit uns ebensowenig zu tun hatten wie Tieropfer und anderes dergleichen. Wahrhaftig, selbst wenn es sonst kein Beweisstück mehr gäbe, so würde doch niemand, der bei gesunden Sinnen ist, von solch einem schlecht zusammengerührten Gemisch irgend etwas Gutes erwarten. Auch führen es einem die Tatsachen selbst klar vor Augen, daß sehr viele Zeremonien keine andere Verwendung haben, als das Volk zu verblüffen, statt es zu unterweisen. So legen die Heuchler auch diesen neueren Rechtssatzungen, die doch die kirchliche Zucht mehr verkehren als erhalten, großes Gewicht bei; wenn sie aber jemand genauer bei Licht besieht, so wird er finden, daß sie nichts sind als ein schattenhaftes, flüchtiges Trugbild von Zucht!



IV,10,13

(2.) Und dann, um auf das Zweite einzugehen, wer sieht denn nicht, daß die Satzungen dadurch, daß man eine auf die andere gehäuft hat, dermaßen überhandgenommen haben, daß sie für die christliche Kirche auf keinerlei Weise mehr zu ertragen sind? Von hier aus ist es dazu gekommen, daß in den Zeremonien wer weiß was für ein Judentum in die Erscheinung tritt und manche Verhaltungsmaßregeln für fromme Gemüter eine schlimme Quälerei mit sich bringen. Augustin beklagte es, daß (schon) zu seiner Zeit unter Beiseitelassen der Gebote Gottes alles von soviel Halsstarrigkeit erfüllt war, daß einer, der im Laufe seiner Taufwoche die Erde mit dem nackten Fuße berührt hatte, schärfer gestraft wurde als jemand, der seinen Verstand mit Trunkenheit ersäuft hatte. Er klagte, daß die Kirche, die doch nach dem Willen der Barmherzigkeit Gottes frei sein sollte, dermaßen bedrücke würde, daß die Lage der Juden erträglicher gewesen wäre (Brief 55, an Januarius). Mit was für Klagen würde wohl dieser heilige Mann, wenn er zu unseren Zeiten lebte, die Knechtschaft beweinen, die heutzutage besteht? Denn die Zahl der Satzungen ist heute zehnmal größer, und jedes einzelne Pünktchen wird hundertmal schärfer verlangt als dazumal. So pflegt es zu gehen: wo einmal diese verdrehten Gesetzgeber die Herrschaft gewonnen haben, da machen sie mit Gebieten und Verbieten kein Ende, bis sie es zur äußersten Eigensinnigkeit gebracht haben. Das hat Paulus trefflich angekündigt, wenn er sagt: „So ihr denn nun abgestorben seid … der Welt, was lasset ihr euch denn fangen mit Satzungen, als lebtet ihr noch … ? Du sollst … das nicht essen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren“ (Kol. 2,20f.; nicht ganz Luthertext). Denn das Wort haptesthai bedeutet sowohl „essen“ (wie Calvin übersetzt), als auch „angreifen“ (wie Luther übersetzt), und es wird also hier ohne Zweifel in der ersten Bedeutung gebraucht, damit keine überflüssige Wiederholung eintritt (das letzte Wort heißt „anrühren“!) Hier beschreibe er also sehr fein das Vorgehen der falschen Apostel. Den Anfang machen sie mit dem Aberglauben, indem sie nicht nur verbieten zu „essen“, sondern auch ein wenig zu versuchen. Haben sie das erreicht, so verbieten sie gleich auch das „Kosten“. Nachdem ihnen dann auch dies zugestanden ist, behaupten sie, es sei nicht zulässig, die Speise auch nur mit dem Finger „anzurühren“.



IV,10,14

Mit gutem Recht tadeln wir heute an den Menschensatzungen diese Tyrannei, durch die es dazu gekommen ist, daß die armen Gewissen durch unzählige Gebote und durch deren übertriebene Durchsetzung furchtbar gequält werden. Von den Rechtssatzungen, die sich auf die Kirchenzucht beziehen, war bereits an anderer Stelle dir Rede. Was soll ich von den Zeremonien sagen, mit denen man es fertiggebracht hat, daß Christus halb begraben worden ist und wir nun wieder zu den jüdischen Abbildern zurückgekehrt sind? „Christus, unser Herr“, sagt Augustin, „hat die Gemeinschaft des Neuen Volkes durch Sakramente geknüpft, die der Zahl nach sehr wenige, der Bedeutung nach ganz herrlich und sehr leicht einzuhalten sind“ (Brief 54, an Januarius). Wie weit die Vielzahl und Mannigfaltigkeit der Gebräuche, in die wir heutzutage die Kirche verstrickt sehen, von dieser Einfachheit entfernt ist, das läßt sich nicht genugsam aussagen. Ich weiß wohl, mit was für einem Kunstgriff manche spitzfindige Leute diese Verkehrtheit beschönigen. Sie behaupten, unter uns gäbe es sehr viele Leute, die ebenso unkundig wären, wie es damals im Volke Israel der Fall gewesen sei; diese Kinderzucht sei nun um solcher Leute willen eingerichtet, und die Stärkeren, die sie wohl entbehren konnten, dürften sie doch nicht vernachlässigen, weil sie doch sähen, daß sie für die schwachen Brüder von Nutzen sei! Ich entgegne: wir wissen sehr wohl, was man der Schwachheit der Brüder schuldig ist, aber wir behaupten auf der anderen Seite, daß den Schwachen nicht auf die Weise gedient wird, daß man sie unter großen Haufen von Zeremonien verschüttet. Nicht umsonst hat Gott zwischen uns und dem Volke des Alten Bundes den Unterschied festgelegt, daß er dies in kindlicher Weise unter Zeichen und Abbildern hat erziehen wollen, uns dagegen einfacher, ohne eine so große äußere Zurüstung. Wie ein Kind, so sagt Paulus, von dem Zuchtmeister je nach der seinem Alter entsprechenden Fassungskraft regiert und in Bewahrung gehalten wird, so sind auch die Juden unter dem Gesetz bewahrt worden (Gal. 4,1-3). Wir dagegen sind Erwachsenen ähnlich, die, von Vormundschaft und fremder Pflege befreit, die kindlichen Anfangsgründe nicht mehr nötig haben. Der Herr sah sicherlich voraus, welcher Art das Volk sein würde, das in seiner Kirche lebte, und auf welche Weise es regiert werden müßte. Trotzdem hat er in der eben ausgeführten Weise zwischen uns und den Juden einen Unterschied gemacht. Es ist also ein törichtes Vorgehen, wenn wir für die Unerfahrenen sorgen wollen, indem wir das Judentum wiederaufrichten, das doch Christus abgetan hat. Diese Ungleichartigkeit, die zwischen dem alten und dem neuen Volke (Gottes) besteht, hat Christus auch mit seinen eigenen Worten aufgezeigt, indem er zu dem samaritischen Weibe sagte, die Zeit sei gekommen, wo die „wahrhaftigen Anbeter“ „im Geist und in der Wahrheit“ Gott anbeteten (Joh. 4,23). Das war gewiß allezeit geschehen; aber die neuen „Anbeter“ unterscheiden sich darin von den alten, daß die geistliche Anbetung Gottes unter Mose mit vielen Zeremonien umschattet und gewissermaßen in sie eingewickelt war, während diese jetzt abgetan sind und Gott schlichter angebetet wird. Wer also diese Ungleichartigkeit verwischt, der stürzt die Ordnung um, die Christus eingesetzt und bekräftigt hat. Soll man nun also, so wird man fragen, den unkundigeren Leuten keinerlei Zeremonien geben, um ihrer Unerfahrenheit zu Hilfe zu kommen? Das behaupte ich nicht; denn ich bin der Meinung, daß ihnen eine solche Art von Hilfeleistung allgemein von Nutzen ist. Ich kämpfe hier nur darum, daß man dabei in einer Weise verfahre, die Christus in helles Licht stellt, nicht aber ihn verdunkelt. Uns sind von Gott wenige und sehr leicht auszuübende Zeremonien gegeben, und zwar dazu, daß sie uns auf den gegenwärtigen Christus weisen. Den Juden dagegen waren mehr gegeben: sie sollten eben Abbilder des nicht Gegenwärtigen (Christus) sein! Daß ich von Christus sage, er sei bei den Juden „nicht gegenwärtig“ gewesen, das bezieht sich nicht auf seine Kraft, sondern auf die Art und Weise, wie er sich darstellte. Damit nun also Maß gehalten wird, ist es erforderlich, daß in der Zahl der Zeremonien jene enge Begrenztheit, in ihrer Übung jene leichte Ausführbarkeit und in ihrer Bedeutung jene Würde gewahrt bleibt, die zugleich in der Klarheit besteht. Daß dies tatsächlich nicht geschehen ist – wozu soll man das noch aussprechen? Es steht ja jedermann vor Augen!
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,10,15

Ich übergehe hier, mit was für verderblichen Meinungen die Sinne der Menschen erfüllt werden, (wenn man ihnen z.B. beibringt), die Zeremonien seien Opfer, mit denen man Gott einen rechten Dienst darbrächte, kraft deren die Sünden sühnend getilgt würden und der Mensch Gerechtigkeit und Heil erlangte. Gewiß werden unsere Widersacher bestreiten, daß gute Dinge durch dergleichen von außen hinzukommende Irrtümer verdorben werden könnten; man könnte, so werden sie sagen, auch bei den von Gott gebotenen Werken in diesem Stück nicht weniger in Sünde verfallen. Trotzdem ist es doch noch empörender, daß man Werken, die man aufs Geratewohl nach menschlichem Gutdünken ersonnen hat, soviel Ehre zuerkennt, daß man glaubt, sich damit das ewige Leben verdienen zu können. Denn die von Gott befohlenen Werke empfangen deshalb eine Belohnung, weil der Gesetzgeber selbst im Blick auf den (in ihnen zutage tretenden) Gehorsam Wohlgefallen an ihnen hat. Sie empfangen ihren Wert also nicht aus eigener Würdigkeit oder eigenem Verdienst, sondern vielmehr daraus, daß Gott unseren Gehorsam ihm gegenüber so hoch achtet. Ich rede hier von der Vollkommenheit der Werke, die von Gott geboten, nicht von der, die vom Menschen geleistet wird. Auch die Werke des Gesetzes, die wir tun, haben nämlich allein aus Gottes unverdienter Freundlichkeit etwas Wohlgefälliges an sich, und zwar deshalb, weil der in ihnen liegende Gehorsam schwach und stückweise ist. Aber weil es hier nicht um eine Erörterung darüber geht, was die Werke ohne Christus für eine Bedeutung haben, so wollen wir diese Frage beiseitelassen. Dagegen wiederhole ich das, was zu der hier in Frage stehenden Erörterung gehört, noch einmal: alles, was die Werke an empfehlender Wirkung besitzen, das haben sie mit Rücksicht auf den Gehorsam, den Gott allein in Betracht zieht. Das bezeugt er durch den Propheten, wenn er spricht: „Ich habe keine Weisungen gegeben über Brandopfer und andere Opfer, sondern ich habe euch allein geboten, daß ihr meiner Stimme gehorcht“ (Jer. 7,22f.; summarisch), von den selbsterdachten Werken aber sagt er an anderer Stelle: „Ihr zählet Geld dar, aber nicht für Brot“ (Jes. 55,2; ungenau), oder ebenso: „Vergebens ehren sie mich nach Menschengeboten“ (Jes. 29,13; Matth. 15,9; ungenau). Unsere Widersacher werden es also auf keinerlei Weise beschönigen können, daß sie es dulden, wie das arme Volk in solchem äußerlichen Possenzeug die Gerechtigkeit sucht, um sie Gott entgegenzuhalten und um damit vor dem himmlischen Richterstuhl zu bestehen. Außerdem: ist das nicht ein Fehler, der Spott und Hohn verdiente, daß man den Leuten unverstandene Zeremonien gleich einer Schaubühnenvorstellung oder einer Zauberbeschwörung vor Augen führt? Denn es ist doch gewiß, daß alle Zeremonien verderbt und schädlich sind, wenn die Menschen dadurch nicht zu Christus geführt werden. Die Zeremonien aber, die unter dem Papsttum im Gebrauch sind, die werden von der Lehre getrennt, so daß sie die Menschen bei Zeichen festhalten, die jeglicher Bedeutung entbehren. Und schließlich: der Bauch ist ein erfindungsreicher Kunstmeister, und es liegt auf der Hand, daß viele Zeremonien von habgierigen Priestern erfunden worden sind, sie sollen eben Netze sein, mit denen man Geld fangen will! Diese Zeremonien mögen ihren Ursprung haben, wo sie wollen, so sind sie jedenfalls alle dermaßen an schnöden Gelderwerb preisgegeben, daß es not tut, einen guten Teil von ihnen abzuschaffen, wenn wir dafür sorgen wollen, daß in der Kirche kein unheiliger, heiligtumsschänderischer Schacher getrieben wird.



IV,10,16

Es mag vielleicht so scheinen, als ob ich hier keine dauernd gültige Lehre von den menschlichen Satzungen vortrüge, weil ja diese Ausführungen ganz und gar auf unsere Zeit zugeschnitten sind. Tatsächlich aber ist nichts gesagt worden, was nicht für alle Zeiten von Nutzen sein wird. Denn jedesmal, wenn der Aberglaube aufkommt, daß die Menschen Gott mit ihren eigenen Hirngespinsten verehren wollen, da entarten auch alle Gesetze, die man zu diesem Zweck erläßt, sogleich zu solchen groben Mißbräuchen. Denn wenn Gott droht, er wolle die, die ihn nach Menschenlehren verehren, mit Blindheit und Abstumpfung schlagen (Jes. 29,13f.), so kündigt er diesen Fluch nicht der einen oder anderen Zeit, sondern allen Jahrhunderten an. Diese Verblendung hat fort und fort zur Folge, daß die Menschen, die soviel Warnungen Gottes beiseitegeschoben haben und sich aus freien Stücken in diese verderblichen Stricke verfangen, keinerlei Widersinn mehr scheuen. Wenn man nun unter Beiseitelassen aller (derzeitigen) Umstände wissen will, welches zu allen Zeiten die menschlichen Satzungen sind, die von der Kirche verworfen und von allen Frommen abgelehnt werden müssen, dann soll dazu die oben bereits aufgestellte, sichere und klare Begriffsbestimmung dienen: Solche menschlichen Satzungen sind sämtliche Gesetze, die die Menschen ohne Gottes Wort zu dem Zweck erlassen haben, entweder eine Art und Weise der Verehrung Gottes vorzuschreiben oder die Gewissen durch heilige Scheu zu binden, als ob sich die gegebenen Vorschriften auf heilsnotwendige Dinge bezögen. Wenn dann zu einem von diesen beiden oder zu beiden noch andere Fehler kommen, nämlich daß diese Satzungen durch ihre Menge die Klarheit des Evangeliums verdunkeln, daß sie nichts aufbauen, sondern eher nutzlose und spielerische Beschäftigungen sind als wahrhafte Übungen der Frömmigkeit, daß sie der Habsucht und schnödem Gewinn dienen, daß sie viel zu schwer innezuhalten, daß sie mit üblem Aberglauben besudelt sind – wenn also dergleichen Fehler hinzukommen, so werden sie uns dazu behilflich sein, daß wir um so leichter merken, wieviel Verkehrtes in diesen Satzungen liegt.



IV,10,17

Ich höre nun wohl, was unsere Widersacher zu ihrer Verteidigung entgegnen: sie sagen, ihre Satzungen stammten gar nicht von ihnen selbst, sondern von Gott. Denn die Kirche werde ja, damit sie nicht irren könne, vom Heiligen Geiste regiert; seine Autorität aber liege nun bei ihr. Haben sie das durchgesetzt, dann wird daraus gleich die Folgerung gezogen, ihre Satzungen seien Offenbarungen des Heiligen Geistes, die man nur aus Gottlosigkeit und unter Verachtung Gottes geringschätzen könnte. Und damit sie nicht den Eindruck erwecken, als ob sie etwas ohne gewichtige Gewährsmänner unternähmen, so wollen sie, daß man ihnen glaubt, ein wesentlicher Teil ihrer Satzungen sei von den Aposteln ausgegangen. Sie behaupten, es werde bereits durch ein einziges Beispiel genugsam dargetan, wie die Apostel in anderen Fällen gehandelt hätten, nämlich durch jenen Vorgang damals, als sie, zu einem Konzil versammelt, auf Beschluß dieses Konzils allen Heiden die Botschaft zukommen ließen, sie sollten „sich enthalten vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten …” (Apg. 15,20.29). Wir haben nun schon an anderer Stelle dargelegt, wie unberechtigt sie für sich den Titel „Kirche“ erlügen, um sich damit zu rühmen. Was nun aber die jetzt zur Verhandlung stehende Sache betrifft: wenn wir alle Masken und Scheinfarben wegreißen und wahrhaft auf das achten, dem in erster Linie unsere Sorge gelten muß und das uns auch am allermeisten angeht, wenn wir nämlich darauf achten, was für eine Kirche Christus haben will, damit wir uns nach seiner Regel richten und verhalten, so werden wir leicht zu der festen Überzeugung kommen: das ist nicht die Kirche, die unter Außerachtlassung aller Grenzen des Wortes Gottes in Übermut und Willkür neue Gesetze aufstellt! Der Kirche ist doch einmal das Gesetz gegeben worden: „Alles, was ich dir gebiete, das sollst du halten, daß du darnach tust. Du sollst nichts dazutun noch davontun“ (Deut. 13,1; eigentlich alles in der Mehrzahl) – und bleibt dies Gesetz nicht ewig bestehen? An anderer Stelle heißt es: „Tue zu dem Wort des Herrn nichts hinzu und tue nichts davon, auf daß er dich nicht strafe und du werdest lügenhaft erfunden“ (Spr. 30,6; Anfang ungenau). Da nun unsere Widersacher nicht leugnen können, daß dies Wort der Kirche gesagt ist, was behaupten sie dann anders als die Widerspenstigkeit der Kirche, wenn sie rühmen, sie habe es nach derartigen Verboten nichtsdestoweniger gewagt, der Unterweisung Gottes aus dem Ihrigen heraus etwas zuzufügen oder beizumischen. Es sei aber ferne, daß wir zu ihren Lügen, mit denen sie der Kirche solche Schmach antun, unsererseits Ja sagten; nein, wir sollen erkennen, daß der Name „Kirche“ fälschlich vorgewendet wird, so oft man sich (verteidigend) um diese Willkür der menschlichen Vermessenheit bemüht, die sich nicht innerhalb der Gebote Gottes halten kann, sondern frech losspringt und ihren eigenen Erfindungen zueilt. An den (obigen) Worten, in denen der gesamten Kirche verboten wird, zu Gottes Wort, wenn es sich um die Verehrung des Herrn und seine heilsamen Weisungen handelt, etwas zuzufügen oder etwas davonzutun, ist nichts verhüllt, nichts dunkel, nichts zweideutig. Ja, wird man sagen, aber das ist nur vom Gesetz gesagt, und diesem sind doch die Worte der Propheten und die ganze Austeilung des Evangeliums gefolgt! Das gebe ich freilich zu, und ich füge gleich noch an: Prophetenworte und Evangelium sind vielmehr Erfüllung des Gesetzes als etwa Zusatz oder Verkürzung. Wenn nun aber der Herr, obwohl der Dienst des Mose unter sehr vielen Hüllen sozusagen im Dunkeln lag, trotzdem nicht duldet, daß etwas dazugetan oder davon weggenommen wird, bis er durch seine Knechte, die Propheten, und schließlich durch seinen geliebten Sohn eine deutlichere Unterweisung ausgehen läßt – warum sollen wir dann nicht dafür halten, daß es uns noch viel schärfer untersagt ist, zum Gesetz, zu den Propheten, zu den Psalmen und zum Evangelium noch etwas hinzuzufügen? Der Herr, der schon längst erklärt hat, daß er durch nichts so sehr beleidigt wird, als wenn man ihn nach Menschenfündlein verehrt, er ist sich selbst nicht untreu geworden. Daher auch jene herrlichen Worte bei den Propheten, die uns immerfort in den Ohren klingen sollten. So: „Ich habe euren Vätern des Tages, da ich sie aus Ägyptenland führte, weder gesagt noch geboten von Brandopfern und anderen Opfern; sondern dies gebot ich ihnen und sprach: Gehorchet meinem Wort, so will ich euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein; und wandelt auf allen Wegen, die ich euch gebiete …” (Jer. 7,22f.). Oder ebenso: „Ich habe euren Vätern stets bezeugt und gesagt: Gehorchet meiner Stimme!“ (Jer. 11,7; nicht ganz Luthertext). Dazu kommen andere Worte gleicher Art; herrlich vor anderen aber ist dies: „Meinst du, daß der Herr Lust habe am Brandopfer und Opfer und nicht vielmehr daran, daß man seiner Stimme gehorche? Siehe, Gehorsam ist besser denn Opfer und Aufmerken besser denn das Fett von Widdern. Denn Ungehorsam ist eine Zaubereisünde, und Widerstreben ist Abgötterei …” (1. Sam. 15,22f.; nicht ganz Luthertext). Wenn man also irgendwelche Menschenfündlein in diesem Stück mit der Autorität der „Kirche“ verteidigt, so läßt sich sofort beweisen, daß sie der Kirche zu Unrecht beigemessen werden, weil sie ja von der Sünde der Gottlosigkeit nicht freizusprechen sind.



IV,10,18

Aus diesem Grunde gehen wir auf diese Tyrannei menschlicher Satzungen, die uns unter dem Namen der „Kirche“ hochfahrend aufgedrungen wird, unbefangen vor. Denn es ist nicht so, wie unsere Widersacher es unbillig erlügen, um uns verhaßt zu machen: wir treiben nicht etwa mit der Kirche Spott, sondern wir zollen ihr das Lob des Gehorsams – und ein größeres Lob kennt sie nicht! vielmehr tun unsere Widersacher der Kirche bitteres Unrecht; denn sie stellen sie als widerspenstig gegen ihren Herrn dar, indem sie so tun, als ob sie weiter gegangen wäre, als es ihr durch des Herrn Wort erlaubt war. Ich will noch davon schweigen, was für eine augenfällige Unverschämtheit, verknüpft mit einer ebensolchen Niederträchtigkeit, es ist, wenn man immerfort von der „Gewalt der Kirche“ ein großes Geschrei macht, unterdessen aber davon schweigt, was der Kirche von dem Herrn aufgetragen und welchen Gehorsam sie der Weisung des Herrn schuldig ist. Wenn wir aber, wie es billig ist, den Willen haben, mit der Kirche in Eintracht zu leben, dann gehört dazu vielmehr dies, daß wir darauf sehen und uns daran erinnern, was uns und der Kirche von dem Herrn vorgeschrieben wird, damit wir ihm in einer Eintracht gehorchen! Denn es steht außer Zweifel, daß wir mit der Kirche aufs beste in Eintracht leben werden, wenn wir uns dem Herrn in allen Dingen gehorsam erweisen. Wenn unsere Widersacher nun aber den Ursprung der Satzungen, von denen die Kirche bislang unterdrückt worden ist, auf die Apostel zurückführen, so ist das eitel Betrug. Denn die ganze Lehre der Apostel geht darauf aus, daß die Gewissen nicht mit neuen Aufsätzen beschwert werden und die Verehrung Gottes nicht durch unsere Fündlein besudelt wird. Zudem: wenn man den Geschichtsbüchern und den alten Urkunden einige Glaubwürdigkeit beimessen muß, so ist den Aposteln das, was unsere Widersacher ihnen beilegen, nicht nur unbekannt, sondern unerhört gewesen. Die Papisten sollen auch nicht schwatzen, sehr viele Lehren der Apostel seien eben durch Übung und Gewohnheit zur Annahme gelangt, während sie schriftlich nicht überliefert wären; das seien nämlich jene, die sie, als Christus noch lebte, noch nicht zu begreifen vermocht, nach seiner Himmelfahrt aber durch Offenbarung des Heiligen Geistes gelernt hätten, von der Auslegung der hier herangezogenen Stelle (Joh. 16,12f.) haben wir bereits anderwärts gesprochen (Kap. 8, Sektion 8 und 13). Für die jetzt zur Erörterung stehende Sache genügt dies: unsere Widersacher machen sich ja wahrhaftig selber lächerlich, indem sie aus jenen gewaltigen Geheimnissen, die den Aposteln so lange Zeit hindurch unbekannt gewesen sein sollen, teils jüdische oder heidnische Gebräuche machen – wo doch die einen bei den Juden, die anderen bei den Heiden schon lange vorher bekanntgemacht waren -, teils auch närrische Gebärden und sinnlose Zeremonien, die alberne Priester, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, durchaus nach allen Regeln der Kunst zu üben vermögen, ja, die gar Kinder und Narren so geschickt nachmachen, daß man den Eindruck gewinnen könnte, es gäbe gar keine geeigneteren Meister zu solchen heiligen Handlungen! Selbst wenn es keine Geschichtsbücher gäbe, so würden verständige Leute doch aus den Tatsachen selbst heraus zu dem Urteil gelangen, daß ein so großer Haufen von Zeremonien und Gebräuchen nicht auf einmal in der Kirche eingerissen ist, sondern sich nach und nach eingeschlichen hat. Denn nachdem die heiligeren Bischöfe, die den Aposteln der Zeit nach am nächsten standen, bereits einige Einrichtungen getroffen hatten, die sich auf Ordnung und Zucht bezogen, sind dann hernach, einer nach dem anderen, Leute gefolgt, die nicht besonnen genug, dazu auch gar zu vorwitzig und leidenschaftlich waren, und die haben nun, je später sie auftraten, in um so törichterer Eifersucht mit ihren (jeweiligen) Vorgängern gewetteifert, um ihnen nur ja nicht in der Ausklügelung von Neuerungen nachzustehen. Und weil die Gefahr bestand, daß ihre Fündlein in kurzer Zeit in Abgang gerieten, während sie doch aus ihnen bei den Nachkommen Ruhm zu erlangen trachteten – so waren sie in der Forderung nach Beobachtung ihrer Fündlein viel schärfer. Diese verkehrte Nacheiferung hat uns einen guten Teil jener Gebräuche eingetragen, die uns die Papisten als apostolisch verkaufen wollen. Eben das bezeugen auch die Geschichtsbücher.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,10,19

Aber wenn wir von allen Zeremonien ein Register zusammenstellen wollten, so würden wir gar zu sehr ins Weite geraten. Um das zu vermeiden, wollen wir uns mit einem einzigen Beispiel begnügen. In der Bedienung des Heiligen Abendmahls bestand unter den Aposteln große Einfachheit. Ihre nächsten Nachfolger haben zum Preis der Würde des Geheimnisses (Sakraments) einiges hinzugefügt, das nicht zu mißbilligen wäre. Aber hernach sind jene närrischen Nachmacher dazugekommen, die nach und nach die verschiedenartigen Stückchen zusammengeflickt und uns die Gewandung des Priesters, die wir in der Messe zu sehen bekommen, dazu auch den heutigen Altarschmuck, die heutzutage üblichen Gebärden und den ganzen Packen von unnützen Dingen zusammengestellt haben. Jedoch werden unsere Widersacher den Einwand machen, es habe in alter Zeit die Überzeugung bestanden, daß alles, was in der gesamten Kirche in voller Einmütigkeit geschähe, von den Aposteln selbst ausgegangen sei. Dafür ziehen sie Augustin als Zeugen heran. Ich werde dagegen nirgendwo anders her als eben aus den Worten Augustins die Widerlegung vorbringen. „Was auf dem ganzen Erdkreis gehalten wird“, sagt er, „das läßt sich als von den Aposteln selbst oder von den allgemeinen Konzilien, deren Autorität in der Kirche sehr heilsam ist, festgesetzt erkennen: so zum Beispiel, daß das Leiden, die Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn sowie die Ankunft des Heiligen Geistes mit jährlich wiederkehrenden Festen gefeiert werden, dazu kommt auch, was sonst in dieser Art vorgekommen ist, wenn es von der ganzen Kirche gehalten wird, soweit sie sich auch ausbreitet“ (Brief 54, an Januarius). Wer sollte, da Augustin nur so wenige Beispiele aufzählt, nicht bemerken, daß er den Wunsch gehabt hat, die damals üblichen Bräuche, und zwar nur jene einfachen, an Zahl geringen und schlichten, in welche die Ordnung der Kirche nützlicherweise verfaßt ist, auf Gewährsmänner zurückzuführen, die Glauben und Ehrfurcht verdienten? Wie weit aber ist das von dem entfernt, was die römischen Meister erzwingen wollen, nämlich daß es bei ihnen keine geringe Zeremonie geben soll, die nicht als apostolisch gelten müßte!



IV,10,20

Um es nicht zu lang zu machen, will ich nur ein einziges Beispiel vorbringen. Wenn jemand die Römischen fragt, woher sie ihr „Weihwasser“ hätten, so antworten sie sogleich: von den Aposteln. Als ob die Geschichtsbücher dieses Fündlein nicht ich weiß nicht was für einem Bischof von Rom zuschrieben, der, wenn er die Apostel zu Rate gezogen hätte, die Taufe sicherlich nie und nimmer mit solchem ihr fremden und unangebrachten Merkzeichen besudelt hätte. Allerdings ist es mir auch nicht wahrscheinlich, daß dieser Weiheakt (mit dem Wasser) bereits zu so alter Zeit entstanden ist, wie man es in den Geschichtsbüchern darstellt. Denn Augustin sagt, zu seiner Zeit hätten einige Kirchen den nach Christi Vorbild geschehenden feierlichen Brauch der Fußwaschung vermieden, damit es nicht den Anschein hätte, als gehörte dieser zur Taufe (Brief 55, an Januarius); damit aber zeigt er mittelbar, daß es damals keinerlei Waschung gab, die mit der Taufe irgendeine Ähnlichkeit gehabt hätte. Wie dem auch sei, so werde ich jedenfalls unter keinen Umständen zugeben, daß es aus apostolischem Geiste hervorgegangen sei, daß man die Taufe vermittelst eines tagtäglich wiederkehrenden Zeichens ins Gedächtnis zurückruft und sie dadurch gewissermaßen wiederholt. Ich bekümmere mich auch nicht darum, daß der nämliche Augustin an anderer Stelle auch selbst manche anderen Dinge den Aposteln zuschreibt. Denn er hat nichts als Vermutungen, und deshalb darf man auf ihrer Grundlage in so wichtiger Sache kein Urteil fällen. Und schließlich: selbst wenn wir zugeben, die von ihm erwähnten Gebräuche rührten aus der Zeit der Apostel her, so besteht doch noch ein großer Unterschied, ob man irgendeine Übung für die Frömmigkeit einrichtet, die die Gläubigen mit freiem Gewissen ausführen, aber auch, wenn die Ausübung ihnen keinen Segen trägt, unterlassen können, oder ob man ein Gesetz aufstellt, das die Gewissen in Knechtschaft verstricken soll. Mag nun aber der, von dem diese Gebräuche ausgegangen sind, sein, wer er will, so sehen wir doch nun, daß sie in einen so schweren Mißbrauch verfallen sind, und deshalb steht nichts im Wege, daß wir sie, ohne ihrem Urheber damit Schande zu tun, abschaffen; denn sie haben nie und nimmer eine solche Empfehlung bekommen, daß sie etwa fort und fort unberührt weiterbestehen müßten!



IV,10,21

Auch hilft es unseren Widersachern nicht viel, daß sie als Vorwand zur Beschönigung ihrer Tyrannei das Beispiel der Apostel anführen. Die Apostel und Ältesten der ersten Kirche, so sagen sie, haben doch außerhalb der Anweisung Christi mit bindender Wirkung einen Beschluß ausgehen lassen, kraft dessen sie allen Heiden geboten, sie sollten sich des Götzenopfers, des Erstickten und des Blutes enthalten (Apg. 15,20). Wenn ihnen das erlaubt war, warum sollten nicht auch ihre Nachfolger das Recht haben, ihnen das gleiche nachzutun, so oft die Verhältnisse es erfordern? Ach, wenn sie ihnen sonst stets in anderen Dingen und dann auch ebenso in dieser Sache nachfolgen wollten! Denn ich behaupte, daß die Apostel in diesem Fall gar nichts Neues eingerichtet oder beschlossen haben, und ich kann das auch leicht mit starken Gründen beweisen. Denn Petrus erklärt in diesem Konzil, man versuche Gott, wenn man den Jüngern ein Joch auf den Nacken legte (Apg. 15,10); gibt er also hernach seine Zustimmung dazu, daß man ihnen doch ein Joch auferlegt, so wirft er selbst seine Meinung über den Haufen. Tatsächlich aber würde ihnen ein solches Joch aufgelegt, wenn die Apostel aus eigener Autorität beschlössen, man müsse den Heiden verbieten, Götzenopfer, Blut und Ersticktes anzurühren! Nun bleibt aber noch das Bedenken bestehen, daß sie trotzdem ein Verbot auszusprechen scheinen. Aber das wird leicht behoben werden, wenn man auf den Sinn dieses Beschlusses genauer sein Augenmerk richtet; denn der Reihenfolge nach das erste und der Bedeutung nach das wichtigste Hauptstück dieses Beschlusses ist doch dies, man müsse den Heiden ihre Freiheit lassen, dürfe sie nicht verwirren und ihnen wegen der Gebräuche des Gesetzes keine Beschwernis bereiten (Apg. 15,19.24.28). Bis dahin steht der Beschluß glänzend auf unserer Seite. Die Ausnahme, die aber dann gleich folgt (Apg. 15,20.29), ist nun nicht ein neues Gesetz, das die Apostel gegeben hätten, sondern ein göttliches und ewiges Gebot Gottes, nämlich daß wir die Liebe nicht verletzen sollen, und ebensowenig benimmt sie jener Freiheit auch nur ein Pünktlein, sondern macht die Heiden nur darauf aufmerksam, auf welche Weise sie sich den Brüdern anpassen sollen, um ihre Freiheit nicht dahin zu mißbrauchen, daß sie den Brüdern einen Anstoß bereite. So ist nun also dies der zweite Hauptpunkt dieses Beschlusses: die Heiden sollen ihre Freiheit gebrauchen, ohne damit jemand zu Schaden und ohne den Brüdern einen Anstoß zu geben. Ja, wird man sagen, aber sie geben doch eine ganz bestimmte Vorschrift! Gewiß, soweit es für die damalige Zeit nützlich war, lehren sie nämlich und machen sie deutlich, mit welchen Dingen die Heiden bei ihren Brüdern solches Ärgernis erregen könnten, und zwar geschieht das, damit sie sich vor diesen Dingen in acht nehmen; dagegen ist es nicht so, als ob sie zu dem ewigen Gesetz Gottes, das uns verbietet, den Brüdern Anstoß zu geben, aus dem Eigenen heraus etwas Neues hinzufügten.



IV,10,22

Es ist so, wie wenn treue Hirten, die einer noch nicht recht geordneten Kirche vorstehen, all den Ihrigen die Weisung geben, am Freitage nicht öffentlich Fleisch zu essen, an den Festtagen nicht öffentlich zu arbeiten und ähnliches, bis daß die Schwachen, mit denen sie zusammenleben, herangewachsen sind. Denn diese Dinge sind zwar, wenn man den Aberglauben beiseiteläßt, an und für sich „Mitteldinge“; sobald aber ein Anstoß für die Brüder hinzukommt, kann man sie nicht treiben, ohne sich zu versündigen. Die Zeiten sind aber derart, daß die Gläubigen ihren schwachen Brüdern diesen Anblick nicht vor Augen führen dürfen, ohne ihr Gewissen dadurch aufs schwerste zu verletzen. Wer wird nun – er sei denn ein Lästerer – behaupten wollen, hier würde ein neues Gesetz gemacht, während doch solche Männer (die derartige Verbote aussprechen) unzweifelhaft bloß Anstöße verhindern wollen, die von dem Herrn ausdrücklich genug untersagt sind? Nichts mehr läßt sich auch von den Aposteln behaupten; denn wenn diese den Anlaß für Anstöße aus dem Wege räumten, so hatten sie damit doch nichts anderes im Sinne, als auf das göttliche Gesetz Nachdruck zu legen, das uns die Vermeidung von Ärgernissen gebietet. Es ist, als wenn sie gesagt hätten: Es ist Gottes Gebot, daß ihr den schwachen Bruder nicht verletzt; ihr könnt nun aber das, was den Abgöttern geopfert ist, das Erstickte und das Blut nicht essen, ohne daß daran die schwachen Brüder Anstoß nehmen; wir gebieten euch also in dem Worte des Herrn, daß ihr nicht unter solchem Ärgernis esset. Dafür, daß eben dies die Absicht der Apostel gewesen ist, ist Paulus der beste Zeuge; denn er schreibt unzweifelhaft allein auf Grund der Entscheidung jenes Konzils: „Von dem Götzenopfer aber wissen wir …, daß ein Götze nichts sei … Etliche aber machen sich noch ein Gewissen über dem Götzen und essen’s für Götzenopfer; damit wird ihr Gewissen, weil es so schwach ist, befleckt … Sehet … zu, daß … eure Freiheit nicht gerate zu einem Anstoß der Schwachen!“ (1. Kor. 8,1.4.7.9; fast ganz Luthertext). Wer das recht erwogen hat, dem wird man dann weiter nichts vormachen können, wie es die Leute tun, die sich zur Beschönigung ihrer Tyrannei auf die Apostel berufen, als ob diese mit ihrem Beschluß angefangen hätten, die Freiheit der Kirche zu brechen. Aber damit unsere Widersacher nicht darum herumkommen, mit ihrem eigenen Zugeständnis diese Lösung zu bekräftigen, so sollen sie mir doch antworten, mit welchem Recht sie eben jenen Beschluß abzuschaffen gewagt haben! Sie haben es doch deshalb getan, weil von jenen Ärgernissen und Entzweiungen, denen die Apostel hatten begegnen wollen, weiter keine Gefahr mehr drohte, und weil sie wußten, daß ein Gesetz nach seiner Absicht beurteilt werden muß. Da also dies Gesetz mit Rücksicht auf die Liebe erlassen worden ist, so wird in ihm nur soviel geboten, wie die Liebe erfordert. Wenn sie nun zugeben, daß es keine andere Übertretung dieses Gesetzes gibt als die Verletzung der Liebe, weshalb erkennen sie dann nicht zugleich an, daß es eben nicht ein selbstersonnener Zusatz zu Gottes Gesetz ist, sondern vielmehr eine saubere und einfache Anwendung desselben auf die Zeiten und Sitten, für die es bestimmt war?
Simon W.

Der Pilgrim
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Beitrag von Der Pilgrim »

IV,10,23

Aber die Papisten behaupten, daß wir solchen (kirchlichen) Gesetzen, und mögen sie auch hundertmal unbillig und ungerecht für uns sein, dennoch ohne Ausnahme zu gehorchen haben. Sie sagen, es handle sich hier nicht darum, daß wir zu Irrtümern unsere Zustimmung geben, sondern nur darum, daß wir als Untertanen die harten Befehle unserer Oberen durchführen sollten, da es nicht unsere Sache sei, uns ihnen zu entziehen. Aber auch hier kommt uns der Herr aufs beste mit der Wahrheit seines Wortes zu Hilfe und rettet uns aus solcher Knechtschaft in die Freiheit, die er uns mit seinem heiligen Blute erworben hat (1. Kor. 7,23), dessen Wohltat er uns in seinem Worte mehr als einmal versiegelt. Denn es handelt sich nicht – wie unsere Widersacher in ihrer Bosheit vorgeben – bloß darum, daß wir an unserem Leibe einige schwere Bedrückung ertragen sollen, nein, es geht darum, daß unsere Gewissen ihrer Freiheit, das heißt der Wohltat des Blutes Christi, beraubt werden und knechtisch gequält werden sollen! Aber ich will auch das beiseitelassen, als ob es wenig zur Sache täte. Wieviel aber macht es nach unserer Meinung aus, daß dem Herrn sein Reich entrissen wird, das er mit solcher Strenge für sich in Anspruch nimmt? Tatsächlich wird ihm aber das Reich geraubt, so oft man ihn nach den Gesetzen menschlicher Fündlein verehrt; denn er will allein als Gesetzgeber für die Verehrung gelten, die man ihm erweist. Damit nun aber niemand meint, das sei eine unwesentliche Sache, so wollen wir hören, welch hohen Wert ihr der Herr beimißt. „Darum“, spricht er, „daß mich dies Volk fürchtet nach Menschengebot und Menschenlehren, siehe, so will ich es bestürzt machen mit einem gewaltigen und erstaunlichen Wunder; denn seinen Weisen wird die Weisheit entfallen, und von den Ältesten soll der Verstand weichen“ (Jes. 29,13f.; nicht Luthertext). An anderer Stelle heißt es: „Vergeblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehren, die nichts denn Menschengebote sind“ (Matth. 15,9). Und in der Tat wird die Ursache für das ganze Unheil, daß die Kinder Israel sich mit vielfältiger Abgötterei besudelt haben, dieser unsauberen Vermischung zugeschrieben, die dadurch entstand, daß sie Gottes Gebote übertraten und sich neue Gottesdienste zusammenschmiedeten. Daher berichtet auch die heilige Geschichte, daß die neu hinzugekommenen Einwohner, die der König von Babel herangeführt hatte, um Samaria zu bevölkern, von wilden Tieren zerrissen und gefressen worden seien, und zwar deshalb, weil sie die Rechte und Satzungen „des Gottes im Lande“ nicht gekannt hätten. Selbst wenn sie bei den Zeremonien nichts versehen hätten, so wäre Gott doch das inhaltlose Gepränge nicht wohlgefällig gewesen; aber er hat unterdessen nicht davon abgesehen, die Schändung seiner Verehrung zu strafen, weil die Menschen selbsterdachte Dinge aufbrachten, die mit seinem Worte nichts zu tun hatten. Deshalb heißt es hernach, sie hätten, durch diese Bestrafung erschreckt, die im Gesetz vorgeschriebenen Gebräuche angenommen; aber weil sie Gott noch nicht rein verehrten, so wird zweimal wiederholt, sie hätten Gott verehrt und doch auch wieder nicht verehrt (1. Kön. 17,24f.32f.41). Daraus entnehmen wir, daß die Ehrfurcht, die ihm erzeigt wird, zum Teil darin besteht, daß wir bei seiner Verehrung einfältig dem folgen, was er uns gebietet, und keine eigenen Erfindungen hineinmengen. Deshalb werden auch die gottesfürchtigen Könige häufiger darum gelobt, weil sie nach allen Geboten gehandelt hätten und weder zur Rechten noch zur Linken abgewichen wären (2. Kön. 22,1f.; 1. Kön. 15,11; 22,43; 2. Kön. 12,3; 14,3; 15,3; 15,34; 18,3). Ich gehe noch weiter: selbst wenn in einer vom Menschen ersonnenen Gottesverehrung keine offenkundige Gottlosigkeit zutage tritt, so wird sie vom Heiligen Geiste doch streng verurteilt, weil man von Gottes Gebot abgewichen ist. Der Altar des Ahas, dessen Vorbild von Samaria herbeigebracht war, konnte den Eindruck erwecken, als ob er den Zierat des Tempels vermehrte; denn Ahas hatte die Absicht, auf ihm Gott allein Opfer darzubringen, und das konnte er hier glanzvoller tun als auf dem ersten, althergebrachten Altar; trotzdem aber sehen wir, daß der Heilige Geist diese Vermessenheit verflucht, und zwar aus keiner anderen Ursache, als weil Menschenfündlein bei der Verehrung Gottes unreine Verderbnisse darstellen (2. Kön. 16,10-18). Und je klarer uns der Wille Gottes offenbart ist, desto weniger ist die Frechheit zu entschuldigen, hier irgend etwas zu versuchen. Deshalb wird die Schuld des Manasse verdientermaßen durch den Umstand schwerer gemacht, daß er in Jerusalem einen neuen Altar aufgerichtet hatte, während doch Gott von der Stadt gesagt hatte: „Ich will meinen Namen zu Jerusalem setzen“ (2. Kön. 21,3f.). Denn jetzt bedeutete ja seine Tat geradezu eine vorsätzliche Schmähung der Autorität Gottes.



IV,10,24

Viele verwundern sich, warum denn der Herr so scharf droht, er wolle dem Volke, von dem er nach Menschengeboten verehrt würde, erstaunliche Dinge zufügen (Jes. 29,13f.), und warum er kundmacht, es sei umsonst, wenn man ihm nach Menschensatzungen diene (Matth. 15,9). Aber wenn diese Leute ihr Augenmerk darauf richteten, was es bedeutet, in Sachen der Religion, das heißt der himmlischen Weisheit, allein an Gottes Mund zu hängen, so würden sie zugleich sehen, daß keine geringfügige Ursache besteht, weshalb der Herr dergleichen verkehrte „Dienste“, die ihm nach der Willkür der menschlichen Vernunft geleistet werden, dermaßen verabscheut. Denn obgleich die Menschen, die solchen Gesetzen für die Verehrung Gottes Folge leisten, in diesem ihrem Gehorsam einen gewissen Schein von Demut haben, so sind sie doch vor Gott keineswegs demütig, weil sie ihm ja die gleichen Gesetze vorschreiben, die sie selber innehalten. Das ist aber der Grund, weshalb Paulus will, daß wir uns so fleißig davor hüten, uns von den Überlieferungen der Menschen betrügen zu lassen (Kol. 2,4) und von jener „selbsterwählten Geistlichkeit“, wie er sie nennt, das heißt also von dem eigenwilligen und abseits von Gottes Unterweisung durch Menschen ausgeklügelten Gottesdienst. So ist es in der Tat: sowohl unsere eigene als aller Menschen Weisheit muß uns zur Torheit werden, damit wir ihn allein weise sein lassen! Diesen Weg halten die aber in keiner Weise inne, die sich ihm mit frommen Übungen, die nach menschlichem Gutdünken ausgedacht sind, angenehm zu machen trachten und ihm gleichsam wider seinen Willen den verkehrten Gehorsam aufdrängen, der (tatsächlich) Menschen geleistet wird. So ist es früher manche Jahrhunderte lang und auch noch zu unseren Zeiten geschehen, und so geschieht es auch heute noch an jenen Orten, da man den Befehl des Geschöpfs höher achtet als den des Schöpfers, an jenen Orten, wo die Religion – wenn dergleichen trotz allem noch Religion genannt zu werden verdient – mit vielfältigerem und närrischerem Aberglauben verunreinigt ist als je irgendein Heidentum. Denn was sollte der Sinn der Menschen anders hervorbringen können als lauter fleischliche, törichte Dinge, die wahrhaftig das Ebenbild ihrer Urheber darstellen?



IV,10,25

Die Schutzmeister solcher abergläubischen Gebräuche berufen sich auch darauf, daß Samuel in Rama geopfert habe und daß dies, obwohl es gegen das Gesetz geschehen sei, doch Gottes Wohlgefallen gefunden habe (1. Sam. 7,17). Da ist nun die Lösung leicht: es handelt sich hier nicht um einen zweiten Altar, den er im Gegensatz zu dem einzig rechtmäßigen aufgerichtet hätte, sondern er hat, da für die Bundeslade noch keine Stätte verordnet war, die Stadt, in der er wohnte, für die Opfer bestimmt als die dazu am besten geeignete. Jedenfalls hatte der heilige Prophet nicht im Sinn, im Bezug auf die heiligen Handlungen irgendeine Neuerung einzuführen, wo doch Gott so streng verbot, etwas zuzufügen oder abzustreichen. Was nun das Beispiel des Manoah betrifft, so behaupte ich, daß es sich da um etwas Außerordentliches und Einzigartiges gehandelt hat (Richt. 13,19). Manoah brachte als ein amtloser Mann Gott ein Opfer dar, und das geschah nicht ohne Gottes Billigung, weil er es eben nicht aus einer unüberlegten Regung seines Herzens heraus unternahm, sondern auf einen himmlischen Antrieb hin. Wie sehr aber Gott verabscheut, was die Sterblichen aus sich selbst ausklügeln, um ihn zu verehren, dafür dient uns ein anderer als augenfälliger Beweis, der nicht niedriger steht als Manoah, nämlich Gideon, dessen Ephod nicht nur ihm selbst und seiner Familie, fondern dem ganzen Volke zum Verderben geworden ist (Richt. 8,27). Kurzum, jegliches fremde Fündlein, mit dem die Menschen Gott zu verehren begehren, ist nichts anderes als eine Befleckung der wahren Heiligkeit.



IV,10,26

Weshalb, so fragen unsere Widersacher, wollte denn Christus, daß jene unerträglichen Lasten, welche die Schriftgelehrten und Pharisäer den Leuten aufbanden, doch getragen würden (Matth. 23,3)? Ja (antworte ich), warum hat denn der nämliche Christus an anderer Stelle verlangt, man solle sich vor dem Sauerteig der Pharisäer in acht nehmen (Matth. 16,6)? Und dabei versteht er nach der Erläuterung des Evangelisten Matthäus unter „Sauerteig“ alles, was die Pharisäer der Reinheit des Wortes Gottes an eigener Lehre beimischten (Matth. 16,12). Was wollen wir Deutlicheres, als daß er uns befiehlt, ihre ganze Lehre zu meiden und uns vor ihr zu hüten? Von daher wird es uns völlig gewiß, daß der Herr auch an der anderen Stelle (Matth. 23,3) nicht gewollt hat, daß die Gewissen der Seinigen mit den eigenen Satzungen der Pharisäer gepeinigt würden. Auch die Worte selbst ergeben, wenn man ihnen nur nicht Gewalt antut, nichts dergleichen. Denn da hatte der Herr im Sinn, gegen die Sitten der Pharisäer mit bitterer Schärfe loszufahren; dabei lehrte er nun aber seine Zuhörer von vornherein einfach, sie sollten, obwohl sie an dem Lebenswandel der Pharisäer nichts zu sehen bekamen, dem sie etwa hätten folgen sollen, doch nicht davon ablassen, das zu tun, was diese mit dem Wort lehrten, wenn sie „auf Moses Stuhl“ saßen, das heißt, wenn sie dasaßen, um das Gesetz auszulegen. Er wollte also nichts anderes als von vornherein verhüten, daß das Volk durch das schlechte Beispiel derer, die es lehrten, zur Verachtung der Lehre selbst verleitet würde. Aber weil sich manche Leute mit Gründen nicht im mindesten bewegen lassen, sondern immer nach einer Autorität fragen, so will ich noch Worte Augustins folgen lassen, in denen voll und ganz das gleiche gesagt wird. „Die Herde des Herrn“, sagt er, „hat zu ihren Vorstehern teils Kinder (Gottes), teils Mietlinge. Die Vorsteher, die Kinder sind, die sind die wahren Hirten; vernehmet aber, daß auch die Mietlinge notwendig sind, viele nämlich in der Kirche predigen Christus und jagen dabei nach irdischen Vorteilen; durch sie nun kommt die Stimme Christi zu Gehör, und die Schafe folgen nicht dem Mietling, sondern dem Hirten- durch den Mietling! Höret nun, wie die Mietlinge von dem Herrn selbst gekennzeichnet werden. ‚Auf Mose’s Stuhl’, spricht er, ‚sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer; was sie sagen, das tut, was sie aber tun, das tut nicht.’ Was hat er damit anders gesagt als: höret durch die Mietlinge die Stimme des Hirten? Denn wenn sie auf dem ‚Stuhl’ sitzen, so lehren sie Gottes Gesetz; also lehrt Gott durch sie. Wenn sie aber ihre eigenen Dinge lehren wollen, so hört nicht darauf und tut nicht danach“ (Predigten zum Johannesevangelium 46,5f.). So Augustin.
Simon W.

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