Israel – Schlüsselfrage des reformatorischen Schriftprinzips

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Joschie
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Israel – Schlüsselfrage des reformatorischen Schriftprinzips

Beitrag von Joschie »

Israel – Schlüsselfrage des reformatorischen Schriftprinzips

Wie ist eure ganz persönliche Meinung zu dem folgendem Beitrag?

Dr. W. Nestvogel erhebt in einem aktuellen Artikel “Zeitschrift für aktive Christen – Fest und treu”: “Die Israel-Frage als Testfall”die Erkenntnis bezüglich Israel zur Schlüsselfrage für das allgemeine Schriftverständnis. Darin sei ihm zunächst durchaus zugestimmt. Auch der bekannte evangelikale, dispensationalistische Theologe Charles Ryrie erkärt ohne Umschweife.

„Das Wesen des Dispensationalismus liegt also in der Unterscheidung zwischen Israel und der Kirche. Diese erwächst aus der konsequenten Anwendung der normalen oder einfachen Auslegung, und sie spiegelt ein Verständnis der Grundabsicht Gottes in allen seinen Regierungswegen mit der Menschheit wieder, durch die Errettung und auch durch andere Mittel sich selbst zu verherrlichen.“

Es sind demnach weniger Fragen des Endzeitverständnisses (Amillenialismus vs Dispensationalismus), oder die oft als Hauptmerkmal des Dispenstaionalismus angeführten “Haushaltungen” (Bündnisse vs Haushaltungen “Dispens”), als vielmehr grundlegende hermeneutische Überlegungen im Hinblick auf die Ekklesiologie (siehe dazu auch den Artikel “Definition des Dispensationalismus” von S. Heck.)

Widerspruch erfordert, die von Dr. W. Nestvogel vorgenommene, allerdings unzutreffende “grundsätzliche Gegenüberstellung” eines ethnischen Israelverständnisses, mit der sogenannten Beerbungs- bzw. “Ersetzungslehre” (Substitutionstheorie), welche er den Reformierten unterstellt. Dies ist ein offenkundiges und -leider auch nicht unbedingt redliches- Strohmannargument, da dies in dieser Weise nicht gelehrt. Er müsste es als ehemaliger Rektor und Dozent der ART besser wissen.

Auf Grundlage einer tatsächlich reformatorischen Hermeneutik- auf welche sich Nestvogel beruft- kann man, so meine ich, in Bezug auf Israel weder zu einem rein wortwörtlichen (=ethnischen), wie auch zu keinem bloß sinnbildlichen (Gemeinde ersetzt Israel) Israelverständnis gelangen. Vielmehr wird durch eine solche deutlich, dass von Anfang an ein entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit zu Israel galt und bis heute gilt.

Wie begründet Dr. W. Nestvogel seine- demnach auf Irtümern basierende- Gegenüberstellung?

Irrtum 1
Dr. W. Nestvogel spricht sowohl den historischen Reformatoren wie auch den modernen Reformierten ab, die Schrift im Hinblick auf Israel dem einfachen Schriftsinn nach auszulegen, unterstellt ein allegorisches Schriftverständnis. Für seine eigene Position nimmt Nestvogel dagegen in Anspruch, dem reformatorischen Literalsinn (“buchstäblich”, wie er diesen versteht) gerecht zu werden.

Dr. Nestvogel irrt. Das reformatorische Prinzip des claritas scripturae- der Klarheit der Schrift- bedeutet keineswegs Texte buchstäblich zu interpretieren und eine geistliche Interpretationen auszuschließen, sondern vielmehr Texte unter historischen und grammatischen Gesichtspunkten zu analysieren damit deren ursprünglich gemeinte Bedeutung erfasst werden kann.

Weiterhin existiert ein entscheidender Unterschied zwischen “literal” (Wortsinn) und “literalistisch” (buchstäblich). Das reformatorischen Prinzip der Klarheit der Schrift schließt weder eine sinngemäße Interpretation umgangssprachlicher Formulierungen, noch das Vorhandensein von Bildern oder Symbolen aus und erkennt schlicht die Existenz unterschiedlicher Textgattungen an. Eine wortwörtliche Interpretation der Schrift würde in der Regel oft zu hanebüchenen Ergebnissen führen. Der Forderung Nestvogels und anderer Dispensationalisten nach strikter, buchstäblicher Wortwörtlichkeit werden zudem selbst die klassischen Dispensationalisten (Scofield etc.) nicht durchgängig gerecht.

Der Vorwurf einer “allegorischen Auslegung” trifft auf die Bundestheologie also nicht zu. Diese begreift die biblischen Texte lediglich als das was sie in Wirklichkeit sind: Literatur unterschiedlicher Textart und legt diese im Rahmen der bekannten reformatorischen Prinzipien aus.

Irrtum 2
Dr. W. Nestvogel irrt weiterhin, wenn er der Bundestheologie unterstellt, diese würde sich die Substitutionstheorie (Ersatztheologie) zu eigen machen. Die reformierte Bundestheologie versteht sich– und erfüllt dieses Verständnis inhaltlich auch– als “Erfüllungstheologie”. Auch nach allgemeinem reformatorischen Verständnis, werden Gläubige aus den Heiden und Israel durch Christus zu dem “einen neuen Menschen” (Eph2), werden die Heiden in das Israel Gottes “eingepfropft” (Röm11).(Röm11). Das alttestamentliche Israel ist nach reformierter Überzeugung Bild und Schatten des neutestamentlichen Gottesvolkes bzw. dessen Beginn, steht in einem Verhältnis der Kontinuität und Diskontinuität zueinander, welches in der Kirche seine vollständige Erfüllung findet, Israel der “Anfang von Christus” die Kirche die “volle Reife” Heb5/6.

Die Bundestheologie vertritt demnach keine “Ersetzung” Israels. Unter “Israel” und “Jude” wird jedoch das verstanden, was der Apostel Paulus beispielsweise den Römern schreibt: “nicht der ist ein Jude, sondern der ist ein Jude” Röm2:28-29) und dies mit der inwendigen Beschneidung verbindet. Es ist demnach der Apostel, der die Zugehörigkeit zu Israel nicht biologisch oder ethnisch, sondern an den Glauben an Christus knüpft. Die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden, “die Zwischenwand der Umzäunung” (Eph2) ist in Christus ein für allemal niedergerissen und das ungläubige Israel eine Nation wie jede andere. Dies sagt Petrus den ersten Christen als er vom jüdischen Hohen Rat zurückkam (Apg4:27). Eine “ethnisch-nationale Dimension Israels” hat in der Weise ohnehin nie existiert. Diese Verständnis ist ein Phänomen der Moderne. Das “Konstitutivum” der Zugehörigkeit zu Israel, war das Zeremonialgesetz bzw. die Beschneidung d.h. kultischer Natur. Aus dem Heiden Abram, wurde durch die inwendige (=Glaube) bzw. äussere Beschneidung, Abraham, der Stammvater aller Juden und auch später war eine Konversion möglich.

Auch die Propheten des AT unterschieden zwischen einer äußeren bzw. inneren Beschneidung (bspw. Hes44:7). So wie nicht jeder Angehörige des alttestamentlichen Israel zu dem gläubigen “Überrest” des Gottesvolkes gehörte, kennt auch das reformatorischen Verständnis einen vermischten Leib (corpus permixtum), in welchem wahrhaft Gläubige und Heuchler, ihre Sünden bedauernde, gerechtfertigte Sünder und Unbußfertige miteinander vermengt sind (bspw. Mt13:36ff. Es ging und geht immer um die Beschneidung des Herzens, also den Glauben. Wer äußerlich aber nicht innerlich beschnitten war, gehörte auch im AT nicht zum wahren Israel, nicht zu dem gläubigen Überrest den sich Gott immer bewahrt hat. Dasselbe gilt auch im NT. Es gibt viele getaufte Christen, die aber innerlich nie durch den Geist getauft wurden.

Fazit
Wenn man also über Verheißung, Erfüllung, Israel, Gemeinde und die Frage der Hermeneutik nachdenkt, erscheint als angebracht über Abraham und Christus zu sprechen. Abram, bekam von Gott mit dem Bund drei Verheißungen:

- Land
- Nachkommenschaft
- Segen

Diese Verheißungen und auch deren Erfüllung wurde aus Sicht Israel‘s tatsächlich wortwörtlich verstanden. Aus dem Neuen Testament wissen wir jedoch, dass diese Verheißungen eine viel weitreichendere Bedeutung (Gal5:15ff) besaßen, eine Bedeutung, die das Volk Israel nicht erkannte, nicht erkennen konnte denn es lag eine “Decke” auf ihren Augen (2Kor 3,14-16) die erst in Christus weggetan wurde.

Der tatsächliche Verheißungserbe CHRISTUS, sollte jedoch nicht nur ein Segen für Israel, sondern letztendlich die ganze Welt sein (1Mo12:1ff. Interessant auch, dass der Segen von der Reaktion der anderen “Abraham” gegenüber abhängen sollte. Gott sagt, dass er die Menschen segnen wird, die Abraham segnen, und jene verfluchen wird, die ihn verfluchen. Dieser Bund hat seine Erfüllung aus neutestamentlicher Sicht vollständig in Christus gefunden. Diejenigen, die Christus verfluchen, sind verflucht. Unbestritten ist, dass der Same Abrahams, das Volk Israel (und aus diesem Christus hervorgehend), das Mittel für den Segen Gottes für alle Menschen war. Aber es sind keine getrennten Verheißungen, die nichts miteinander zu tun hätten, sondern Schatten und Original.

Es lohnt sich daher tatsächlich für eine grundsätzliche Anwendung des reformatorischen Schriftprinzips zu streiten, den Literalsinn des Textes zu ergründen, jedoch nicht in Form eines Literalismus. Christus und die Apostel widersprechen einem solchen Schriftprinzip wiederholt.
Quelle: Hier
Gruß Joschie
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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Rezension von Wolfgang Nestvogels Artikel „Testfall Israel“

Beitrag von Joschie »

Rezension von Wolfgang Nestvogels Artikel „Testfall Israel“

In mehreren bibeltreuen Zeitschriften wie „Fest und treu“ (4/2011, http://www.clv-server.de/pdf/fut/411/fu ... legung.pdf), „Bibel und Gemeinde“ (1/2012) und „Der schmale Weg“ wurde Ende 2011 und Anfang 2012 der Artikel „Testfall Israel“ von Dr. Wolfgang Nestvogel abgedruckt. Darin wird die Lehrauffassung verteidigt, dass Gott für das ethnische Israel eine national-religiöse Wiederherstellung vorgesehen hat – als ein besonderes Volk Gottes, das von der Gemeinde zu unterscheiden und zu trennen ist. Diese Lehre nennt sich Dispensationalismus und hat sich seit dem 19. Jahrhundert unter bibeltreuen Christen stark verbreitet. Ob ein Christ den Dispensationalismus vertritt oder nicht, wertet der Autor als „Schlüsselfrage für das Schriftverständnis“. Seiner Meinung nach haben Nicht-Dispensationalisten folglich ein grundsätzliches falsches Schriftverständnis. Der Abdruck in gleich etlichen bibeltreuen Zeitschriften erweckt den Eindruck, dass es sich hier um eine Art Kampagne handelt, um Christen zu überzeugen, dass es neben dem Dispensationalismus keinen wirklich bibeltreuen Glauben geben kann.

Doch beim Lesen des Artikels „Testfall Israel“ habe ich mich gefragt, ob der Autor nicht einfach zu undifferenziert eingängige Schlagwörter aufwirft und so die alten Klischees von Dispensationalisten gegen Andersdenkende bedient. Leider werden durch unzureichend reflektierte Pauschalurteile nur die Gräben zwischen den Positionen vertieft.

Dies beginnt bereits mit dem Begriff „Israel“, der in der Bibel ja sehr viele (mindestens sieben: Jakob, seine Nachkommen, die Nation inklusive integrierter „Ausländer“, das Land, Christus, das Israel Gottes, der moderne Staat Israel) verschiedene Bedeutungen hat. Der Artikel verbindet von Anfang an den modernen Staat Israel mit der biblischen Wiederherstellungserwartung Israels, unterstützt durch die Abbildung der Israel-Flagge. Dieser Staat ist bereits wiederhergestellt und benötigt keine künftige Wiederherstellung, um die es in diesem Artikel ja gehen soll. Das heutige israelische Staatsgebilde ist aber wohl kaum die biblische „Hoffnung Israels“ (Apg 26,7; 28,20). Zudem entsprach auch das alttestamentliche Israel Gottes nicht dem rein „ethnischen Israel“, von dem der Artikel spricht. Bereits im AT wurden gläubige Heiden in Israel integriert wie z.B. Rahab und Ruth, die es sogar in den Stammbaum Christi geschafft haben.

Das nächste Schlagwort ist das 1000-jährige Reich und der damit verknüpfte Hinweis auf Offenbarung 20. Doch dort steht gar nichts von einer von einer nationalen Wiederherstellung Israels, und wenn in Offb 20 ein buchstäbliches irdisches 1000-jähriges Reich gemeint sein sollte, dann muss das keineswegs mit einer national-kultischen Wiederherstellung Israels einhergehen. Die 1000 Jahre wären auch vorstellbar als die erste, noch irdische Phase des kommenden Reiches Gottes, ohne dass zwei getrennte Völker Gottes („Israel“ und „Gemeinde“) existieren. Meines Erachtens wäre diese Position des so genannten historischen Prämillenialismus sogar viel eher denkbar als eine erneute Einführung der „Zwischenwand der Umzäunung“ (Eph 2,14) zwischen Israeliten und Nicht-Israeliten in einem künftigen Zeitalter.

Dann folgt das Schlagwort „wörtliche Erfüllung“, wobei der Autor anscheinend jedes „geistlich-symbolische“ oder „sinnbildliche“ Verständnis pauschal ablehnt. Aber werden wir alle buchstäbliche „Säulen“ in der Ewigkeit sein (Offb 3,12); um nur ein Beispiel von Hunderten für sinnbildlichen Literalsinn in der Schrift zu nennen? Differenzierung statt Pauschalisierung ist hier nötig, d.h. sorgfältiges Bibelstudium mit einer soliden Hermeneutik.

Ein weiteres Schlagwort ist die vom Autor abgelehnte Vorstellung, die Gemeinde habe Israel „beerbt“. Seine Darstellung vermittelt den Eindruck, das neutestamentliche Volk Gottes („Gemeinde“) sei eine absolut andere Körperschaft als das alttestamentliche Volk Gottes („Israel“). Es bestünde also eine absolute Diskontinuität zwischen Israel und Gemeinde. Auch hier gilt: Vorsicht bei Verabsolutierungen und Pauschalisierungen! Zwischen AT- und NT-Volk bestehen sowohl Diskontinuitäten als auch Kontinuitäten. Z.B. kann man die Gemeinde als ein um gläubige Heiden erweitertes Israel Gottes verstehen, denn die Schrift spricht davon, dass an Christus gläubige Heiden „Mitbürger“ Israels und „Miterben der Verheißung“ usw. geworden sind (Eph 2,19; 3,6). Sie haben also Israel nicht ersetzt, sondern ergänzt (vgl. auch Röm 2,29; Phil 3,3 u.a.). In Christus sind sie ein Volk, so wie er auch für nur eine Braut gestorben ist (Eph 5,25). Das ist übrigens der Kern des ganzen Themas: In Christus, dem wahren Israel, ist das Volk Gottes eins und nicht gespalten in zwei Völker Gottes.

Ebenfalls undifferenziert wie ein Schlagwort ist die Polarisierung zwischen zwei pauschalen Positionen a) und b): „Sind AT-Verheißungen auf die Gemeinde übergegangen oder nicht?“ Zweifelsfrei spricht das NT nicht nur davon, dass dem „Israel nach dem Fleisch“ „das Reich Gottes weggenommen und einer Nation gegeben wird, die Frucht bringen wird“ (Mt 21,43; was in dem Artikel zumindest erwähnt und auch erklärt werden sollte), sondern auch an zahlreichen Stellen davon, dass das neutestamentliche Volk Gottes Anteil an alttestamentlichen Verheißungen hat. Denken wir nur an den Neuen Bund, der ursprünglichen nur „Israel und Juda“ verheißen war. (Tatsächlich behaupten manche Dispensationalisten, der Neue Bund gelte der Gemeinde nicht). Christus und sein Heil ist der Kern der alttestamentlichen Verheißungen und Erwartungen – die Hoffnung Israels – und wer möchte behaupten, dass diese Verheißung nicht der Gemeinde gelte?

Die „Position b“, den Dispensationalismus, will der Artikel unbedingt differenziert verstanden wissen, aber „Position a“ (Nicht-Dispensationalismus“) wird undifferenziert als grundsätzlich und pauschal falsch hingestellt. Dabei ist vielmehr der Dispensationalismus ein sehr einheitliches System, basierend auf dem Glauben an zwei getrennte Völker Gottes, aber unter Nicht-Dispensationalisten gibt es die mannigfaltigsten Sichtweisen und Modelle!

Der Artikel wirft auch das Schlagwort der verheißenen Rückkehr Israels in sein Land auf, ohne die gemeinten Schriftstellen zu nennen. Doch die meisten Rückkehr-Verheißungen z.B. in 5. Mose, Jesaja, Jeremia usw. sind ja bereits in Erfüllung gegangen, als Israel aus Babylon zurück in sein Land kehrte. Man muss beinahe annehmen, die Rückkehr aus Babylon habe für den Autor „keine heilsgeschichtliche Bedeutung“, so wie er es den Nicht-Dispensationalisten bezüglich ihrer Bewertung der 1948er Staatsgründung Israels vorwirft.

Auch der Abrahamsbund wird als Schlagwort erwähnt und es wird behauptet, dass er den neutestamentlichen Gläubigen nicht gelte. Aber wo lehrt die Schrift diese Ansicht? Vielmehr lehrt sie doch ausdrücklich: Gläubige Christen sind „Abrahams Nachkommenschaft und nach Verheißung Erben“ (Gal 3,29). Natürlich werden von Nicht-Dispensationalisten nicht alle Unterschiede zwischen Altem und Neuen Bund (oder -Testament) aufgelöst oder verwischt, wie der Artikel es behauptet. Ein Blick in den Galaterbrief klärt schnell, dass zwar der Abrahamsbund Verheißungen für uns heute enthält, aber der Sinaibund (Alter Bund) nur eine Einschaltung für die begrenzte Zeit des Gesetzes war; gleiches lehrt der Hebräerbrief.

Auf weitere Schlagworte möchte ich nur stichpunktartig eingehen:

• „Bekehrung“ Israels – Eine Bekehrung ist nicht notwendigerweise eine nationale Wiederherstellung! Und ist die Bekehrung im Neuen Bund nicht vielmehr stets eine individuelle persönliche Sache?
• „ganz Israel“ – Was ist damit gemeint? Jeder Jude aller Zeitalter? Alle lebenden Nachkommen Abrahams? Wohl kaum, denn Paulus schreibt zu Beginn dieses Abschnitts, „nicht alle, die aus Israel sind, sind Israel“ (Röm 9,6). Auch der Artikel erwähnt einen „Überrest“ Israels, der ja im Gegensatz zu einem umfassenderen Israel steht. Klärung ist hier nötig.
• „im Zusammenhang mit der Wiederkunft Jesu“ geschehe die Bekehrung Israels. Doch was ist mit „im Zusammenhang“ gemeint - vorher allmählich, vorher plötzlich, dabei, danach …?
• „Wiederherstellung Israels“ – Das ist das eigentliche Thema dieses Artikels, aber es wird nicht ausreichend geklärt, was nun wiederhergestellt werden soll oder nicht. Der Staat ist bereits wieder hergestellt; soll nun das alttestamentliche Kultsystem wieder hergestellt werden oder größere territoriale Grenzen oder die vollständige Anwesenheit der Juden im Land, oder …? Ich persönlich glaube auch an eine Wiederherstellung Israels – zwar nicht auf dieser alten Erde und nicht basierend auf genetischer Abstammung, aber dafür ewig und aufgrund von Christus. Damit bejahe auch ich eine Wiederherstellung Israels in einem gewissen (und sogar ewigen) Sinne.
• „Gegner einer wörtlichen Erfüllung“ – Wer oder was ist das? Nun, ich bin wie gesagt „gegen“ die wörtliche Erfüllung von Offb 3,20, denn ich möchte nicht die Ewigkeit lang eine buchstäbliche Säule sein, aber im differenzierten Sinne ist doch kein bibeltreuer Christ grundsätzlich ein Gegner wörtlicher Erfüllung! Hier macht der Artikel exakt das, was er im selben Satz kritisiert: einen Strohmann als Gegner entwerfen.
• „Reformatorisches Schriftverständnis“ – Das reformatorische Schriftverständnis mit dem vom Autor genannten Prinzip der Klarheit der Schrift (claritas scripturae) fordert keineswegs eine rein buchstäbliche Auslegung aller prophetischen Texte. Vielmehr fordert dieses Prinzip, dass man die literarischen Gattungen und Stilformen der Schrift beachtet. Außerdem fordern die reformatorischen Auslegungsprinzipien tota scriptura (die Ganzheit der Schrift), analogia fidei (Entsprechung zum Glauben, d.h. die Schrift widerspricht sich nicht) und Sacra scriptura sui ipsius interpres (die Schrift legt sich selbst aus), dass bei der Auslegung die gesamte Bibel beachtet wird. Also muss man bei der Auslegung alttestamentlicher Aussagen auch entsprechende Aussagen und Zitate aus dem NT beachten.
Das Prinzip tota scriptura bedeutet auch, dass zu allen Zeiten die ganze Bibel das Wort Gottes für alle Gläubigen ist. Man kann nicht einerseits von der Klarheit der Schrift sprechen und auf der anderen Seite behaupten, dass die wichtigsten Erfüllungen erst in unserer heutigen Zeit einträfen. Das ist eine existentialistische Herangehensweise, die die Frage aufwirft, was die Christen vor unserer Zeit mit der Offenbarung und anderen Büchern anfangen konnten.
• „mehrfacher Schriftsinn“ (und „Origenes“) – der mehrfache Schriftsinn ist eher eine Vorliebe der Dispensationalisten (siehe z.B. Bücher wie „Die fünf Bücher Mose“ von C.H. Mackintosh, das von solchen willkürlichen Allegorien geprägt ist, z.B. Abrahams erneute Heirat mit Ketura symbolisiere die Wiederherstellung Israels etc.). Außerdem ist dies ein argumentum ad hominem (kein Argument zur Sache, sondern auf menschliche Unzulänglichkeiten abzielend). Wenn aber das NT manchen alttestamentlichen Aussagen eine Bedeutung zuweist, die man sonst nicht direkt dem AT-Text entnommen hätte, ist dies natürlich eine von Gott gegebene Auslegung. Beispielsweise wird man Paulus nicht vorwerfen können, in Galater 4 mit der falschen Hermeneutik von Origenes an Jesaja 54,1 und 1. Mose 21,10 herangegangen zu sein.
• „Literalsinn“ – Dieser Ausdruck ist missverständlich, wenn er dem Laien nicht näher erklärt wird. Denn in der Schriftauslegung ist „Literalsinn“ keineswegs – wie der Artikel bei oberflächlicher Betrachtungsweise zu vermitteln scheint – gleichbedeutend mit „buchstäblicher Auslegung“, sondern meint einfach den „ursprünglichen, vom Autor beabsichtigten Sinn“ – und der kann durchaus bildhaft sein, z.B. in Poesie und Apokalyptik. Man lese nur einmal mit kleinen Kindern (die zu einem über-buchstäblichem Verständnis neigen) die Evangelien, dann fällt auf, wie oft man bildhafte Ausdrücke Jesu wie z.B. „mein Joch auf sich nehmen“, „den Balken im Augen“ u.v.a. erklären muss. Dispensationalisten haben oft einen Hang zu einem solchen kindhaften, literalistischen Schriftverständnis.
• „Handwerkszeug, mit dem die Israel-Passagen der Bibel auf die Gemeinde übertragen werden konnten.“ Laut dem Artikel stammt das von Origenes, aber stammt es nicht viel mehr von Paulus und anderen NT-Schriften, die alttestamentliche Verheißungen im NT als für die Gemeinde gültig zitieren und alttestamentliche Bildersprache im neutestamentlichen Sinn erklären? Stammt es nicht vom Herrn Jesus selbst, der nicht nur die oben zitierte Aussage von Mt 21,43 traf, sondern auch sagte, dass er der neue, wahre, ewige Tempel und die von den Juden verkannte Hoffnung Israels ist? Wenn es außerdem nicht zwei Völker Gottes gibt, wie der Dispensationalismus lehrt, sondern nur eines – und der Herr Jesus gab nur für ein geeintes Volk von Erlösten sein Blut – dann kann man nicht von einem „Übertragen“ von Verheißungen von einem Volk auf das anderes sprechen. Denn die Verheißungen gelten dann nur dem einen wahren Volk Gottes aller Zeiten. Man kann dieses Volk Gottes als um gläubige Heiden erweitertes Israel oder als Israel des Neuen Bundes oder als „Israel Gottes“ bezeichnen. „Nicht alle, die aus Israel sind, die sind Israel“ (Röm 9,6). Von daher ist der Vorwurf des Übertragens hinfällig.
• „Römisch-Katholische Kirche … ihre Machtfülle“ (als unschöne Assoziation mit der nicht-dispensationalistichen Position) – Hat nicht gerade diese Kirche ein irdisches Reich angestrebt, während die Reformatoren ein geistliches, ewiges Reich auf einer neuen Erde erwarteten?
• Wer kein dispensationalistisches Schriftverständnis hat, bleibe im traditionalistischen Konfessionalismus stecken. Das ist ein schwerer pauschaler, aber unbegründeter Vorwurf. Es ist schmerzlich, dass andersdenkenden Glaubensgeschwistern offenbar ein lebendiger Glaube und eigenständiges Bibelstudium abgesprochen wird (dahingehend verstehe ich jedenfalls die Schmähung als „traditioneller Konfessionalismus“). Mit dieser Geisteshaltung könnte man dem Autor genauso gut dasselbe vorwerfen, weil er noch an der Säuglingstaufe festhält und hier nicht über die Auffassung der Reformatoren hinausgegangen ist (wie er ja fordert).
• „Im Neuen Testament wird diese Zusage an Israel aufgenommen“ – Keine Schriftstellen werden angeführt - welche sind gemeint?

Die wenigen Schriftstellen, die der Artikel nennt, führt er auch eher schlagwortartig an, ohne näher darauf einzugehen:
• Sach 12-14 – dieser Abschnitt ist von den genannten Schriftstellen wohl die größte Herausforderung für Nicht-Dispensationalisten und erfordert eine gründliche Untersuchung. Hier sei nur gesagt, dass Sacharja durchweg ein stark symbolhaltiges Buch ist.
• „Hes 36,24-28.33-35; 37,12-26; Amos 9,11-15 (vgl. auch Jer 16,15; 23,8; 34,6; 31,8.23-34)“ – Hesekiel und Jeremia verheißen die Rückkehr aus Babylon. Darüber hinaus geht es um den Neuen Bund, der sich in Christus und der Gemeinde erfüllt hat und in der neuen Schöpfung ewig verwirklicht werden wird (die Rückkehr aus Babylon ist ein Typus für die darüber hinausgehende Erfüllung in Christus). Amos 9,11-15 wird in Apg 15,15-20 als erfüllt genannt und hat eine sinnbildliche („Hütte Davids“) oder auf die neue Erde und das neue Jerusalem bezogene Bedeutung.
• „Mt 19,28; 23,37-39; Luk 21,24; 22,30; Apg 1,6; Röm 11,25-27“ – Keine dieser Stellen sagt etwas von einer nationalen Wiederherstellung Israels auf der alten Erde. Das künftige Vorhandensein der „zwölf Stämme Israels“ kann sich auf die auferstandenen früheren Israeliten beziehen oder sinnbildlich auf die Gemeinde, die ein neues „zwölffaches“ Israel auf der Grundlage von zwölf Aposteln ist. Selbst wenn man eine künftige Wiederentdeckung der zwölf buchstäblichen Stämme Israels annimmt, ist das nicht gleichbedeutend mit einer nationalen, kultischen (inkl. Steintempel, wie der Dispensationalismus lehrt) Wiederherstellung Israels auf der alten Erde.
• „wo das NT alttestamentliche Verheißungen ergänzt und auf die aktuelle Situation anwendet (z.B. Amos 9,11f. in Apg 15,15ff.)“ – Dass das NT alttestamentliche Verheißungen „ergänzt“, ist eine sehr originelle, aber nichts desto weniger unzutreffende Erklärung der Tatsache, dass Jakobus in Apg 15 Amos 9,11 für erfüllt erklärt, Paulus Jes 54,1 in Gal 4,27, der ganze Hebräerbrief den Tempel- und Priesterkultus neu erklärt etc.

Im zentralen Großteil des Artikels (Punkt 2 und 3) geht es nicht um Schriftauslegung, sondern um Kirchengeschichte. Das ist berechtigt, hier aber nicht zielführend, zudem dadurch eine Argumentation ad hominem geführt wird. Ich bedauere es, dass der Autor die Reformatoren posthum auf seine Seite ziehen will.

Zuletzt möchte ich noch auf den Titel und ein besonderes Schlagwort eingehen. Was ist gemeint mit dem Titel „Testfall Israel“? Anscheinend soll durch den „Israel-Test“ den Nicht-Dispensationalisten verdeutlicht werden, dass sie nicht wirklich bibeltreu sind. Die polarisierende Weichenstellung zu Beginn des Artikels prägt den gesamten Artikel. Er bietet leider keine faire Diskussion, sondern pauschalisiert und verurteilt. Ich halte es nicht für hilfreich, die Gräben zwischen bibeltreuen Christen durch ein „Schibolet“ der Israel-Frage zu vertiefen und Andersdenkende als nicht wirklich bibeltreu hinzustellen. So verdeutlicht doch gerade das gemeinsame Bekenntnis der Bibeltreuen, die Chicago-Erklärung, dass sowohl Bundestheologen als auch Dispensationalisten sich bzgl. des grundsätzlichen Schriftverständnisses einig sein können.

Aber könnte es nicht sein, dass vielmehr für die Dispensationalisten gilt, was Nestvogel abschließend schreibt, nämlich dass sie von der Schrift „abweichen, um einem theologischen System zu dienen“? Ich vertrete jedenfalls kein theologisches System, und gerade deshalb habe ich den Dispensationalismus verworfen.

Das mir liebste Stichwort, das der Artikel aufwirft, ist „die Hoffnung Israels“, denn von dieser Hoffnung spricht Paulus und meint damit das Evangelium von Jesus Christus (Apg 28,20; vgl. 26,6-7) – und kein Evangelium von einer nationalen Wiederherstellung auf der alten Erde. Mögen die Juden doch auf Jesus Christus hoffen, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, und nicht auf ihr irdisches Staatsgebilde!

Gottes Augapfel ist sein Sohn, den er aus Ägypten berufen hat – Jesus Christus, mittels Jakob und seinen Nachkommen – dem alttestamentlichen Israel – kam er, der wahre Israel, als Retter in die Welt. Alle wahren Kinder Abrahams, die dies durch den Glauben an Christus, den verheißenen Samen Abrahams, sind, bilden ein neues Israel und sind als Bluterkaufte ebenfalls von Gott geliebt wie sein Augapfel.

Hans-Werner Deppe
Quelle: hier
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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