Regelmäßige Lesung aus der Schatzkammer Davids von Spurgeon

Lehrfragen in Theorie und Praxis - also alles von Bibelverständnis über Heilslehre und Gemeindelehre bis Zukunftslehre

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Jörg
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Regelmäßige Lesung aus der Schatzkammer David Ps101

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PSALM 101 (Auslegung & Kommentar)



Überschrift

Ein Psalm Davids. In der Tat ganz ein Psalm, wie wir uns vorstellen, dass der Mann nach dem Herzen Gottes einen gedichtet haben wird, als er seinen königlichen Beruf antrat. Er mag ihn freilich auch später gedichtet haben. Jedenfalls ist der Psalm ganz nach Davids Art: rückhaltlos, entschlossen und innig fromm, ohne eine Spur von Heuchelei oder Wankelmut. Der HERR hat, des ist David gewiss, ihn zum König verordnet, und darum setzt er sich vor, in allen Stücken zu handeln, wie es einem Fürsten geziemt, den Jehovah selbst erwählt hat. Wir kennen den Psalm als Davids Regentenspiegel; wir könnten ihn auch, ihn damit uns gewöhnlichen Menschenkindern näher rückend, den Psalm der guten Vorsätze nennen, wenn diese nicht, leider nicht ohne Grund, in so schlechtem Ruf ständen. Nach den vorhergegangenen Lobliedern bietet ein Psalm, der vom gottesfürchtigen Wandel redet, nicht nur Abwechslung, sondern sehr passende Ergänzung: wir preisen den HERRN nie besser, als wenn wir tun, was vor ihm gefällig ist.

Auslegung

1. Von Gnade und Recht will ich singen
und dir, HERR, Lob sagen.
2. Ich handle vorsichtig und redlich bei denen, die mir zugehört,
und wandle treulich in meinem Hause.
3. Ich nehme mir keine böse Sache vor.
Ich hasse den Übertreter und lasse ihn nicht bei mir bleiben.
4. Ein verkehrtes Herz muss von mir weichen;
den Bösen leide ich nicht.
5. Der seinen Nächsten heimlich verleumdet, den vertilge ich.
Ich mag des nicht, der stolze Gebärde und hohen Mut hat.
6. Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande, dass sie bei mir wohnen;
ich habe gerne fromme Diener.
7. Falsche Leute halte ich nicht in meinem Hause;
die Lügner gedeihen nicht bei mir.
8. Jeden Morgen will ich vertilgen alle Gottlosen im Lande,
dass ich alle Übeltäter ausrotte aus der Stadt des HERRN.


1. Von Gnade und Recht will ich singen. David will sowohl die Liebe als die Strenge, das Süße wie das Bittere, welches der HERR ihm in seiner Lebenserfahrung zu schmecken gegeben hatte, besingen; er will die Gerechtigkeit und die Güte des HERRN bewundern und preisen. Solcher Gesang wird, das fühlt er, ihm auch am besten zu gottseligen Entschließungen für seinen eigenen Wandel helfen; denn was wir an denen, die über uns stehen, bewundern, bestreben wir uns naturgemäß auch nachzuahmen. Gnade und Recht, Leutseligkeit und streng unparteiische Rechtlichkeit sollen sich in Davids Regierung gleichmäßig ausprägen, weil er in dem Walten seines Gottes mit Anbetung beide wahrgenommen hat. Das Verhalten Gottes gegen uns eignet sich in allen Stücken zum Besingen, und wir haben es noch nicht mit dem rechten Blick betrachtet, solange unser Herz noch nicht darob singen kann. Wir sollten den HERRN ebenso sehr preisen für die Gerechtigkeit, mit der er unsere Sünde straft, wie für die Gnade, mit welcher er sie vergibt; denn es ist ebenso viel Liebe in den Schlägen seiner Hand wie in den Küssen seines Mundes. Gereifte Gläubige wissen beim Rückblick auf ihr Leben kaum, wofür sie am dankbarsten sein sollen - für die Tröstungen, die sie erquickt, oder für die Trübsale, die sie geläutert haben. Und dir, HERR, Lob sagen. Jehovah, ihm soll all unser Lobpreis geweiht sein. Die Werkzeuge, durch welche sich Gottes Gnade und Gerechtigkeit an uns erwiesen haben, dürfen in unserem Gedenken nur einen sehr untergeordneten Platz einnehmen; dem HERRN allein soll unser Herz singen und spielen. Der heilige Sänger will in dieser Stunde nichts von Schwermutsklängen wissen - sie werden im nächsten Psalme wieder vorherrschen; jetzt aber ist er entschlossen zu singen, und dem HERRN zu singen, was immer geschehen möge und was immer andre tun mögen.

2. Ich will weise handeln auf unsträflichem Wege. (Engl. Übers.1 Heilig sein heißt weise sein; ein unsträflicher Wandel ist ein kluger Wandel. Davids Entschluss war vortrefflich, aber die Ausführung reichte nicht ganz hinan. Leider, leider handelte er nicht immer klug und wandelte nicht immer unsträflich; aber es war gut, dass sein Herz es sich wenigstens ernstlich vorsetzte. Ein König hat beides gar nötig, weise und von lauterer Gesinnung zu sein, und wenn das nicht sein Vorsatz ist, wenn er auf den Thron kommt, so wird sein nachheriges Verhalten dem Volke ein trauriges Vorbild geben. Wer nicht einmal den Entschluss fasst, das Gute zu tun, wird voraussichtlich sehr böse handeln. Wer ein Haus zu regieren, Untergebene zu leiten hat oder gar der Gemeinde Gottes vorsteht, sollte wahrlich um Weisheit sowohl als um Heiligkeit beten, denn er wird beider dringend bedürfen. Wann kommst du zu mir? (Grundtext, Luther 1524.) Ein Zwischenruf, der aber nicht störend unterbricht. David fühlt tief das Bedürfnis nicht nur der göttlichen Hilfe, sondern der persönlichen Nähe Gottes, damit er also unterwiesen und geheiligt und zu der Ausübung seines hohen Berufes geschickt gemacht werde. Er sehnte sich nach einer ganz besonderen, mächtig wirksamen Gnadenheimsuchung Gottes, ehe er sein königliches Amt antrete. Solange Gott mit uns ist, werden wir weder im Urteil irren noch sittliche Fehler begehen: seine Gegenwart verleiht uns beides, Weisheit und Heiligkeit; sobald wir aber von Gott fern sind, sind wir auch fern von Sicherheit. Wirklich fromme Menschen sind sich ihrer Schwachheit so bewusst, dass sie zu Gott um Beistand rufen; sie stehen so im Geist des Gebets, dass sie allezeit beten, und sind so brünstig in ihrem Begehren, dass sie mit unaussprechlichen Seufzern flehen: O wann wirst du zu mir kommen? - Ich will mit einfältigem Herzen in meinem Hause wandeln. (Grundtext, Luther 1524.) Die Frömmigkeit muss daheim anfangen. Unsre ersten Pflichten sind die im Inneren unseres Hauses. Wir müssen daheim ein redliches Herz haben, sonst können wir nicht draußen einen redlichen Wandel führen. Beachten wir, dass diese Worte ein Teil eines Liedes sind, und dass es keine so wohlklingende Musik gibt wie die Harmonie eines begnadigten Lebens, keinen so köstlichen Psalm wie die tägliche Übung der Heiligkeit. Lieber Leser, wie steht es mit deinem Familienleben? Singst du etwa in der Kirche und sündigst in der Kammer? Bist du draußen ein Heiliger und daheim ein Teufel? Schmach über dich! Was wir daheim sind, das sind wir in Wirklichkeit. Der kann kein guter König sein, dessen Palast eine Lasterhöhle ist, der kein echter Heiliger, dessen Wohnung der Schauplatz von Streit und Hader, und der kein guter Seelenhirt, dessen Hausgenossen seine Gegenwart im Familienkreise zu scheuen Grund haben.

3. Ich will mir nicht vor Augen stellen heillose Dinge. (Wörtl.) Ich will mich am Schlechten nicht freuen, mir nichts Unheiliges vornehmen, auch nichts Böses schwächlich dulden. Wenn andre mir etwas nahelegen, das Gott missfällt, so will ich meine Augen davon abwenden, statt es mit Vergnügen zu betrachten. Der Psalmist hält reine Auskehr, er lehnt das Böse in jeglicher Gestalt ab, auch wo es sich um das scheinbar Unbedeutendste handelt oder es in der anständigsten Form auftritt und allgemeinste Sitte ist: kein heilloses Ding will er pflegen oder dulden. Und das nicht nur in seinem Herzen, sondern auch vor seinen Augen; denn was das Auge bezaubert, schafft sich auch in das Herz Zutritt, gerade wie der "Apfel" im Paradies erst Evas Blicken wohlgefiel und dann ihr Herz und Hand gefangen nahm. Übertretung zu verüben hasse ich. (Grundtext) Er war mit vollem Eifer dagegen; er sah das Böse nicht gleichgültig, sondern mit Verachtung und Abscheu an. Hass der Sünde ist eine gute Wache vor der Tür der Tugend. Es gibt an den Fürstenhöfen Leute, die die gerade Bahn der Redlichkeit verlassen und sehr krumme Straßen wandeln; von diesen erwartet man oft, dass sie auf Nebenpfaden, auf allerlei Schleich- und Kreuzwegen für ihren Herrn das ausrichten, was einfältige, biedere Menschen zu vollbringen nicht imstande sind. Aber David wollte von solchem allem nichts wissen, er zahlte keine Belohnungen für geheime Dienste und verabscheute von Herzensgrund die Ränke der Unredlichen. Er war desselben Sinnes wie jener Staatsmann, der sterbend sprach: Unredlichkeit gewinnt nicht mehr als Ehrlichkeit. Wie sehr ist es zu beklagen, dass David sich in späteren Jahren in diesem Stück, wiewohl im Großen und Ganzen, doch nicht in jedem Falle rein hielt; aber was wäre wohl aus ihm geworden, wenn er nicht mit diesem guten Entschluss angefangen, sondern die gewöhnliche krumme Politik morgenländischer Fürsten befolgt hätte? Wie sehr bedürfen wir alle der göttlichen Bewahrung! Wir sind nicht vollkommener als David, sondern stehen ihm in vielen Stücken nach; und gleich ihm werden wir es nötig haben, sehr bald nach dem Psalm unserer guten Vorsätze einen Bußpsalm zu schreiben. Es soll mir nicht ankleben. (Grundtext) Ich will das Gebahren der Gottlosen nicht anerkennen noch nachahmen; ihre bösen Taten, Worte und Gedanken mögen wie Schmutz auf mich fallen, aber ich will es abwaschen und nicht ruhen, bis ich davon los bin. Sünde und Pech kleben beide gern an. In unserem Familienleben mag gar manches Verkehrte aufkommen, denn wir selber sind unvollkommen, und manche von denen, welche uns umgeben, sind von ferne nicht, was sie sein sollten. Darum muss es eine unserer größten Sorgen sein, uns von aller Verschlingung mit dem Bösen freizumachen und uns von aller Übertretung und allem, was daraus hervorgeht, fernzuhalten. Das kann aber nicht geschehen, es sei denn, dass der HERR zu uns komme und bei uns bleibe allezeit.

4. Ein verkehrtes Herz muss von mir weichen, oder: soll mir ferne bleiben. David denkt dabei wohl in erster Linie an sich selbst, dann auch an die, welche ihn umgeben. Ihm selbst soll falsche Gesinnung fern bleiben, und er will keine Leute von böser Art in seinem Hause beschäftigen. Fände er solche an seinem Hofe, so wollte er sie fortjagen. Wer bei dem eignen Herzen anfängt, beginnt am rechten Ort und wird schwerlich böse Gesellschaft dulden. Wir können aus unseren Familien und Haushaltungen nicht alle, deren Herzen böse sind, ausweisen; aber wir können sie vom vertraulichen Umgang mit uns fernhalten und ihnen zeigen, dass wir ihr Verhalten nicht billigen. Den Bösen leide ich nicht, wörtl.: will ich nicht kennen. Er soll nicht mein Vertrauter, mein Busenfreund sein. Ich muss ihn ja kennen als Menschen, sonst könnte ich seinen Charakter nicht beurteilen; aber wenn ich ihn als Bösen kenne, will ich ihn nicht weiter kennen, will nichts von ihm wissen, will mit seinem Bösen keine Gemeinschaft haben. Erkennen bedeutet in der Schrift mehr als bloßes Wahrnehmen mit Hilfe der Sinne; es schließt die Gemeinschaft in sich, und in diesem Sinne ist es hier gebraucht. Fürsten müssen Leute, die die Rechtschaffenheit verleugnen, selber verleugnen; haben sie Ruchlose zu Bekannten, so werden sie bald selber als Ruchlose bekannt sein.

5. Der seinen Nächsten heimlich verleumdet, den (mache ich stumm, d. i.) vertilge ich. David hatte das Unheil, welches Verleumder anrichten, so bitter am eigenen Leibe erfahren, dass er sich vornahm, mit solchen Nattern gründlich aufzuräumen, wenn er zur Macht komme - nicht um die selbst erduldete Unbill zu rächen, sondern um andere vor gleichen Erfahrungen zu schützen. Seinem Nächsten im Dunkeln einen Stich zu versetzen, ist eins der abscheulichsten Verbrechen und kann nicht zu streng verurteilt werden; dennoch finden Leute, die sich dessen schuldig machen, oft an hohen Stellen Gunst und Schutz und werden wohl gar als Männer von Scharfsinn geschätzt und als Vertrauensleute, die ein durchdringendes Auge haben und gut auf ihre Herren bedacht seien, bevorzugt. Der König David aber war entschlossen, den fruchtbaren Baum seines Reiches von allen solchen überflüssigen Zweigen zu säubern. Ich mag den nicht, der stolze Gebärde (wörtl.: hohe Augen) und hohen Mut (wörtl.: ein weites, d. i. aufgeblasenes, anmaßendes Herz) hat. Hoffärtige, übermütige, anmaßende Junker, die auf die Armen niederblicken, als ob sie lauter Würmer wären, die im Staube unter ihren Füßen kröchen, konnte der Psalmist nicht ausstehen. Ihr Anblick bereitete ihm Leid, darum wollte er sie nicht leiden. Leute, die emporkommen, gefallen sich oft in stolzem Wesen und äffen aristokratische Manieren nach; darum beschloss David, dass an seinem Hofe niemand groß sein sollte, als wer hinreichend Gnade und gesunden Menschenverstand habe, um nicht solchen törichten Eitelkeiten zu frönen. Stolze Menschen sind meist hart und darum ganz ungeeignet für ein Amt; Leute mit hoffärtigen Augen erregen Feindschaft und Unzufriedenheit - darum je weniger solcher Leute an einem Hofe, desto besser für die Sicherheit des Thrones. Würden heute alle Verleumder ausgerottet und alle Hochmütigen verbannt, so wäre zu besorgen, dass die nächste Volkszählung eine sehr empfindliche Abnahme der Bevölkerung aufwiese.

Fußnote
1. So auch Hengstenberg, Stier und ähnlich Luther 1524. Aber wiewohl lykIi&:hi an sich (ohne Präpos.) klüglich handeln heißt, wird es doch hier mit bI: wie
Dan. 9,13 bedeuten: nachdenkend auf etwas achten, also: Ich will achthaben auf unsträflichen Wandel.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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6. Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande, dass sie bei mir wohnen. Er wollte die getreuen Leute heraussuchen, sie in Dienst nehmen, auf sie Acht haben und sie zu Ehren bringen. Wahrlich, ein edles Vornehmen für einen König, und eines, das sich ihm unendlich besser bezahlt machen wird, als wenn er auf die glatten Nichtigkeiten der Schmeichler lauscht. Es wäre für uns alle von großem Vorteil, wenn wir unsere Dienstleute mehr nach ihrer Frömmigkeit als nach ihrer Geschicklichkeit wählten; wer einen treuen Diener findet, findet einen Schatz und sollte alles lieber tun als sich von ihm scheiden. Wer Gott nicht treu ist, von dem kann man auch nicht erwarten, dass er Menschen treu sein werde, und sind wir selber wahrhaftig und zuverlässig, so werden wir nichts darum geben, Leute um uns zu haben, die nicht die Wahrheit reden und, was sie versprechen, halten können; wir werden dann nicht zufrieden sein, bis alle Glieder unseres Haushalts redlich gesinnt sind. Ich habe gerne fromme Diener, wörtl.: Wer auf redlichem Wege wandelt, der diene mir. Was ich selber zu sein begehre, das wünsche ich auch, dass meine Diener es seien. Die Brotherren sind in nicht geringem Grad für diejenigen, welche ihnen dienen, verantwortlich, und man tadelt allgemein einen Herrn, der Leute von offenkundig schlechter Gesinnung in seinem Dienst behält; wir tun darum gut, die Dienste solcher Leute abzulehnen, damit wir uns nicht fremder Sünden teilhaftig machen. Eine fromme Herrschaft handelt vernünftig, wenn sie frommes Gesinde sucht; sie mag ein verkommenes Menschenkind aus Erbarmen, um dem Sünder zurechtzuhelfen, ins Haus nehmen, aber wenn sie ihr eigenes Bestes im Auge hat, wird sie nach einer andern Richtung Ausschau halten. Gottlose Kinderwärterinnen üben einen starken Einfluss zum Bösen auf das Gemüt der Kleinen aus, und schlechte Dienstboten untergraben oft die Sittlichkeit auch älterer Hausgenossen; darum sollten wir sehr darauf bedacht sein, so viel wie nur eben möglich frommes Gesinde zu halten. Sogar Leute, die für sich ohne Religion leben, haben oft so viel gesunden Verstand, dass sie erkennen, wie wertvoll christliche Dienstboten sind; da sollten doch wahrlich die gläubigen Herren, die Brüder und Schwestern, sie nicht minder schätzen!

7. Keiner soll in meinem Hause wohnen, der Trug verübt. (Wörtl.) David hatte die Macht, sich seine Höflinge zu wählen, und er war entschlossen, diese Macht auszuüben. Betrug gilt bei den Morgenländern meist als eine Art Tugend; man tadelt Ränke nur dann, wenn sie nicht schlau genug ausgeführt und daher entdeckt werden. Um so bemerkenswerter ist die Entschlossenheit, mit welcher David sich dagegen setzte. Er konnte nicht wissen, was ein trügerischer Mensch alles anstiften, was für Ränke ein solcher schmieden, was für Unheil er ausbrüten würde; darum beschloss er, solche Leute um jeden Preis aus dem Hause zu halten, damit sein Palast nicht ein Schelmennest werde. Betrüger sind auf dem Markt draußen schon schlimm genug; an unserm eigenen Tisch aber sind sie ganz unerträglich. Wer Lügen redet, soll nicht bestehen vor meinen Augen. (Wörtl.) Einen Lügner wollte er nicht in Seh- und Hörweite dulden; es widerte ihn an, nur von einem solchen zu hören. Die Gnade macht die Menschen wahrhaftig und schafft in ihnen einen wahren Abscheu vor allem, was auch nur an Falschheit grenzt. Wenn schon David keinen Lügner vor seinen Augen dulden wollte, wie viel weniger wird das der HERR tun; weder wer die Lüge lieb hat, noch wer sie tut, wird zum Himmel zugelassen werden. Die Lügner sind auf Erden schädlich genug; in der andern Welt sollen die Heiligen nicht mit ihnen geplagt sein.

8. Jeden Morgen will ich vertilgen alle Gottlosen im Lande. Wie am Morgen seines Königtums, so wollte er alle Tage den Nichtsnutzigen und Frevlern hurtig zumessen, was sie verdienten. Er wollte ihnen keine Ruhe gönnen; sie sollten entweder von ihrem gottlosen Wesen lassen oder die Rute des Gesetzes fühlen. Eine gerechte Obrigkeit trägt das Schwert nicht umsonst. Die Sünde begünstigen heißt die Tugend entmutigen; unziemliche Lindigkeit gegen das Böse ist Lieblosigkeit gegen das Gute. Wann unser Herr kommt um zu richten, wird dieser Vers im großen Stil in Erfüllung gehen; bis dahin tritt Jesus nicht als Richter, sondern als Heiland auf, der die Menschen bittet, von ihren Sünden zu lassen und die dargebotene Vergebung zu ergreifen. Unter der Herrschaft des Evangeliums werden auch wir aufgefordert, langmütig zu sein und gütig auch über die Undankbaren und Boshaften (Lk. 6,35); aber das Amt der Obrigkeit ist anderer Art, ihr Auge muss strenger auf Gerechtigkeit sehen, als bei Privatpersonen ziemlich wäre. Soll die Obrigkeit nicht den Übeltätern ein Schrecken sein? (Vergl. Röm. 13,3.) Dass ich alle Übeltäter ausrotte aus der Stadt des HERRN. Jerusalem war berufen, eine heilige Stadt zu ein, darum hatte der Psalmist vor, zwiefach sorgsam zu sein, sie von ungöttlichen Menschen zu säubern. Das Gericht muss anfangen am Hause Gottes. Jesus behält seine aus Stricken geflochtene Geißel für die Sünder im Tempel auf. Wie rein sollte die Gemeinde Gottes sein, und wie fleißig müssten alle, die in ihr ein Amt haben, darauf hinarbeiten, Menschen von unsauberem Wandel von ihr ferne zu halten oder aus ihr hinauszutreiben! Ehrenvolle Ämter schließen ernste Verantwortlichkeit in sich; wollten wir diese leicht nehmen, so würden wir auf unsere eigne Seele Schuld laden und den Seelen anderer unberechenbaren Schaden zufügen. HERR, komm zu uns, damit wir, in unseren verschiedenen Lebensstellungen, mit unsträflichem Herzen vor dir wandeln!

Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Man hat an drei Zeiten im Leben Davids als Anlass der frommen Vorsätze dieses Psalms gedacht: an die Zeit, als David unmittelbar nach dem Tode Sauls seine Herrschaft über einen Teil des Volkes in Hebron antrat, oder an die Zeit, da das ganze Reich unter seinem Zepter vereinigt ward, oder drittens an die Zeit, als er die heilige Lade aus dem Hause Obed-Edoms holte und in der Nähe seines eigenen Hauses in dem dazu erbauten Zelte aufstellte. Es hat ja nicht viel zu bedeuten, welcher dieser drei Annahmen wir uns zuneigen, doch dünkt uns der zweite Vers des Psalms auf die letzgenannte Zeit hinzuweisen. Die Frage: "Wann kommst du zu mir?" scheint uns anzudeuten, dass David, als er das Sinnbild der Gegenwart Gottes so nahe bei sich haben sollte, tief von dem feierlichen Gefühl durchdrungen war, dass ihm jetzt mehr denn je ein heiliger Wandel obliege, und dieses Gefühl veranlasste ihn wohl, die heiligen Vorsätze zu fassen, welche er in diesem Psalm niederlegte. William Walford 1837.

Wahrlich, wenn jedes Familienhaupt seinen Haushalt nach den Regeln führte, welche der gewissenhafte Knecht des HERRN in diesem Psalme ausspricht, so hätten wir nicht nur ein viel größeres Maß von häuslichem Glück und Wohlbefinden, sondern auch von Erfüllung der ernsten, verantwortungsvollen Pflichten, welche den Gliedern eines Haushalts obliegen. Wohl spricht David hier von einem königlichen Haushalt, und mit einem solchen kann unser bescheidener Wirkungskreis natürlich nur wenig gemein haben; aber wenn die Pflichten und Erfordernisse auch noch so verschieden sind, so sollten doch alle, der Landesvater wie der geringste Hausvater, von den gleichen Grundsätzen erfüllt sein, und es können die gleichen Tugenden, welche den niedrigeren Stand zieren, auch über den höchsten Stand ihr Licht ausstrahlen. Barton Bouchier 1855.

Als Sir George Villier der Günstling und Premierminister König Jakobs I. von England wurde, riet ihm Lord Bacon (von Verulam † 1626) in einem trefflichen Briefe, sich diesen Psalm als Regel zu nehmen: Bei der Wahl der Hofleute sei der Blick auf ehrenhafte, treue Diener gerichtet, nicht nur darauf, dass sie von gefälligem Äußerem seien, zierlich die Kniee beugen und die Hand küssen können. Der König David war ein weiser, trefflicher König, dessen gutem Beispiel zu folgen jeder Fürst, der auch weise und gut sein will, wohl tun wird. Und wenn er irgendwelche schlecht findet, deren Schuld vielleicht nicht alsbald entdeckt werden kann, so eigne er sich den Entschluss des Königs David an: "Falsche Leute halte ich nicht in meinem Hause." Es wäre für beide, den Philosophen (Lord Bacon) wie den Minister (Sir Villier), gut gewesen, wenn sie wirklich darauf bedacht gewesen wären, nach dieser Regel zu wandeln. William Binnie 1870.

Eyring in seiner Vita Ernst des Frommen erzählt, dass dieser einem untreuen Minister den 101. Psalm zuschickte und dass man im Lande, wenn ein Beamter sich etwas zuschulden kommen ließ, sprichwörtlich sagte: Der wird gewiss bald den Fürstenpsalm zu lesen bekommen. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.

Der 101. Psalm war ein Lieblingspsalm eines der edelsten russischen Fürsten, Wladimirs II., genannt Monomachos (1113), und des vornehmsten der englischen Reformatoren, Nicholas Ridleys († 1555). - Der Psalm atmet strenge Ausschließlichkeit, eine edle Unduldsamkeit, nicht gegen unhöfische Manieren oder politische Freiheit, sondern gegen stolze Herzen und hohe Augen, gegen heimliche Verleumder, gegen Lügner und Betrüger. Das sind die Leute, die an Davids Hof geächtet waren; das die Empörer und Ketzer, die er nicht in seinem Hause wohnen lassen und vor seinen Augen dulden wollte. Arthur Penrhyn Stanley 1870.

John Foxe († 1587) berichtet, dass der Märtyrer Bischof Ridley († 1555) diesen Psalm oft seinen Hausleuten vorgelesen und erklärt und sie sogar durch Versprechen von Geld angespornt habe, den Psalm auswendig zu lernen. Thomas Lye † 1684.

V. 1. Gnade und Recht dürfen hier nicht als Inbegriff der Regententugenden genommen werden, da menschliche Tugenden im Lobgesang zu preisen nicht Sitte des Alten Testamentes ist, auch sogleich die Harfe als in den Dienst Jehovahs zu stellende bezeichnet wird. Es darf mithin V. 1 durchaus nicht als Thema des Psalms aufgefasst werden. Es wird ein den folgenden Vorsätzen, die sich sämtlich auf ein sittliches Verhalten zu Jehovahs Ehren und Wohlgefallen beziehen, durchaus paralleles Gelübde betreffs der Verwendung der Dichtergabe ausgesprochen in einer Weise, die stark für davidische Abfassung zeugt. General.- Sup. K. B. Moll † 1878.

Wie das Schiff, in welchem St. Paulus segelte, das Panier der Zwillinge hatte, so bilden das Wahrzeichen dieses Psalms die unzertrennlichen Gefährten Gnade und Recht. Das sind die zwei hellsten Sterne am Firmament der Majestät, die köstlichsten Edelsteine in der Königskrone, die Säulen des Staates. Denn wie es Spr. 16,12 heißt: "Durch Gerechtigkeit wird der Thron befestigt" so andererseits Spr. 20,28 (Grundt): "Durch Liebe stützt der König seinen Thron." Wie Diskant und Bass in der Musik, so harmonieren Gnade und Recht in der Führung des Staatswesens. Darum will David sie auch in seinem Gesang zusammen klingen lassen. - Wie die Gnade hier an die erste Stelle gesetzt ist, so wird auch am Jüngsten Tage das Urteil der Gnade zuerst gesprochen werden. Und es ist eine löbliche Sitte der Fürsten, bei dem Antritt ihrer Herrschaft Gnade zu erweisen, zu hören das Seufzen der Gefangenen und loszumachen die Kinder des Todes. So forschte ja auch David, sobald ihm die Krone aufs Haupt gesetzt war, ob jemand übergeblieben sei von dem Hause Sauls, dass er Barmherzigkeit an ihm tue. (2. Samuel 9,1). O wie köstlich ist solche Gnade in der Zeit der Angst und Not! Sie ist wie ein Regenschauer in dürrer Zeit. Doch die Gnade, von welcher der Prophet hier redet, hat noch reicheren Inhalt; sie entfaltet sich zu Barmherzigkeit, die Übeltätern vergibt, zu Mitleid, das den Notleidenden zu Hilfe kommt, und zu Leutseligkeit gegen alle. George Hakewill † 1649
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Erläuterungen und Kernworte

V. 2. Wandeln ist ein in der Heiligen Schrift und namentlich in dem Psalmbuch häufig bildlich gebrauchtes Wort. Wandeln schließt dreierlei in sich: Bewegung, Fortschritt und Mäßigung. Bewegung im Gegensatz zum Sitzen oder Liegen, Fortschritt in der Bewegung im Gegensatz zu Luftsprüngen, und Mäßigung in der fortschreitenden Bewegung im Gegensatz zu hastigem Rennen. George Hakewill † 1649.

In meinem Hause. Die Kraft der Gottseligkeit muss sich vornehmlich, wiewohl nicht allein, im häuslichen Leben zeigen. Es ist umsonst, von Heiligkeit zu reden, wenn wir keine Zeugnisse beibringen können, dass wir bei den Unsern heilig wandeln. Ach, wie traurig ist es, wenn diejenigen, welche Gelegenheit haben, uns am besten zu kennen, weil sie täglich mit uns umgehen, am wenigsten von unserer Gottseligkeit zu sagen wissen. Wenige sind so schamlos, dass sie nackend auf die Straße gehen; haben die Leute auch nur etwas, womit sie ihre Schlechtigkeit bedecken können, so ziehen sie es an, wenn sie an die Öffentlichkeit treten. Aber was bist du in deinem Hause? Wie steht es um die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung deiner Pflichten gegen deine Nächsten? Das ist ein schlechter Hausvater, der Geld hat, um es in Gesellschaft draußen auszugeben, aber keins, um das für seine Familie Nötige zu kaufen. Und kann der ein guter Christ sein, der all seine Frömmigkeit draußen ausgibt und keine für seine Nächsten daheim übrig hat? Ach ja, es wäre gut, wenn manche, welche sich bei den Christen draußen einen guten Namen machen, nicht in den sittlichen Pflichten, die ihnen den Ihrigen gegenüber obliegen, zurückblieben im Vergleich mit andern, die nicht für fromm gelten wollen. Es gibt manchen, der sich von ferne nicht für gläubig ausgibt, und doch sein Weib mit zarter Liebe und Freundlichkeit behandelt. Was für Christen sind dann die, welche gegen das Weib an ihrem Busen mürrisch und bissig sind, durch despotisches Herrschen ihr Gemüt verbittern und daran schuld sind, dass des HERRN Altar mit Tränen benetzt wird? Und man findet Frauen, die gegen ihre Ehemänner nicht zänkisch, verdrießlich und ungezogen sind, wiewohl nicht eigentlich ein Werk der Gnade in ihren Herzen ist; wandeln dann wohl solche, die das ganze Haus durch ihre heftigen Launen und Leidenschaften in Aufregung bringen, wie es den Heiligen ziemet? Es gibt ferner Dienstboten, die sich durch de Macht des natürlichen Gewissens von bösen Widerworten und Schmähungen zurückhalten lassen, wenn sie von ihren Herren getadelt werden; und die Gnade sollte nicht mit der Natur Schritt halten? Der fromme David wusste gar wohl, wie nahe dieser Teil der Pflichten eines gottseligen Menschen dem innersten Wesen der Heiligkeit liegt; deshalb stellt er, wo er feierlich gelobt, heilig vor Gott zu wandeln, dies als einen Prüfstein auf, an welchem er sonderlich erkennen könne, ob sein Herz in der Erneuerung der Gnade stehe. William Gurnall † 1679.

Es ist dem Menschen gemeiniglich leichter, in der Kirche oder sogar in der Welt gottselig zu wandeln als im eigenen Hause. Wie viele sind sanft wie Lämmer unter anderen Menschen, daheim aber Wespen oder Tiger! Adam Clarke † 1832.

Selbst in unseren bestgeleiteten Erziehungsanstalten wie auch in den Familien wird die Bildung noch in hohem Maße auf den Verstand beschränkt und der unmittelbare, persönliche Einfluss nur selten als zu der vollen kräftigen Entwicklung der Sittlichkeit und Frömmigkeit vor allem notwendig angesehen. Moralvorschriften werden, daran ist kein Zweifel, in Fülle gegeben; aber diese richten sich doch eben zunächst an den Verstand. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, zu rufen: "Sei freundlich, gerecht, liebevoll", wenn wir vielleicht im selben Augenblick die Wirkung der Mahnung durch unser eigenes entgegengesetztes Verhalten aufheben. "Sie sagte mir, ich dürfe nicht lügen", erzählt Guy Rivers von seiner Mutter, "und sie gab mir dazu selbst das Vorbild, indem sie häufig meinen Vater betrog, und mich anleitete, gegen ihn ungehorsam zu sein und ihn zu hintergehen." Solches Verhalten ist im wirklichen Leben wohl gewöhnlicher als man denkt, wenn es sich auch gemeiniglich nicht so hässlich zeigen mag. Eltern und Lehrer vergessen in der Tat zu oft, dass das Herz nach Eindrücken, nicht nach Verstandesschlüssen urteilt, und dass daher auch ein noch wenig entwickeltes Kind durch die unwillkürliche Wirksamkeit seiner moralischen Natur den sittlichen Unwert einer Handlungsweise entdecken und sich gegen sie innerlich auflehnen kann, während sein Verstand den Charakter dieser Handlungen vielleicht nicht zu ergründen oder sich klar zu machen vermag. Eine der wirksamsten Weisen, das sittliche Gefühl in den Kindern zu wecken und zu heben, ist, dass wir das sittlich Gute ihnen in unserem täglichen Verhalten vor Augen stellen. - Welche Tugend stärkt jener Vater wohl in seinem Kinde, der, indem er ihm von Gütigkeit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit etwas vorpredigt, das Kind auf listige Weise dazu bringt, einen Fehler zu bekennen, und es dann niederträchtig straft, wiewohl er ihm vorher Vergebung zugesagt hat? Und wie kann man die Aufrichtigkeit am besten unterstützen - dadurch dass man sie selbst beweist oder dadurch, dass man sie im Verhalten vernachlässigt und mit Worten anbefiehlt? Lässt sie sich dadurch pflegen, dass man ehrliche Absichten und Vorsätze verdächtigt? Oder wie kann Gerechtigkeit von einem Vormund genährt werden, der wohl davon spricht, aber in Wirklichkeit sein Mündel heimlich übervorteilt, wo er kann? Oder was soll das für eine Erziehung zur Sittlichkeit sein, die zu dem Kinde spricht: "Tu, was ich dir sage, so gebe ich dir Zuckerwerk oder Geld, oder, ich will es deiner Mama sagen, wie brav du warst" - und ihm so die niedrigsten und selbsüchtigsten Neigungen als Beweggründe zum Guten vorhält? Andrew Combe 1836.

V. 3. Wiewohl solch Stück ein groß Wunder ist, dass er für sich selbst so fest und beständig bleibt (V. 3a), so ist doch das noch viel höher, dass er folgend rühmet, er hasse den Übertreter. Nun hat es nicht gefehlet, er hat manchen seinen Mann gehabt, der ihm sonst lieb und wert gewesen ist, als der ihm nütze und not in seinem Haus und Reich gewesen; denn es haben oft die Gottlosen von Gott viel schöne, hohe Gaben und Geschicklichkeit zu weltlichen Sachen, deren man nicht wohl entbehren kann und gegen welche die Frommen nicht können Schüler sein. Gleichwie Ahitophel zu der Zeit ging weit über alle Kluge und Weisen im Reiche Davids, dass seine Ratschläge wurden geachtet, als hätte es Gott selbst geraten (2. Samuel 16,23), und er war doch ein Grundbösewicht, Verräter und Schalk im Herzen und hernach auch in der Tat, dass David, da er durch seinen Rat verjaget war, keinen so sehr fürchtete und wider ihn betete. (2. Samuel 15,31) Solche nützliche, weise, weidliche Leute, so im Reiche und Hause so viel Gutes schaffen und sich so wohl verdienet haben, und doch gottlose böse Buben sind, hassen und lassen um Gottes willen, da gehöret ein Mann zu, der mehr kann denn Brot essen. Denn es scheinet, wo sie nicht da wären, so müsste das Reich untergehen und keine Sparre am Hause bleiben. Darum wo ein Herr oder Hauswirt solche nützliche Diener soll hassen und lassen, muss er gewisslich ein Löwenherz haben und ein Wundermann in Gott sein, der sein Reich und Haus könne in die Schanze schlagen und allein auf Gott getrost pochen. - Der David reißt hindurch; sollte er gleich hundert Ahitophel verlieren, so will er lieber seinen HERRN Gott behalten, der da heißt Allmächtig und viel, viel Königreiche schaffen und geben kann, welcher er keines von seinen bösen Buben, so er dulden sollte, gewisslich nicht verdienen würde, wenn er sie gleich in Himmel hübe mit seinen eigenen Händen. - Wer nicht auch kann wehren, der wird auch nicht lange können nähren. Martin Luther 1534.

Es soll mir nicht ankleben - wie Pech, Wachs oder eine Klette. Albert Barnes † 1870.

V. 4. Ein falsches Herz ist mir fern, vom Bösen weiß ich nicht. Auch von bösen Gedanken hält er sich fern. Vom Bösen: nach dem Parallelismus nicht der, sondern das Böse. Prof. Friedrich Baethgen 1892.

V. 5. Der Verleumder, nach dem hebräischen Zungendrescher oder auf deutsch Wäscher, soll und muss ein fein Kätzlein sein. Er muss ja die zwo Tugenden an ihm haben, wie David selber seinen Doeg malet, dass er den König Saul gar fein konnte lecken, und reden, was ihm wohlgefiel, und den armen David so schändlich kratzen, dass auch dadurch über achtzig Priester erwürget wurden. Aber zuletzt geht Saul unter mit seiner Katze und bleibt David ein Herr, ungekratzet, ungebissen, dazu ungefressen. Denn David sagt hier, sie müssen vertilget werden. Leugt er, das werden sie wohl erfahren. Martin Luther 1534.

David rühmet hier nicht allein, dass er selbst sei nicht hoffärtig gewesen gegen seine Untertanen (welches wahrlich eine hohe königliche Tugend ist), sondern habe es auch seinem Hofgesinde nicht gestattet. Das tue ihm nach, wer da kann, er hat da ein Exempel hoch genug gesteckt. - Ist ein Fürst Wildbret im Himmel, so werden freilich auch die Amtleute oder Hofgesinde vielmehr Wildbret drinnen sein. Martin Luther 1534.

Verleumdung, Ehrbegier und Habsucht sind drei Unkräuter, die in dem üppigen Boden des Hoflebens sonderlich reichlich aufgehen und gedeihen. Der Psalmist erklärt seinen Entschluss, die schwierige Aufgabe zu unternehmen, diese unheilvollen Gewächse zum Besten seines Volkes auszurotten, damit die Israeliten nicht durch Angeber gehetzt oder durch unverschämte und raubgierige Beamte unterdrückt würden. Sollten wir uns wohl einbilden, diese Laster wären weniger verhasst bei dem König, dessen Wesen Demut und Liebe war? Oder wird Christus etwa so beschaffene Leute zu seinem himmlischen Thron zulassen, welche David von seinem irdischen Hofe ausschloss? Bischof George Horne † 1792.

V. 6. Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande - forschend, wo welche zu finden, dass ich sie in Dienst nehme, aber auch forschend nach denen, die treu dienen, dass ich ihnen mein Wohlgefallen zeige, sie schütze und aufmuntere und ihre Treue belohne. George Hakewill † 1649.

Also hat auch Christus seine Augen gerichtet auf treue Diener am Wort, die das Evangelium lauterlich predigen und über den Seelen treulich wachen, ebenso wie auf treue Glieder seiner Gemeine, die sich gläubig an ihn halten, sein Wort bewahren und ihm leben. Er schaut auf sie, dass er sie schütze, bewahre, segne und ehre. Sie sollen bei ihm wohnen, mit ihm zu Tische sitzen, auch mit ihm zu Gericht sitzen und herrschen. Hienieden schon wohnen sie in ihm und ist er mit ihnen alle Tage, und droben werden sie bei ihm sein allezeit. John Gill † 1771.

Wer auf redlichem Wege wandelt, der diene mir. Bist du ein gottesfürchtiger Hausvater? Dann triff, wenn du einen Dienstboten nehmen musst, die Wahl im Blick auf Gott sowohl als auf dich selbst. Bedenke, dass dein Haus dem HERRN dienen soll, dass ein Werk für Gott durch deinen Knecht sowohl als durch dich selbst getan werden soll. Wird der Knecht, der für Gottes Dienst untauglich ist, wohl für deinen geschickt sein? Ferner - du wünschest doch, dass die Arbeit, die dein Knecht unternimmt, gedeihe? Nun, welchen Untergrund der Verheißung hast du denn, zu hoffen, dass die Arbeit in der Hand eines Menschen gedeihe, der da sündiget die ganze Zeit, da er arbeitet? Ein gottseliger Knecht ist ein größerer Segen, als wir meinen. Er kann nicht nur selbst das Beste seines Meisters fördern, sondern sogar Gott dazu in Bewegung setzen, wie Elieser, da er betete: HERR, du Gott meines Herrn Abraham, begegne mir heute, und tu Barmherzigkeit an meinem Herrn Abraham! (1. Mose 24,12) Sicherlich erwies er seinem Gebieter durch dies Gebet einen ebenso guten Dienst wie durch sein weisliches Verhalten auf jener Reise. Wenn ihr nur einen Obstgarten anlegen wolltet, würdet ihr gewiss nach den besten Baumsorten Umschau halten und nicht den kostbaren Boden durch Einpflanzen von Holzapfelbäumen ertraglos machen. Nichtsnutzes Gesinde im Hause schadet aber mehr als ein unfruchtbarer Baum im Garten. Der fromme David hatte, als er an dem Hofe Sauls war, beobachtet, welch ein Unheil es ist, gottlose Knechte zu haben, denn von solchen war jener unglückliche König umgeben, und gerade diese Erfahrung von dem Unglück eines schlecht geordneten Hauswesens hatte den David wohl dazu geführt, noch in der Verbannung heilige Entschlüsse zu fassen für die Zeit, wann Gott ihn zum Haupt solcher königlichen Familie setzen würde. Er macht denn auch im Folgenden Lug und Trug besonders namhaft, nicht als ob er alle seine Kraft lediglich an den Kampf gegen diese Sünden wenden wollte, sondern weil er sie vor allem an Sauls Hofe so üppig hatte blühen sehen und unter ihnen so viel gelitten hatte. William Gurnall † 1679.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Regelmäßige Lesung aus der Schatzkammer David Ps101

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Erläuterungen und Kernworte

V. 7. Falsche Leute, Lügner. Uns Deutschen hat keine Tugend so hoch gerühmet und (wie ich glaube) bisher so hoch erhaben und erhalten, als dass man uns für treue, wahrhaftige, beständige Leute gehalten hat, die da haben Ja ja, Nein nein sein lassen, wie des viel Historien und Bücher Zeugen sind. Und ich weiß nicht viel Hoferecht; aber gleichwohl habe ich es erfahren, wie Herzog Friedrich denen Lügnern so wunderlich feind war. So sind viel andere Fürsten zuvor auch gewesen. Wir Deutschen haben noch ein Fünklein (Gott wolle es erhalten und aufblasen) von derselben alten Tugend, nämlich, dass wir uns dennoch ein wenig schämen und nicht gerne Lügner heißen, nicht dazu lachen, wie die Wahlen und Griechen, oder einen Scherz daraus treiben. Und obwohl die welsche und griechische Unart einreißet, Gott erbarme es! so ist dennoch gleichwohl noch das Übrige bei uns, dass kein ernster, greulicher Scheltwort jemand reden oder hören kann, denn so er einen Lügner schilt oder gescholten wird. Und mich dünkt (soll es dünken heißen), dass kein schädlicher Laster auf Erden sei, denn Lügen und Untreu beweisen, welches alle Gemeinschaft der Menschen zertrennet. Denn Lügen und Untreu zertrennet erstlich die Herzen; wenn die Herzen getrennet sind, so gehen die Hände auch voneinander; wenn die Hände voneinander sind, was kann man da tun und schaffen? Wenn Kaufleute einander nicht Glauben halten, so fället der Markt zu Grunde. Wenn Mann und Weib einander nicht treu sind, so läuft sie hinten aus, der Mann vorn aus, und gehet, wie jener saget: "Wehre, liebe Else, wehre, dass wir reich werden: brich du Krüge, so breche ich Töpfe." Wenn ein Bürgermeister, Fürst, König nicht Geleit treulich hält, da muss die Stadt verderben, Land und Leute untergehen. Darum ist auch im Welschlande solch schändlich Trennen, Zwietracht und Unglück. Denn wo Treu und Glaube aufhöret, da muss das Regiment auch ein Ende haben. Christus helf uns Deutschen! Wenn nun solch Laster zu Hofe oder in denen Ämtern auch ist, wie David hier bekennet, so muss es auch danach gehen. Denn ob Bauer und Bürger einander betrügen, belügen, täuschen und beschmeißen, das ist noch nicht der ärgste Teufel, weil sie nicht im Regimente sind; aber wenn es kömmt in die hohen Leute, so Land und Leuten Schaden tun, das ist der Beelzebub. Wie Papst Julius II. und hernach Clemens VII. gegen die Kaiser täten (wie zwar der Päpste viel getan haben); und wenn Fürsten gegeneinander auch so tun, und zuletzt Amtleute oder Hofgesinde auch gegen die Untertanen, da viel Verheißens, Zusagens, Vertröstens, Schwören und Eiden, dass die Balken krachen, geschieht, und ist alles eitel Freund und Bruder. - Wohl ist es Wunder, dass in solchem heiligen Volk, unter so frommem, heiligem Könige auch Falsche und Lügner gewesen sind. Denn wo er sie nicht hätte unter sich gehabt, warum sollte er seine königliche Tugend hierinne so hoch rühmen? Ist nun sein, eines solchen trefflichen Königs Hof also gestanden, so mögen wahrlich wir Heiden auch, ein jeglicher König und Fürst seinen Hof nicht viel besser achten, noch heiliger schätzen, und diesen Psalm wohl lassen an die Wände malen. Martin Luther 1534.

V. 8. Da das Königreich Davids nur ein schwaches Bild von dem Reiche Christi war, müssen wir uns Christum hier vor Augen stellen, der, ob er auch mit manchen Heuchlern noch Geduld haben mag, doch endlich als Richter der Welt alle zur Verantwortung ziehen und die Schafe von den Böcken scheiden wird. Und wenn es uns manchmal dünkt, er verziehe zu lang, so lasst uns an jenen Morgen denken, bei dessen plötzlichem Anbruch alle Unflätigkeit weggeschwemmt werden, die wahre Reinheit aber hervorleuchten wird. Jean Calvin † 1564.

Jeden Morgen. Aus etlichen gelegentlichen Andeutungen der Schrift, wie 2. Samuel 15,2; Ps. 101,8 und Jer. 21,12, hat man den Schluss gezogen, dass die Richter in der Regel des Morgens Gericht gehalten haben. In einem Klima, wie Palästina es hat, wäre eine solche Sitte sehr natürlich und passend. Es ist aber immerhin zweifelhaft, ob die Worte unserer Stelle mehr ausdrücken als die Hurtigkeit und den Eifer, welche ein gerechter Richter bei der Ausübung seiner Pflicht erweist. E. P. Barrows 1873.

Er rühmet sich auch, dass er solche Wundertaten frühe ausrichte. Solch Frühe heißt hier nicht des Tags, sondern des Regiments Frühestunde, das ist, er hat solche Laster bald und beizeiten, ehe sie zum halben oder ganzen Mittag in ihre Hitze gekommen sind, getilget. Denn wo man eine Untugend lässt einreißen und zur Gewohnheit kommen, da ist denn kein Rat. Vorsehen ist das Beste am Spiel, sagt man, und gehöret ein David dazu, der so wacker und scharf sei; ja, er muss sonderlich erleuchtet sein, dass er die Frühstunde merke und des Lasters Anfang erkenne, und flugs die Eier des Ungeziefers im Neste, ehe die Mittagssonne Raupen daraus macht, vertilge. Sage mir, wer will jetzt in deutschen Landen dem Wucher und Saufen steuren? Es reisen jetzt auch welsche Tugenden in Deutschland. Niemand siehet es, niemand wehret es. Danach, wenn wir es nicht mehr leiden wollen und gerne gesteuert hätten, so werden die Raupen in allen Blättern sitzen und wird heißen, zu lange geschlafen. Mein lieber Doktor Staupitz pflegte also zu sagen: Wenn Gott einen strafen will, so macht er ihn zuvor blind, dass er nicht muss sehen, wo seine Gefährlichkeit und Schaden anfahen. Darum muss wahrlich mein Davidlein nicht ein klein Schälklein (wie man spricht) gewesen ein, der große Schälke so bald hat mögen kennen. Wie gar ein misstrauischer König wird er gewesen ein, wie genau wird er alle Worte und Werke seines Gesindes haben müssen bedenken; und dennoch ist er ein gnädiger, demütiger, freundlicher, tröstlicher Herr geblieben. Martin Luther 1534.

Wir wollen das heilige Gelöbnis dieses Verses an unserem eigenen Herzen als dem Heiligtum des HERRN, dem Tempel des Heiligen Geistes, auszuführen beginnen. Alfred Edersheim 1866.

Zum ganzen Psalm. Nun, dies war der unverbesserliche Plan der davidischen Regierung, der aber freilich so vollkommen ist, dass er ein Plan der Regierung Christi heißen kann und von David nie ganz erfüllt werden konnte. Güte und Gericht (V. 1) oder wohltuende Gelindigkeit und Schärfe machen den Begriff der Gerechtigkeit aus, von einer Regierung aber kann nichts gefordert werden, als dass sie gerecht sei. Der König muss rechtschaffen sein und sich von Gott leiten lassen; er muss das Böse hassen, das Gute lieben, das Böse von sich entfernen und das Gute an sich ziehen. Er muss das Böse vertilgen, damit das Gute Raum gewinne. Nun hat David freilich dieses alles in seinem Maße geleistet. Er ist in seiner Regierung treu vor Gott erfunden worden. Er hat das Zeugnis bekommen, dass er ein Mann nach dem Herzen Gottes sei. Der Heilige Geist sagt 1. Chr. 18,14 von ihm, dass er Gericht und Gerechtigkeit allem seinem Volk gehandhabt, und Ps. 78,72, dass er Israel mit aller Treue geweidet und mit allem Fleiß regiert habe. Ja, als der Geist Gottes dem König Hiskia ein gutes Zeugnis geben wollte, so hieß es also: Er tat, das dem HERRN wohlgefiel, wie sein Vater David. (2. Chr. 29,2.) Und dem König Josia wird es (2. Chr. 34,2) zu seinem Ruhme nachgesagt, dass er in den Wegen seines Vaters David gewandelt habe. David war also das größte Muster eines rechtschaffenen Regenten, das Gott zur Zeit des Alten Testaments aufgestellt hat. Die Gerechtigkeit seiner Regierung war nicht diejenige mechanische Gerechtigkeit, die unter der Geduld Gottes noch in der bösen Welt im Schwang geht. Nach dieser mechanischen Gerechtigkeit lässt man die eingeführten Gesetze wie ein Uhrwerk ihren Gang gehen. Man übt äußerlich einige Gerechtigkeit aus, ohne den Geist der Gerechtigkeit zu haben. Man straft das Böse, wenn es die Gesetze erfordern, ohne einen Hass dagegen zu haben. Ehebrecher können zu Gericht sitzen und andere Ehebrecher verurteilen, Diebe können Richter sein und Diebstähle strafen, usw.; aber deswegen hassen jene den Ehebruch und diese den Diebstahl nicht. Wiederum, was nicht förmlich geklagt wird, was nicht im Amtsstatut ausdrücklich steht, und wozu einen nicht der Eigennutz oder die Gefahr, Amt und Einkommen zu verlieren, drängt, das schließt man von dem Plan dieser mechanischen Gerechtigkeit aus, darüber bekümmert man sich nicht, weil man keinen Eifer für die Ehre Gottes, keinen Hass wider das Böse, keine Liebe zum Guten, keine Hoffnung der ewigen Belohnung, und mit einem Wort keinen lebendigen Glauben in seinem Herzen hat. Daher kommt das schlaffe und lahme Wesen in allen Ständen, worüber schon viele rechtschaffene Knechte Gottes geklagt haben und dem nicht durch menschliche Gesetze, sondern nur durch den Geist des lebendigen Gottes abzuhelfen ist. Nun lese man aber dagegen noch einmal den 101. Psalm und lerne daraus, was es sei, wenn die Gerechtigkeit im Herzen ihren Sitz hat und sich durch einen unsträflichen Wandel und freiwilligen Hass des Bösen und Eifer für’s Gute äußert. Prälat M. Fr. Roos 1773.

Homiletische Winke

V. 1. 1) Das liebliche Werk, zu welchem der Psalmist sich entschließt: Ich will singen. 2) Der liebliche Sänger, der diesen Entschluss fasst: Ich, David. (2. Samuel 23,1.) 3) Der liebliche Inhalt des Liedes: Gnade und Recht. 4) Das liebliche Wesen, zu dessen Preise der Gesang erklingen soll: Dir, HERR. Ralph Erskine † 1752.
Von Gnade will ich singen. 1) Sie gibt sich frei und unverdient. 2) Sie wird mir unerwartet zuteil. 3) Sie kommt zur rechten Zeit. 4) Sie ist so groß und kommt so reich. 5) Sie ist so gewiss und fest. Ralph Erskine † 1752.
1) Die verschiedenen Erfahrungen des Gläubigen im Leben: nicht lauter Gnade, nicht lauter Gericht, sondern Gnade und Gericht. 2) Pflicht und Vorrecht des Gläubigen in Beziehung auf beides: Ich will singen. Denn beide a) kommen von Gott, b) entspringen seiner Liebe, c) dienen dem Gläubigen zu seinem Besten in dieser Zeit und d) bereiten ihn zu der himmlischen Ruhe. Prof. George Rogers 1874.
V. 1.2. Vereinigung von Lobgesang und heiligem Wandel. Die Glöcklein des Lobpreises und die Granatäpfel heiliger Fruchtbarkeit sollten beide den Priester des HERRN schmücken. (2. Mose 28,33 f.).
V. 2. 1) Das ersehnte Ziel: Unsträflicher Wandel. 2) Die dazu begehrte Hilfe: "Wann wirst du zu mir kommen?" 3) Die vorgesehene Erprobung: in meinem Hause, wo ich am meisten ich selber bin und man mich am genauesten kennt. Prof. George Rogers 1874.
V. 2b. Wann kommst du zu mir? Dieser Ausruf des Psalmisten bezeugte, dass er 1) sich bewusst war, zu einem heiligen Wandel der Gnadenheimsuchung Gottes zu bedürfen, 2) sehnlich nach ihr verlangte, 3) sie mit Zuversicht des Glaubens erwartete, 4) sie gebührend als freie Gnade würdigte.
V. 2c. Häusliche Frömmigkeit. Ihre Notwendigkeit, ihre Vortrefflichkeit, ihr mächtiger Einfluss und ihr Lohn. Man merke auch, welch gründliche Änderung des Herzens und welche Festigkeit des Vorsatzes für sie nötig sind.
V. 3. 1) Schon das Anschauen von Bösem ist zu meiden: Ich will mir nicht vor Augen stellen heillose Dinge. 2) Bietet es sich uns dennoch dar, so ist es zu verabscheuen: Übertretung zu verüben hasse ich. 3) Hängt es sich an uns, so ist es abzustoßen: Es soll mir nicht ankleben.
V. 4. Wie notwendig die größte Sorgfalt in der Wahl unserer Vertrauten ist.
V. 5. Die verabscheuungswürdige Natur der Verleumdung. Diese verwundet drei Leute zugleich: den Verleumder, den Hörer und den, der verleumdet wird.
V. 6. Die Pflicht mit irdischen Gütern und einflussreichen Stellungen bekleideter Gläubigen, gottselige Leute in jeder Weise zu unterstützen und ihre Kraft zu Gottes Ehre in Dienst zu stellen.
V. 8. Das Werk des Königs aller Könige, wenn er als Richter kommt.
1. So auch Hengstenberg, Stier und ähnlich Luther 1524. Aber wiewohl lykIi&:hi an sich (ohne Präpos.) klüglich handeln heißt, wird es doch hier mit bI: wie
Dan. 9,13 bedeuten: nachdenkend auf etwas achten, also: Ich will achthaben auf unsträflichen Wandel.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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PSALM 102 (Auslegung & Kommentar)


Inhalt

Der vorliegende Psalm enthält die Wehklage eines echten Vaterlandsfreundes über die Not seines Heimatlandes. Der Sänger hüllt sich in den Kummer seines Volkes wie in ein Gewand von Sacktuch und streut sich den Staub und die Asche des verwüsteten Landes auf das Haupt, zum Zeichen, dass seiner Volksgenossen Leid sein Leid ist. Wohl hat er eigenen Kummer und persönliche Feinde, ist dazu auch am Leibe von Krankheit schwer heimgesucht; aber viel größeres Herzeleid bereitet ihm der Jammer seines Volkes, und diesem Weh gibt er in einem inbrünstigen, erschütternden Klaglied Ausdruck. Bei aller Trauer ist er aber keineswegs ohne Hoffnung für sein geliebtes Vaterland; er hat Glauben an Gott und schaut voller Zuversicht nach der Zeit aus, da des HERRN allmächtige Gnade sein Volk wieder aufrichten wird. Das gibt ihm den Mut, mitten unter den Trümmern Jerusalems dahinzuwandeln mit dem aus freudigem Geist geborenen Trostbekenntnisse: Du liebes Zion, nein, du wirst nicht gar zu Grunde gehen. Nicht für immer ist die Sonne dir untergegangen, lichte Tage sind dir noch aufbehalten!
Es wäre vergebliche Mühe, genau den Zeitpunkt in der Geschichte Israels feststellen zu wollen, wo die Seele eines Vaterlandsfreundes in dieser Weise bewegt sein konnte; denn gar oft lag das Land unter schwerem Druck, und in jedem solchem traurigen Zeitabschnitt konnte dieses Lied und Gebet der natürliche und passende Herzenserguss eines Propheten oder frommen Fürsten sein.

Überschrift

Ein Gebet ist dieser Psalm viel mehr dem Geiste als den Worten nach. Eigentliche Bitten enthält er nur wenige; doch geht vom Anfang bis zum Ende ein mächtiger Strom des Flehens durch ihn hindurch und findet, einer Unterströmung gleich, durch die Wehklagen des Kummers und die Bekenntnisse des Glaubens, die den größten Teil des Psalms füllen, seinen Weg zum Himmel. Er ist das Gebet eines Elenden oder Dulders, und er trägt die Kennzeichen seiner Abstammung deutlich an sich. Was von Jaebez berichtet wird, dass seine Mutter ihn mit Kummer geboren habe (1. Chr. 4,9), das können wir auch von diesem Psalme sagen. Jedoch wie Rahels Sohn Benoni oder Schmerzenskind von seinem Vater Jakob: Benjamin, Sohn der Rechten, d. i. Glückskind oder Trostkind, genannt wurde (1. Mose 35,18), so ist dieser Psalm auch beides, der treffendste Ausdruck des Trostes wie der Trostlosigkeit. Die Alten haben schwerlich das Richtige getroffen, indem sie ihn unter die (sieben) Bußpsalmen einreihten; denn der Schmerz, der sich in ihm ausklagt, ist der Schmerz eines gottseligen Dulders, nicht der eines reumütigen Sünders. Der Psalm hat sein eigen Leid (Spr. 14,10), das nicht dem des 51. gleicht. Der Gottesmann, der hier redet, ist mehr um andere als um sich selbst betrübt, sein Kummer gilt viel mehr Zion und dem Hause des HERRN als seinem eignen Hause. So er betrübt ist oder wörtlich: dahinschmachtet. Die besten Menschen sind nicht immer imstande, den Wildbach ihres Schmerzes zurückzudämmen. Sogar wenn Jesus an Bord ist, kann das Schiff sich mit Wasser füllen und zu sinken beginnen. Und seine Klage vor dem HERRN ausschüttet. Wenn ein Gefäß umgestürzt wird, dass sich der Boden zuoberst kehrt, so fließt naturgemäß alles heraus, was darinnen ist. So nimmt große Erschütterung durch Trübsal dem Herzen alle Zurückhaltung, dass die innersten Gedanken und Empfindungen frei ausströmen. Wohl uns, wenn das, was unsre Seele füllt, derart ist, dass wir es in Gottes Gegenwart ausschütten dürfen. Das ist nur bei einem durch Gottes Gnade erneuerten Herzen der Fall. Der Psalm ist eine Klage, aber keine Anklage gegen Gott, sondern eine Wehklage; der Ausdruck des Schmerzes, nicht der Empörung.
Zum Zwecke leichteren Behaltens wollen wir den Psalm Des Vaterlandsfreundes Klaglied nennen.

Einteilung


In dem ersten Abschnitt, V. 2-12, nimmt das Wehklagen jeden Vers ganz in Anspruch; das Jammern geht fort ohne Unterbrechung, unsägliche Betrübnis ist das alles Beherrschende. Der zweite Abschnitt, V. 13-29, dagegen erschaut eine bessere Zukunft, indem er sein Augenmerk auf den gnadenreichen HERRN, sein ewiges Wesen und seine Fürsorge für sein Volk richtet. Zwar ist auch dieser Teil noch von dunkeln Wolken beschattet, aber die Sonne bricht bereits wiederholt hindurch, und er endet ganz herrlich mit ruhiger Zuversicht für die Zukunft und seligem Ausruhen im HERRN. Man mag das ganze heilige Lied einem Tage vergleichen, der mit Sturm und Regen beginnt, sich aber gegen Mittag allmählich zu erquickendem Sonnenschein aufklärt, mit einigen Unterbrechungen durch Regenschauer im Ganzen schön bleibt und in strahlendem Abendrot endigt.

Auslegung

2.
HERR, höre mein Gebet
und lass mein Schreien zu dir kommen!
3.
Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not,
neige deine Ohren zu mir; wenn ich dich anrufe,
so erhöre mich bald!
4.
Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch,
und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand.
5.
Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras,
dass ich auch vergesse, mein Brot zu essen.
6.
Mein Gebein klebt an meinem Fleisch
vor Heulen und Seufzen.
7.
Ich bin gleich wie eine Rohrdommel in der Wüste;
ich bin gleich wie ein Käuzlein in den zerstörten Stätten.
8.
Ich wache, und ich bin
wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.
9.
Täglich schmähen mich meine Feinde;
und die mich verspotten, schwören bei mir.
10.
Denn ich esse Asche wie Brot
und mische meinen Trank mit Weinen
11.
vor deinem Dräuen und Zorn,
dass du mich aufgehoben und zu Boden gestoßen hast.
12.
Meine Tage sind dahin wie ein Schatten,
und ich verdorre wie Gras.




2. HERR, höre mein Gebet. Wer von Herzen betet, gibt sich nicht damit zufrieden, zu beten um des Betens willen, das ist, um wieder einmal dieser Pflicht genügt zu haben, sondern begehrt wirklich des großen Gottes Ohr und Herz zu erreichen. In Leidenszeiten finden wir einen großen Trost darin, andern unseren Kummer mitzuteilen; wir fühlen uns erleichtert, wenn sie unseren Klagen Gehör schenken. Wie viel süßerer Trost aber ist es, zu wissen, dass Gott selbst uns ein Freund sein will, der voll Mitleids unseren Klagen lauscht. Dass er ein solcher ist, das ist kein Traum und keine Fabel, sondern eine wohl erwiesene Tatsache. Ein bittereres Weh könnte man uns freilich nicht antun, als wenn man unwiderleglich darzutun vermöchte, dass Gott nicht hört noch antwortet. Wer uns zu solch düsterem Glauben beredete, täte uns wahrlich damit keinen besseren Dienst, als wenn er unser Todesurteil uns verläse. Nein, besser tot als des Gnadenstuhls beraubt sein! Dann doch lieber gleich ein ausgesprochener Gottesleugner sein, als einen Gott glauben, der seine Geschöpfe nicht hört und kein fühlend Herz für ihre Leiden hat. Und lass mein Schreien zu dir kommen. Wenn der Jammer solche Höhe erreicht, dass Worte zu schwach sind, ihm Ausdruck zu geben, und das Beten sich in Schreien verwandelt, dann brennt das Herz danach, beim HERRN Gehör zu erlangen. Dringen unsere Hilferufe nicht durch die Wolken, kommen sie nicht zu dem lebendigen Gott, dann lasst uns nur ganz vom Beten abstehen, denn in den Wind zu schreien ist zwecklos. Doch, Gott sei gepriesen, die Weltweisheit, die uns solch abscheuliche Gedanken einflüstert, wird durch die Tatsachen der täglichen Erfahrung widerlegt, da Tausende von Gläubigen es mit dem Psalmdichter (66,19) bezeugen können: Wahrlich, Gott hat mich erhört!

3. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not. Erwecke nicht den Schein, als ob du mich nicht sähest oder mich nicht kennen wolltest. Lass dein Antlitz doch jetzt wenigstens mir freundlich leuchten. Spare dein Stirnrunzeln auf eine andere Zeit, da ich es besser ertragen kann - wenn ich es überhaupt je auszuhalten vermag; jetzt aber in meiner Angst und Drangsal schenke mir einen Blick mitfühlenden Erbarmens! Neige deine Ohren zu mir, wenn ich dich anrufe. O du Erhabener, beuge dich nieder zu meiner Schwachheit. Musst du um meiner Sünde willen dein Angesicht von mir gewandt halten, so lass mich doch wenigstens von der Seite dich schauen; leihe mir gnädig dein Ohr, wenn ich in dein Auge nicht blicken darf. Ich schreie zu dir, so erhöre mich bald! Eilends sende mir Hilfe! Die Not ist dringend, und meine Seele hat kaum mehr Kraft zu harren. Wir dürfen flehen, dass Gott uns so schnell wie möglich Antwort auf unser Gebet sende; nur dürfen wir nicht murren, wenn er es für weiser hält, uns noch warten zu lassen. Es ist uns gestattet, immer wieder anzufragen, ja sogar in gewisser Weise zudringlich zu sein (Lk. 11,8; 18,5), nimmermehr aber dürfen wir Gott Vorschriften machen wollen oder trotzig von ihm fordern. Wenn schleunige Hilfe hochnötig ist, sind wir ganz berechtigt, einen nahen Zeitpunkt in unserem Gebet zu nennen; denn Gott ist ebenso bereit, uns heute seine Gnade zu erweisen wie morgen, und ist nicht säumig in der Erfüllung seiner Verheißungen. Von menschlichen Wohltaten sagt das Sprichwort: "Doppelt gibt, wer schnell gibt", weil eine Gabe so sehr an Wert gewinnt, wenn sie zu der Zeit eintrifft, da man ihrer am dringendsten bedarf; sollten wir da nicht gewiss sein dürfen, dass unser himmlischer Wohltäter uns die besten Gaben in der besten Weise geben wird, indem er, wie es Hebr. 4,16 (Grundtext) heißt, uns Gnade finden lässt zu rechtzeitiger Hilfe? Wenn die Antwort unserer Bitte auf dem Fuße folgt, ist sie umso wunderbarer, tröstlicher und ermutigender.
In diesen beiden Versen hat der Psalmist eine ganze Fülle von Ausdrücken zu einem Zweck vereinigt; er erbittet auf die mannigfaltigste Weise Gehör und Antwort vom HERRN. So erscheint dieser erste Teil als eine Art Vorwort zu dem Gebet, das nun folgt.


4. Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch. Der Kummer hat meinem Leben alle Kraft, allen Gehalt genommen, ich komme mir vor wie eine Dunstwolke, die nichts Festes in sich hat und sich bald in ein Nichts auflöst. Das Bild ist außerordentlich treffend gewählt; denn dem Unglücklichen erscheint das Leben nicht nur hinfällig, sondern von so vielem umgeben, das verdunkelnd, beschmutzend, blind machend und niederdrückend wirkt, dass er sich in seiner Verzagtheit einem Menschen vergleichbar fühlt, der in undurchdringlichem Nebel dahinwandert und sich dabei selber so schattenhaft vorkommt, als wäre auch er kaum etwas Besseres als eine Rauchsäule.1 Wenn unsre Tage weder Licht der Freude noch Feuer der Tatkraft mehr in sich haben, sondern wie ein qualmender Docht werden, der schmählich in Finsternis erstirbt, dann haben wir wahrlich Grund genug, uns flehend zum HERRN zu wenden, dass er uns nicht gar auslöschen wolle. Und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand oder (Engl. Übers.) wie ein Herd.2 Er war ausgebrannt wie eine Feuerstätte, auf der das Holzfeuer verzehrt ist, oder wie ausgebrannte Asche, in der sich kaum noch eine Spur von Glut findet. Seine Seele war nahe daran, wie ein Rauchdampf hinweggehaucht zu werden, und sein Leib schien zurückbleiben zu sollen wie ein verlassener Feuerherd, auf dem der letzte noch Hoffnung gebende Aschenfunke erloschen ist. Wie oft hat es uns geschienen, als stünde es mit unserer Frömmigkeit ebenso. Wir glaubten allen Grund zu haben, ihre Wirklichkeit in Frage zu stellen und zu fürchten, dass sie überhaupt nie etwas besseres gewesen als Dunst und Rauch. Der unleugbarste Beweis ihrer Schwäche lag uns vor Augen, denn wir vermochten auch nicht den geringsten Trost aus ihr zu gewinnen, so wenig wie ein frostdurchschauerter Wanderer sich an dem kalten Herd wärmen kann, auf welchem lange zuvor einmal ein Feuer gebrannt hat. Selbst erlebte Seelenpein wird uns am besten die Worte des Psalmisten verstehen lehren; auch schwere Zeiten in der Gemeinde mögen uns dazu dienen, wenn uns das traurige Los beschieden ist, sie erleben zu müssen. Der Kummer des Psalmdichters war hervorgerufen durch den Anblick der Nöte, unter denen sein Volk seufzte. Diese wirkten so schmerzlich auf sein von glühender Vaterlandsliebe erfülltes Gemüt, dass er von Angst verzehrt ward, sein Hoffnungsmut wie ausgebrannt war, ja sein Leben zu erlöschen drohte. Für ein Land, das solchen Sohn hat, ist noch Hoffnung; nimmer kann ein Volk ganz untergehen, solange treue Herzen noch bereit sind, für dasselbe zu sterben.

5. Mein Herz ist geschlagen, nämlich von der Hitze3 der Anfechtung, wie eine von der Tropensonne versengte Pflanze, und verdorrt wie Gras, das zu Heu eintrocknet, wenn die Sense es niedergemäht hat. Das Herz des Psalmisten war wie eine verwelkte und verdorrte Blume, das ausgebrannte Überbleibsel von einstigem üppig grünendem Leben. Tatkraft, Schönheit, Frische, Freudigkeit, alles war ihm geschwunden unter dem verzehrenden Einfluss der Angst und Pein. Dass ich auch vergesse, mein Brot zu essen, oder: Vergesse ich doch (sogar), mein Brot zu essen! Schwerer Kummer raubt alle Lust zur Speise, und die Vernachlässigung der Leibesstärkung untergräbt dann vollends die Kraft, so dass die Gemütsstimmung noch tiefer sinkt. Wie die verdorrte Blume nicht mehr vom Tau des Himmels trinkt noch Nahrung aus der Erde schöpft, so weigert sich ein von tiefem Kummer zusammengepresstes Herz, sowohl Trost für die Seele als auch Stärkung für den Leib anzunehmen, und verfällt so zwiefach schnell der Schwachheit, Verzagtheit und Verzweiflung. Der hier geschilderte Zustand ist durchaus nicht selten; wir haben oft genug mit Leuten zu tun gehabt, die durch Kummer so zerrüttet waren, dass sie selbst an so notwendige Dinge wie Essen und Trinken nicht mehr dachten, und wir müssen gestehen, dass wir selber schon in gleicher Verfassung gewesen sind. Der eine brennende Schmerz erfüllte die Seele, nahm alle Gedanken in Anspruch und drängte alles andere dermaßen in den Hintergrund, dass wir so gewöhnliche Dinge wie Speise und Trank gänzlich missachteten und die Essenszeiten völlig unbeachtet vorübergingen. Die Folge aber war weniger eine alsbald erkennbare Schwächung des Körpers, als vor allem eine gesteigerte Ermattung des Herzens.


Fußnoten
1. Um diesen Vergleich ganz zu würdigen, muss man den schweren, schmutzigen Londoner Nebel kennen, der Spurgeon dabei vorschwebt.
2. Ob dq"Om Feuerstätte (Herd), Brand = brennendes Holz oder Brand = Glut bedeutet, mag streitig bleiben. Jedenfalls aber bedeutet das Zeitwort nicht ausgebrannt im Sinne von erloschen, erkaltet (wie Spurgeon meint), sondern entweder ausgebrannt gleich: von der Hitze ausgedörrt, oder wohl eher: durchglüht. Man kann also übersetzen: wie ein Herd oder ein Holzstoß durchglüht oder (zu kIi siehe Ges. § 118, 6d): wie von Brand durchglüht oder wie von Glut ausgedörrt. Die rasende Fieberglut ist Bild des verzehrenden Schmerzes. - James Millard
3. Es ist das auch Jona 4,8; Ps. 121,6 und anderwärts von dem Stechen und Versengen der Sonnenglut gebrauchte Wort.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Regelmäßige Lesung aus der Schatzkammer David Ps102

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6. Mein Gebein klebt an meinem Fleisch4 vor Heulen und Seufzen. Er war ganz abgezehrt vor Kummer. Er hatte sich zu einem lebenden Gerippe geseufzt und ähnelte so in seiner körperlichen Erscheinung umso mehr jenen vom Rauch oder der Sonnenglut gedörrten, verwelkten und ausgebrannten Dingen, mit denen er sich soeben verglichen hatte. Es wird, fürchten wir, bei manchen Christen noch sehr lange dauern, bis die Leiden der Gemeinde Gottes sie zu einem für anatomische Studien geeigneten Zustand zusammenschrumpfen lassen! Der Psalmist aber war von Mitgefühl für Zions Leiden so tief innerlich ergriffen, dass er unter dem unablässigen Gebet und Harm zu Haut und Knochen geworden war.

7. Ich bin gleich wie eine Rohrdommel oder nach den alten Übersetzungen wie ein Pelikan in der Wüste, ein melancholisches und sogar widerliches Geschöpf, das Bild der Vereinsamung; ich bin gleich wie ein Käuzlein in den zerstörten Stätten, das die Einsamkeit liebt, grübelnd zwischen den Ruinen sitzt und kreischende Misstöne ausstößt. Der Dichter vergleicht sich mit zwei Vögeln5, die als Sinnbilder der Traurigkeit und Unglückseligkeit sprichwörtlich waren. Zu andern Zeiten war er einem Adler gleich gewesen; aber die Leiden seines Volkes hatten ihn gar sehr heruntergebracht. Aus seinen Augen war der Glanz gewichen, alle Ansehnlichkeit des Leibes war geschwunden; er kam sich vor wie ein schwermütiger Vogel, der in Trübsinn versunken zwischen den zerfallenen Palästen und zerstörten Heiligtümern seines Heimatlandes sitzt. Sollten wir nicht ebenso wehklagen, wenn die Straßen Zions wüst liegen und die Macht der Gottesstadt dahingeschwunden ist? Ach, wäre mehr solch heiliger Traurigkeit unter uns zu finden, wir würden bald den HERRN sich aufmachen sehen, seine Gemeinde aufzubauen. Es steht Männern schlecht an, den Pfau zu spielen, sich in dummem weltlichem Stolze aufzublähen, wenn die Schäden der Zeit sie so traurig stimmen müssten, dass der Pelikan ihr Gleichnis wäre, und es ist geradezu schrecklich, es sehen zu müssen, wie Menschen sich gleich beutegierigen Geiern in Scharen über eine verfallende Kirche hermachen, während sie der Eule gleich über ihren Trümmern wehklagen sollten!

8. Ich wache (schlaflos), und ich bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache. Einsam wie eine alleinstehende Schildwacht halte ich Wache über mein Volk; meine Genossen sind zu selbstsüchtig und zu sorglos, sich um mein geliebtes Vaterland zu bekümmern. So gleiche ich einem Vogel, der in stiller Nacht einsam auf dem Dachfirst sitzt und wacht, während alles schläft. Wahrscheinlich dachte der Psalmsänger nicht an den muntern Sperling, sondern eher, weil die Schlaflosigkeit zur allgemeinen Schlafenszeit als Vergleich dient, an einen Nachtvogel wie die Eule, die nachts auf dem Dach zu sitzen und zu heulen pflegt. Man kann freilich auch, besonders wenn man das Wachen nicht in den Vergleich hineinzieht (siehe das Komma in Luthers Übersetzung), mit Hengstenberg an ein armes, hilfloses Vöglein denken, dem sein Weibchen oder seine Jungen genommen worden und das nun in der weiten Welt allein ist. Dann könnte gar wohl der Sperling gemeint sein, denn er liebt die Geselligkeit und würde, wenn er allein sein müsste, der einzige seiner Art in der Nachbarschaft, sich zweifellos sehr elend fühlen, traurig dasitzen und sich zu Tode grämen. Wer sich seiner Schwäche und Unbedeutenheit so bewusst geworden ist, dass er fühlte, er habe nicht mehr Macht über das Geschlecht seiner Zeit als ein Spätzlein über eine Stadt, der hat sich auch schon in Stunden, da er durch die Übel und Laster seiner Zeit von Verzagtheit zu Boden gedrückt wurde, im äußersten Elendsgefühl einsam hingesetzt, die Übel zu beklagen, die zu heilen er nicht imstande war. Christen von ernstem, die Schäden der Zeit wachsam beobachtendem Sinn sehen sich oft unter lauter solchen, die kein Verständnis für sie haben; sogar in der Gemeinde des HERRN schauen sie nicht selten vergeblich nach verwandten Seelen aus. Wohl halten sie dann desto ernster an Gebet und Arbeit an, aber sie fühlen sich dabei so einsam wie der arme Vogel, der vom Dachfirst Ausschau hält und keinem freundlichen Gruße von seinesgleichen begegnet.

9. Täglich (oder unaufhörlich) schmähen mich meine Feinde. Ihre Wut war unersättlich und machte sich unermüdlich in Sticheleien und Beleidigungen Luft. Die Liebe des Psalmisten zu dem Lande seiner Väter und sein Kummer um dasselbe waren die Zielscheibe ihrer boshaften Angriffe. Indem sie auf den traurigen Zustand seines Volkes hinwiesen, fragten sie wohl hämisch: "Wo ist nun dein Gott?", und frohlockten ihm zum Hohn, weil der Stern ihrer falschen Götter am Emporsteigen war. Solche Vorhaltungen schneiden wie ein scharfes Schermesser, und wenn sie Tag für Tag, Stunde um Stunde wiederholt werden, können sie einem das Leben fast unerträglich machen. Und die mich verspotten, wörtl.: wider mich rasen, schwören bei mir, d. h., wie schon Luther es verstanden hat, sie brauchen meinen Namen als Fluch. (Jer. 29,22) Er erschien ihnen so sehr als das schlagendste Beispiel eines von seinem Gott Gestraften und Verlassenen, dass sein Name ihnen ein geläufiges Fluchwort, der treffendste Ausdruck für Verachtung und Abscheu wurde. In welch trauriger Verfassung er bei solcher Zugabe zu dem inneren Leid und den äußeren Verfolgungen war, mag man ermessen.

10. Denn ich esse Asche wie Brot. Er hatte sich so oft zum Zeichen seiner Trauer Asche aufs Haupt gestreut, dass sie sich mit seiner Speise vermischte und ihm zwischen den Zähnen knirschte, wenn er sein täglich Brot aß. Das eine Mal vergaß er das Essen ganz, und dann wieder griff er mit solchem Heißhunger zu, dass er selbst Asche verschlang. Der Kummer hat seltsame Launen. Und mische meinen Trank mit Weinen. Sein Trank ward ihm ebenso zuwider wie die Speise, denn Ströme von Tränen hatten ihn salzig gemacht. Welch beredte Schilderung einer den Menschen ganz übersättigenden, jeden Genuss vergällenden Traurigkeit - das aber war das Teil eines der besten Menschen, und zwar nicht etwa infolge eigner Verfehlung, sondern wegen seiner inbrünstigen Liebe zu dem Volke des HERRN. Darum wollen wir, wenn es auch uns einmal beschieden ist, also Leid tragen zu müssen, uns die Hitze der Anfechtung nicht befremden lassen, als widerführe uns etwas Seltsames. (1. Petr. 4,12.) Des Sündigens ist gerade auch im Essen und Trinken viel; daher ist es nicht verwunderlich, wenn dem Menschen beides einmal verbittert wird.

11. Vor deinem Dräuen und Zorn, dass du mich aufgehoben und zu Boden gestoßen oder hingeworfen hast. Gottes Zorn hatte sich in der Verstörung des auserwählten Volkes und seiner kläglichen Gefangenschaft überwältigend geoffenbart. Der Psalmdichter hatte ein feines, starkes Gefühl für diesen göttlichen Zorn, und gerade dieses brachte ihn in die größte Seelennot. Er kam sich vor wie ein dürres Blatt, das der Sturmwind emporhebt und unaufhaltsam hinwegträgt, oder wie das Sprühwasser der See, das von der Brandung nur emporgespritzt wird, um zerstäubt und vernichtet zu werden. Man kann das Bild auch etwas anders fassen und etwa an ein Gefäß denken, das hoch emporgehoben wird, um mit desto größerer Gewalt auf den Erdboden geschmissen und in tausend Scherben zerschellt zu werden; oder aber an einen Ringkämpfer, der seinen Gegner in die Luft hebt, um ihn desto wuchtiger hinzuschleudern. Wir bleiben lieber bei dem Bilde von dem Sturmwind6, das so treffend die äußerste Hilflosigkeit malt, die der Verfasser fühlte, wie auch die Empfindung überwältigenden Schreckens, der ihn widerstandslos wie in einem Wirbelsturm des Kummers mit sich fortriss.

12. Meine Tage sind dahin wie ein Schatten, oder vielmehr nach dem Grundtext: Meine Tage sind wie ein gedehnter Schatten - dessen zunehmende Länge seine nahende Auflösung in nächtliches Dunkel verkündet. Die Schatten werden länger, bald wird die Sonne meines Lebens ganz versinken. Nur ein Schatten waren seine Tage, auch als er noch auf der Höhe des Lebens stand; jetzt aber erscheinen sie ihm wie ein Schatten, der im Schwinden begriffen ist. Ein Schatten ist wahrlich schon wesenlos genug; was für ein nichtiges Ding muss erst ein hinschwindender Schatten sein! Kein Bild könnte packender das Gefühl äußerster Hinfälligkeit anschaulich machen. Und ich selbst (Grundtext), ich verdorre wie Gras. Er war wie Gras, das, vom Glutwind versengt oder von der Sense gemäht, der brennenden Sonnenhitze hilflos überlassen ist und in kurzem völlig vertrocknet. Es gibt Zeiten, wo der Mensch infolge völliger Erschlaffung des Geistes das Gefühl hat, als wäre alles Leben aus ihm gewichen, ja als wäre sein ganzes Dasein nur ein Todesröcheln. Herzbrechendes Weh hat einen merkwürdig auszehrenden Einfluss auf unseren ganzen Organismus. Unser Fleisch ist in seinen besten Tagen nur wie Gras, und wenn schweres Leid es mit seinem scharfen Schlage trifft, schwindet seine Grases-Herrlichkeit bald, und es wird ein eingeschrumpftes, vertrocknetes, unansehnliches Ding wie entwurzelte Pflanzen.




13.
Du aber, HERR, bleibest ewiglich,
und dein Gedächtnis für und für.
14.
Du wollest dich aufmachen und über Zion erbarmen;
denn es ist Zeit, dass du ihr gnädig seiest,
und die Stunde ist kommen.
15.
Denn deine Knechte wollten gerne, dass sie gebaut würde,
und sähen gerne, dass ihre Steine und Kalk zugerichtet würden;
16.
dass die Heiden den Namen des HERRN fürchten
und alle Könige auf Erden deine Ehre,
17.
dass der HERR Zion baut
und erscheint in seiner Ehre.
18.
Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen
und verschmäht ihr Gebet nicht.
19.
Das werde geschrieben auf die Nachkommen;
und das Volk, das geschaffen soll werden, wird den
HERRN loben.
20.
Denn er schaut von seiner heiligen Höhe,
und der HERR sieht vom Himmel auf Erden,
21.
dass er das Seufzen des Gefangenen höre
und losmache die Kinder des Todes;
22.
auf dass sie zu Zion predigen den Namen des HERRN
und sein Lob zu Jerusalem,
23.
wenn die Völker zusammenkommen
und die Königreiche, dem HERRN zu dienen.




Nun wendet der Psalmist seinen Blick von den Leiden, seinen persönlichen wie den ihm durch den jämmerlichen Zustand seines Volkes bereiteten, hinweg zu der rechten Quelle allen Trostes, zu dem HERRN selbst und den Gnadenabsichten, die dieser über sein Volk des Eigentums hat.

13. Du aber, HERR, bleibest ewiglich. Ich vergehe wie das Kraut des Feldes, Du niemals; mein Volk ist fast gänzlich vernichtet, Du aber bist völlig unverändert. Der Grundtext liest hier: Du sitzest d. i. thronst, oder besser (hebr. Imperf.) bleibst thronen in Ewigkeit.7 Du herrschst ruhig weiter, dein Thron bleibt ungefährdet, wenn auch deine auserwählte Stadt in Trümmern liegt und dein Eigentumsvolk in Gefangenschaft schmachtet. Die unantastbare Freiheit Gottes und seine Oberherrschaft über alles ist ein nie versagender Born des Trostes. Was immer sich begeben möge, Gott sitzt im Regimente, drum wird es alles wohl ausgehen.

Gott muss man in allen Sachen,
weil er alles wohl kann machen,
End und Anfang geben frei.
Er wird, was er angefangen,
lassen so ein End erlangen,
dass es wunderherrlich sei.
(H. A. Stockfleth † 1708.)

Und dein Gedächtnis für und für. Mich mag die Welt vergessen; dich aber, o Gott, werden die unaufhörlich sich erneuernden Beweise deiner Gegenwart der Menschheit von einem Geschlecht zum andern immer neu in den Sinn rufen. Was Gott jetzt ist, wird er ewig sein; was die Vorfahren uns vom HERRN gesagt haben, finden wir zu unserer Zeit als wahr bestätigt, und was unsre Erfahrung uns über ihn verzeichnen lässt, das werden unsre Kinder und Kindeskinder bekräftigen können. Alles andre schwindet gleich dem Rauche und verwelkt wie Gras; über all der Vergänglichkeit aber strahlt das eine ewige, unveränderliche Licht stetig fort und wird noch scheinen, wenn diese Schatten alle längst in Nacht versunken sind.

14. Du wirst (Grundt) dich aufmachen und über Zion erbarmen. Er glaubte fest und sagte mit kühner Zuversicht vorher, dass die scheinbare Untätigkeit Gottes sich bald in wirksame Tatkraft wandeln werde. Mögen andre träumen und säumen, der HERR wird sich gewiss bald rühren. Zion war ja vor alters erwählt, war hoch bevorzugt, ruhmvoll besiedelt und wunderbar bewahrt worden; so war es auf Grund der Erinnerung an die ehedem Zion erwiesene Huld über allen Zweifel erhaben, dass Jehovahs Gnade bald wieder über ihr neu werden müsse. Gott kann seine Gemeinde nicht für immer in Erniedrigung und Elend schmachten lassen. Er mag sich, um sie väterlich zu züchtigen, eine Weile vor ihr verbergen, dass ihr zum Bewusstsein komme, wie arm und hilflos sie ohne ihn ist; doch bald muss er sich, von erbarmender Liebe getrieben, wieder zu ihr kehren, wird sich erheben, um sie zu schirmen und ihr neue Wohlfahrt zu schaffen. (Jes. 55,7.8; Jer. 31,20.) Denn es ist Zeit, dass du ihr gnädig seiest, und die Stunde ist kommen. In Gottes Rat ist eine Segenszeit für die Gemeinde bestimmt, und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wird der Segen nicht auf sich warten lassen. So war für die babylonische Gefangenschaft der Juden eine bestimmte Frist festgesetzt, und als die Zeitwochen erfüllt waren (Dan. 9, 23 ff.), konnten keine Schlösser noch Riegel die Erkauften Jehovahs in Banden halten. Als die Stunde geschlagen hatte, dass die Mauern Jerusalems wieder Stein um Stein erstehen sollten, da vermochten kein Tobia und kein Saneballat (Neh. 2,10) das Werk zu hindern, so sehr es sie auch verdross; denn der HERR selbst hatte sich aufgemacht, und wer mag des Allmächtigen Hand hemmen? Wenn Gottes Zeit gekommen ist, können weder Rom noch der Teufel selbst, weder Verfolger noch Gottesleugner das Reich Christi an seiner Ausbreitung hindern. Gottes Sache ist’s, dies zu tun - er muss sich aufmachen, sich erheben. Und er wird es tun, aber zu seiner eigenen vorbestimmten Zeit; bis dahin gebührt es uns, mit heiliger Bekümmernis und gläubiger Hoffnung auf sein Eingreifen zu warten.


Fußnoten
4. Zu dem Ausdruck vergl. Hiob 19,20; Klgl. 4,8. r&fbIf bezeichnet im Unterschied von r)"$: den fleischigen Teilen, ursprünglich wie arabisches basar die Haut. (Bäthgen.)
5. Welche Vogelarten V. 7 gemeint sind, ist unsicher. Beide sind levitisch unreine Tiere (3. Mose 11,17 f.); die erste Art bewohnt auch nach Jes. 34,11; Zeph. 2,14 wüste Gegenden.
6. Allerdings wird man an den Sturm zu denken haben; aber nicht an das Wegfegen dürren Laubes, sondern an die furchtbare Gewalt des Orkans, der einen Baum, eine Hütte in die Luft wirbelt, um den Gegenstand dann mit Wucht hinzuwerfen und zu zerschmettern.
7. Doch halten z. B. Siegfr. und Stade für unsre Stelle die Bedeutung dauernd fest, und das 2. Glied der Parallelstelle Klgl. 5,19 spricht eher für diese Auffassung als für die gegenteilige.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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15. Denn deine Knechte hängen mit Liebe an ihren Steinen, und es jammert sie ihres Staubes. (Grundtext) Ihre Liebe zu Zion ist so groß, dass selbst der Schutt der Gottesstadt ihnen teuer ist. Es war ein gutes Vorzeichen für Jerusalem, als die Gefangenen zu Babel heimwehkrank zu werden und nach Zion zu seufzen anfingen. Auch für die Rückkehr der Juden unsrer Zeit in ihr Land dürfen wir Hoffnung fassen, wenn die Liebe zu der Heimat ihrer Väter in ihnen mächtig wird und die Liebe zu Geld und Gewinn überwältigt. Ebenso gibt es für die Gemeinde Christi kein hoffnungsvolleres Zeichen, als wenn ihre Glieder voll tiefer Teilnahme werden für alles, was sie betrifft. Schwerlich wird Gedeihen auf einer Gemeinde ruhen, in welcher Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit in Bezug auf die Gottesdienste, die heiligen Einsetzungen des HERRN und die Arbeit an den Seelen der Mitmenschen vorherrscht; wenn dagegen selbst die geringsten und niedrigsten Dinge, die mit des HERRN Werk zusammenhängen, mit Ernst und Sorgfalt behandelt werden, dann dürfen wir überzeugt sein, dass eine Gnadenzeit im Anbruch ist. Auch das ärmste, unbedeutendste Gemeindeglied, der tief Gefallene, der reumütig wiederkehrt, der unwissendste Neubekehrte sollten in unseren Augen köstlich sein, weil sie einen, wenn auch vielleicht gar kleinen Stein am Bau des neuen Jerusalem bilden. Wenn uns selber das Wohl der Gemeinde, welcher wir angehören, nicht ernstlich am Herzen liegt, dürfen wir uns dann wundern, wenn der HERR seinen Segen zurückhält?

16. Und Heiden werden den Namen des HERRN fürchten. (Grundtext) Gnadenwirkungen Gottes in der Gemeinde werden von denen, die draußen stehen, sehr bald wahrgenommen. Brennt im Hause ein Licht, so scheint es durch die Fenster hinaus. Wenn Zion sich der Gnade seines Gottes erfreuen darf, beginnen die Heiden seinen Namen zu ehren, denn sie hören von den Wundern seiner Macht und werden davon ergriffen. (Siehe z. B. Jos. 2,9 ff.; 9,9 f.) Und alle Könige auf Erden deine Ehre. Die Wiederherstellung Jerusalems war ein Wunder für alle die Mächtigen der Welt, zu denen die Kunde drang, und seine letzte, herrlichste Wiederherstellung in der Zukunft wird eins der großen Weltwunder der Geschichte werden. Eine von göttlicher Kraft belebte Gemeinde prägt solch auffällige Spuren in die Zeitgeschichte, dass sie der Beachtung nicht entgehen kann; so rein sie sich von aller Vermengung mit Staat und Politik halten mag, ist ihr Einfluss auf das öffentliche Leben doch so groß, dass die Staatsleiter sie nicht vornehm ignorieren können, sie beeinflusst durch ihre geistige Macht die Gesetzgebung und erzwingt unwillkürlich von den Großen der Erde Anerkennung des göttlichen Wirkens. Ach, dass wir in unseren Tagen solch ein Aufleben wahrer Frömmigkeit schauen dürften, dass Fürsten wie Volksvertreter sich genötigt sähen, dem HERRN zu huldigen und seine herrliche Gnade zu bekennen. Dies kann nicht eher geschehen, als bis die Christen selber tüchtiger werden und sich völliger miteinander erbauen lassen zu einer Behausung Gottes im Geist (Eph. 2,22). Innerliche kräftige Entwicklung ist für die Kirche die sichere, aber auch einzig wahre Quelle ihres Einflusses nach außen.

17. Dass der HERR Zion gebaut hat und erschienen ist in seiner Ehre oder Herrlichkeit. (Grundtext) Wie Könige ihre Kunst, ihre Macht und ihren Reichtum bei der Erbauung ihrer Residenz entfalten, so werde der HERR, des war der Psalmist gewiss, auch den Glanz seiner Vollkommenheiten in der Wiederherstellung Zions offenbaren. Ebenso will er sich jetzt in der Auferbauung seiner Gemeinde verherrlichen. Nie erscheint der HERR den Seinen verehrungswürdiger, als wenn er in seiner Gemeinde seine Segens- und Lebenskräfte entfaltet. Menschen bekehren, die als lebendige Steine dem heiligen Bau eingefügt werden, diese zum heiligen Dienst erziehen, die Bruderschaft lehren, erleuchten und heiligen, alle mit den innigen Banden christlicher Liebe aneinander ketten, und den ganzen Leib mit der Kraft des Heiligen Geistes erfüllen - das heißt Zion bauen. Wer die Kirche auf andre Weise aufbaut, der bläht sie nur auf; das Werk von Holz, Heu und Stoppeln stürzt so schnell wieder ineinander, wie es zusammengehäuft worden war. Was der HERR aber baut, ist fest und gut gemacht und verkündigt seinen Ruhm. Wahrlich, wenn wir den elenden Zustand der Gemeinde des HERRN betrachten und dabei die Torheit, Hilflosigkeit und Gleichgültigkeit derer wahrnehmen, die ihre Baumeister zu sein beanspruchen, auf der andern Seite aber die Tatkraft, List und Macht derer, die ihren Untergang wollen, dann müssen wir unumwunden zugeben, dass es nur das ruhmvolle Werk der allmächtigen Gnade sein kann, wenn sie sich je wieder zu ihrer ersten Größe und Reinheit erheben sollte.

18. Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen, wörtlich: des Nackten. So heißt Israel, weil es der Heimat, Macht, Ehre und aller menschlichen Aussicht auf Wiederherstellung entblößt war. Nur die Allerärmsten waren bei der Wegführung des Volkes im Lande zurückgelassen worden, um zwischen den Trümmern der geliebten Stadt zu seufzen und zu weinen; die Übrigen waren Fremdlinge im fremden Lande, fern von dem Heiligtum. Dennoch sollten die Gebete der Gefangenen, die unter Babels Weiden zu Gott seufzten, wie der im Lande zurückgebliebenen Ärmsten gnädige Erhörung finden. Fragt Gott doch beim Erhören nicht danach, ob der Mensch viel Geld hat oder seine Äcker sich weit ausdehnen, sondern neigt in seiner Barmherzigkeit sein Ohr am willigsten dahin, woher der Hilferuf der höchsten Not ertönt. Und verschmäht ihr Gebet nicht. Wenn große Könige mit dem Bau ihrer Paläste beschäftigt sind, darf man von ihnen nicht erwarten, dass sie sich mit jedem Bettler, der ihnen sein Anliegen vorbringen will, aufhalten sollten. Doch wenn der HERR Zion baut und in den Kleidern seiner Herrlichkeit erscheint, sieht er es als Ehrenpflicht an, auf jede Bitte der Armen und Bedrängten zu lauschen. Er wird ihr Flehen nicht geringschätzig behandeln; er wird sein Ohr zum Hören neigen, sein Herz zum Erwägen und seine Hand zum Helfen. Welch ein Trost liegt hierin für diejenigen, welche sich ganz hilflos und verlassen vorkommen; ihrem dringenden Bedürfnisse entspricht aufs genauere die gnädige Verheißung, die ihnen hier dargeboten wird. Es lohnt sich, solche Verlassenheit zu erfahren, um so freundlich der göttlichen Beachtung versichert zu werden!

19. Das werde geschrieben auf die Nachkommen. Zur Zeit der Erfüllung wird man eine Urkunde davon aufnehmen; denn auch unter den zukünftigen Geschlechtern wird es Hilflose, Verlassene geben - "es werden allezeit Arme sein im Lande" (5. Mose 15,11) - und deren Augen wird es fröhlich machen, zu lesen, wie sich in früheren Zeiten des HERRN Erbarmen an den Hilfsbedürftigen erwiesen hat. Wir sollten in der Tat von den Erweisen der Freundlichkeit Gottes Niederschriften machen und aufbewahren. Trägt man doch in die Geschichtsbücher die Unglücksfälle der Völker wie Kriege, Hungersnot, Seuchen, Erdbeben und dergleichen sorgfältig ein; um wie viel mehr denn sollten wir auch Denkschriften über Gottes Wohltaten anfertigen! Wer am eigenen Herzen geistliche Verlassenheit empfunden hat und aus ihr erlöst worden ist, kann das nimmer vergessen; es mag aber auch seine Pflicht werden, andern, wenn auch mit weiser Vorsicht, davon zu erzählen, und vor allem wird er sich gedrungen fühlen, seinen Kindern in die Güte des HERRN Blicke zu öffnen. Und das Volk, das geschaffen soll werden, wird den HERRN loben. Der Wiederaufbau Jerusalems wird ein weltgeschichtliches Ereignis werden, für welches die Gemeinde der Zukunft, die er sich zu seiner Herrlichkeit schaffen wird (Jer. 43,7), Jehovah beständig preisen wird. Mächtige geistliche Neubelebungen verursachen nicht nur bei denen, die unmittelbar an ihnen teilhaben, unaussprechliche Freude, sondern bleiben eine Quelle der Ermutigung und Erquickung für das Volk Gottes auf lange hinaus, ja sind tatsächlich durch die ganze Folgezeit der Gemeinde des HERRN ein Antrieb zur Anbetung. Dieser Vers lehrt uns, dass wir auch an die Nachwelt denken und namentlich uns bemühen sollten, die Erinnerung an Gottes Liebesbeweise gegen seine Gemeine, sein armes Volk, wach zu erhalten, auf dass das junge Geschlecht, wenn es heranwächst, wisse, dass der Gott ihrer Väter gütig ist und ein Erbarmer. So niedergeschlagen der Psalmdichter war, als er die schwermutsvollen Vers dieses Klagepsalms niederschrieb, so war er doch nicht so gänzlich von seinem eigenen Kummer hingenommen oder von dem Unglück seines Volkes verwirrt, dass er die berechtigten Ansprüche der kommenden Geschlechter vergessen hätte. Ein klarer Beweis dafür, dass er doch nicht ganz ohne Hoffnung für sein Volk war; denn wer Anstalten trifft zum Besten eines künftigen Geschlechts, der ist noch nicht an seinem Volk verzweifelt. Das Lob Gottes sollte der eine große Zweck all unseres Tuns sein; und ihm auch von andern in Gegenwart und Zukunft ein reiches Maß von Preis und Anbetung zu sichern ist das Edelste, was geistbegabte Wesen sich als Ziel setzen können.

20.21. Dass er von seiner heiligen Höhe herabgeschaut, der HERR vom Himmel auf die Erde geblickt hat (Grundtext), gleich einem Wächter, der von seinem Turme Ausschau hält. Was war der Zweck, dass der Höchste sich so von den Zinnen des Himmels herabneigte? Warum dieses aufmerksame Niederschauen auf das Geschlecht der Menschenkinder? Die Antwort ist erstaunlich gnadenreich: der HERR blickt auf die Menschheit, nicht um ihre Großen zu betrachten und die Taten ihrer Edlen zu beobachten, sondern: dass er das Seufzen des Gefangenen höre und losmache die Kinder des Todes. Das Ächzen der im Kerker Schmachtenden ist wahrlich keine wohltönende Musik; doch so schrecklich es auch anzuhören, Gott neigt sich herab, darauf zu lauschen. Und die "Söhne des Todes", Menschen, die sich dem Tode verfallen wissen, sind in der Regel schlechte Gesellschaft; doch geruht Gott, von seiner Höhe sich zu ihnen niederzubeugen, um ihr unsägliches Elend zu lindern und ihre Ketten zu brechen. Solches tut er im Walten seiner Vorsehung, indem er Bedrängte rettet, Todkranken die Gesundheit wiederschenkt und Verschmachtenden Speise gibt; auf dem geistlichen Gebiet aber geschehen eben solche Wunder der Barmherzigkeit durch die freie Gnade, die uns durch die Vergebung von dem Todesurteil, das die Sünde über uns gebracht, errettet und durch die trostreiche Verheißung von der tödlichen Verzweiflung befreit, welche die Erkenntnis der Sünde in uns hervorgerufen. Wohl mögen diejenigen unter uns den HERRN preisen, die einst Kinder des Todes gewesen, jetzt aber in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes eingeführt worden sind. Zu Hamans Zeiten waren die damals ja unter persischem Zepter stehenden Juden samt und sonders zum Tode bestimmt; ihr Gott aber fand einen Weg der Rettung für sie, in Erinnerung woran sie voller Freuden das Purimfest zu feiern pflegen. (Siehe das Buch Esther.) Möchten doch alle die Seelen, die von der geriebenen Bosheit des alten Drachen befreit worden sind, mit noch größerer Dankbarkeit den so erbarmungsreichen HERRN preisen!

22. Auf dass sie (die Erlösten des HERRN) zu Zion predigen den Namen des HERRN und sein Lob zu Jerusalem. Der Höchste kann sein herrliches Wesen auf Erden nicht wirkungsvoller enthüllen, als wenn er solchen große Gnade erweist, die ihrer am dringendsten bedürfen. Handlungen reden lauter als Worte; Taten der Gnade sind eine noch eindrucksvollere Offenbarung als die allerfreundlichsten Verheißungen. Die Wiederherstellung Jerusalems, der Wiederaufbau der Kirche, die Aufrichtung verzagter Seelen und alle andern Erweise der Segensmacht Jehovahs sind ebenso viele an Zions Mauern angeschlagene Manifeste und Proklamationen, die das Wesen und den Ruhm des großen Gottes der Welt kundtun. Die Erfahrung jeden Tages sollte uns ein neuer Liebesgruß, ein königliches Rundschreiben vom Himmel, ein Tageskurier aus dem Hauptquartier der Gnade sein. Und wir haben die Verpflichtung, unseren Mitchristen von solchem Kenntnis zu geben, damit sie uns helfen, Gott über der Güte, die wir erfahren haben, zu preisen. Wenn Gottes Gnadentaten so beredte Sprache führen, dürfen wir nicht stumm bleiben. Andern mitzuteilen, was Gott an uns selbst oder an der Gemeinde im Großen getan hat, ist so offenbar unsre heilige Pflicht, dass man uns wahrlich nicht sollte antreiben müssen, sie zu erfüllen. Gott hat bei allem, was er tut, den Ruhm seiner Gnade im Auge; wir sollten ihm diesen Huldigungszins nicht vorenthalten wollen.

23. Wenn die Völker zusammenkommen (allzumal, Grundtext) und die Königreiche, dem HERRN zu dienen. Von dem herrlichen Werk der Wiederherstellung des zerstörten Zion wird man reden in dem goldenen Zeitalter der messianischen Zukunft, wenn die Heidenvölker alle zu Gott bekehrt sein werden. Selbst in jenen glanzvollen Tagen wird man dies erhabene Ereignis nicht gering achten können, das gleich dem Durchzug Israels durchs Rote Meer nie der Vergessenheit anheimfallen noch jemals aufhören wird, das auserwählte Volk zu Begeisterung zu entflammen. O seliger Tag, da alle Völker in der Anbetung Jehovahs eins geworden sein werden! Dann wird man die Geschichten der alten Zeit mit anbetendem Staunen lesen, und alle Welt wird erkennen, dass des HERRN Hand immerdar schützend und segnend auf der geweihten Schar seiner Erkorenen geruht hat. Welch jubelnde Lobgesänge werden dann gen Himmel steigen, dem zu Ehren, der die Gefangenen gelöst, die zum Tode Verdammten befreit, das, was Jahrtausende lang wüste gelegen, wieder aufgerichtet und aus Schutt und Trümmern einen herrlichen Tempel zu seinem Dienste auferbaut hat.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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24.
Er demütigt auf dem Wege meine Kraft,
er verkürzt meine Tage.
25.
Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!
Deine Jahre währen für und für.
26.
Du hast vormals die Erde gegründet,
und die Himmel sind deiner Hände Werk.
27.
Sie werden vergehen, aber du bleibest.
Sie werden alle veralten wie ein Gewand;
sie werden verwandelt wie ein Kleid, wenn du sie verwandeln wirst;
28.
Du aber bleibest wie du bist,
und deine Jahre nehmen kein Ende.
29.
Die Kinder deiner Knechte werden bleiben,
und ihr Same wird vor dir gedeihen.





24. Er hat (wörtl.) auf dem Wege meine Kraft gedemütigt. Hier fällt der Psalmdichter wieder in die Klageweise zurück, siehe V. 12. Der Kummer hat seinen Geist niedergedrückt und selbst eine Schwächung seines Leibes verursacht, dass er einem Pilgrim gleicht, der todmüde sich fortschleppt und jeden Augenblick hinsinken kann um zu sterben. Er hat (wörtl.) meine Tage verkürzt. Wiewohl er für Jerusalem herrliche Hoffnungen hegte, fürchtete der Psalmdichter doch, dass er selbst längst sein Leben ausgehaucht haben werde, wenn diese Visionen Wirklichkeit geworden; er fühlte, dass er dahinsieche und ihm nur ein kurzes Leben beschieden sei. Das mag auch unser Los sein; dann wird es uns wesentlich dazu helfen, uns zufrieden darein zu schicken, wenn wir die gewisse Überzeugung haben, dass das, was uns das Höchste und Wichtigste ist, ganz gesichert, die uns so teure Sache des Reiches Gottes in des HERRN Händen wohl geborgen ist.

25. Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage! Er nimmt seine Zuflucht zum Gebet. Welch besseres Heilmittel gäbe es auch wohl für gebrochene Herzen und niedergeschlagene Gemüter? Es ist uns gestattet, um Wiederherstellung aus Krankheit zu beten, und wir dürfen auf Erhörung hoffen. Gottselige Menschen sollen den Tod nicht fürchten, aber es ist ihnen nicht verboten, das Leben zu lieben. Aus gar mannigfachen Gründen mag gerade ein Mann, der die sicherste Hoffnung auf den Himmel hat, es für wünschenswert erachten, noch ein wenig länger hienieden weilen zu dürfen - sei es um seiner Familie, seines Lebenswerkes, der Gemeinde des HERRN, ja auch um der Ehre Gottes selbst willen. Man hat zu den Worten, die man auch etwa übersetzen könnte: "Nimm mich nicht auf, lass mich nicht auffahren", auch schon an die Entrückung des Elia erinnert, von welcher 2. Könige 2,1 das gleiche Wort gebraucht wird. Näher liegt es, (mit Fr. W. Schultz) an das ja schon V. 4 benutzte Bild vom Rauch zu denken.8 Lass mich nicht auf- und hinfahren wie entschwindenden Rauch; habe ich doch erst die Hälfte meiner Tage - und ach, eine traurige, düstere Hälfte war’s - gesehen. Lass mich noch leben, bis der stürmische Morgen sich zu einem stillen, heitern Nachmittage eines glücklicheren Daseins abgeklärt hat. Deine Jahre währen (ja) für und für. Du lebst, HERR; so lass mich auch leben! In dir ist die Fülle des Lebens, lass mich daran teilhaben. Beachten wir den hier wie schon V. 12 f. hervorgehobenen Gegensatz zwischen dem Beter, der verschmachtet und im Begriff zu verlöschen ist, und seinem Gott, der in der Fülle der Kraft lebt von Geschlecht zu Geschlecht und ewiglich. Dieser Gegensatz ist für alle, deren Herz im HERRN fest gegründet ist, voll mächtiger Trostkraft. Gepriesen sei sein Name, er stirbt nicht, darum wird auch unsre Hoffnung nicht sterben; nie wollen wir, weder für uns selbst, noch für die Gemeinde des HERRN, verzagen.

26. Du hast vormals die Erde gegründet. Schaffen ist für Gott nichts Neues; darum wird es ihm auch nicht schwer werden, Jerusalem neu erstehen zu lassen, es zu machen zum Lobpreis auf Erden (Jes. 62,7). Lange ehe die Heilige Stadt in Trümmer sank, hatte der HERR eine Welt aus dem Nichts erschaffen; so wird es ihm wahrlich keine Arbeit sein, die Mauern Zions wieder aus ihren Trümmerhaufen aufzurichten und die Steine an ihre Stätte zurückzubringen. Wir können nicht einmal unser eigenes Leben erhalten, geschweige denn andern Leben geben; der HERR aber "ist" nicht nur selbst, sondern ist auch der Schöpfer alles dessen, was ist. Darum haben wir, auch wenn es mit uns und unseren Angelegenheiten bis zum äußersten gekommen ist, dennoch gar keinen Grund zum Verzweifeln, denn der Allmächtige und Ewige kann uns doch wieder aufrichten. Und die Himmel sind deiner Hände Werk. Deshalb vermagst du nicht bloß die Grundmauern Zions zu legen, sondern es auch bis zum First zu vollenden, gerade wie du die Welt mit der schönen blauen Decke eingewölbt hast. Auch die erhabensten Stockwerke deines irdischen Palastes werden ohne Schwierigkeit in die Höhe getürmt werden, wenn du den Bau unternimmst; bist du doch der Bildner der Sterne, der Architekt der hohen Sphären, in denen sie ihre Bahnen wandeln. Wenn es gilt, dass ein großes Werk zur Vollendung komme, ist es besonders beruhigend, die Leistungsfähigkeit dessen zu betrachten, der es auszuführen übernommen hat; und wenn unsre eigne Kraft völlig erschöpft ist, erquickt und ermutigt es wundersam, wenn wir den Blick auf die nie versagende Tatkraft dessen richten, der immer noch uns zugute am Werke ist.

27. Sie werden vergehen, aber du bleibest. Die Macht, welche Erde und Himmel geschaffen hat, wird sie auch wieder zertrümmern, gerade wie deine geliebte Stadt auf deinen Befehl wieder in Staub gesunken ist; doch kann weder die Zerstörung Jerusalems noch der Untergang der ganzen Welt deine erhabene Unveränderlichkeit berühren, deine ewigen Pläne umstürzen oder deine Herrlichkeit mindern. Du bleibst bestehen, auch wenn alles Geschaffene zusammensinkt. Sie werden alle veralten wie ein Gewand; wie ein Kleid wirst du sie wechseln, und sie werden (sich wechseln, d. i.) sich wandeln. (Grundtext) Die Zeit raubt allen Dingen ihre Schönheit und Kraft; ihre Gestalt veraltet und schwindet hin. Die sichtbare Schöpfung, gleichsam das Gewand des unsichtbaren Gottes, wird alt und schäbig, und unser himmlischer König ist nicht so arm, dass er allezeit denselben Mantel tragen müsste; gar bald wird er die Welten wie ein abgetragenes Kleid zusammenfalten und beiseite legen und sich ein neues Gewand umtun, indem er einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft, in welchen Gerechtigkeit wohnt (2. Petr. 3,13). Wie schnell wird das geschehen sein! "Du wechselst sie - und sie wechseln!" Wie einst bei der Schöpfung, so wird auch bei der Neuschöpfung die Allmacht ihr Werk ohne Hinderung vollbringen.

28. Du aber bleibest wie du bist oder bist derselbe. Wie ein Mensch derselbe bleibt, auch wenn er sein Kleid wechselt, so ist der HERR in Ewigkeit derselbe Unveränderliche, ob auch seine geschaffenen Werke mannigfache Veränderungen durchmachen und die Maßregeln seiner Vorsehung wechseln. Wenn Himmel und Erde dereinst vor dem Angesicht des erhabenen Weltrichters fliehen, wird er von der schrecklichen Verwirrung unberührt bleiben, und dass die Welt in Flammen aufgeht, wird in ihm keine Veränderung hervorbringen; gerade so - das ist wohl der Gedanke des Psalmdichters, den wir hier zwischen den Zeilen zu lesen haben - ist und bleibt jetzt, da Israel besiegt, die Hauptstadt zerstört und der Tempel dem Erdboden gleichgemacht ist, Israels Gott das gleiche aus und in sich selbst seiende, sich vollgenügende Wesen, das er stets gewesen ist, und wird sein Volk ebenso wieder aufrichten, wie er einst Himmel und Erde wiederherstellen und dann mit einer bis dahin ungekannten Herrlichkeit ausstatten wird. Die Wahrheit der Unwandelbarkeit Gottes sollte von uns mehr erwogen, lebendiger erfasst werden, als es geschieht; denn die Vernachlässigung dieser fundamentalen Schriftlehre schwächt das Rückenmark der Theologie nicht weniger Prediger und lässt sie manches aussprechen, dessen Ungereimtheit sie längst hätten einsehen müssen, wenn sie der Erklärung Gottes eingedenk gewesen wären: Ich bin der HERR (Jehovah) und wandle mich nicht, und darum ist es mit euch Kindern Jakobs noch nicht gar aus. (Mal. 3,6.) Und deine Jahre nehmen kein Ende. Gott lebt stetig fort, ihn kann kein Kräfteverfall ankommen, keine Vernichtung treffen. Welche Quelle der Freude ist das für uns! Die teuersten irdischen Freunde mögen wir verlieren, nimmermehr jedoch unseren himmlischen Freund. Des Menschen Lebenszeit wird oft plötzlich abgeschnitten, und auch wenn unsere Tage das höchste Maß erreichen, sind ihrer doch nur wenige (1. Mose 47,9); aber die Jahre des Höchsten mag niemand zählen, denn ihrer ist kein erstes noch letztes, wie kein Anfang, so kein Ende. O meine Seele, freue dich im HERRN allewege, weil er allezeit derselbe ist!

29. Die Kinder deiner Knechte werden bleiben, wörtlich: (sicher) wohnen (vergl. Ps. 37,27). Der Dichter hatte schon V. 19 auf das zukünftige Geschlecht hinausgeblickt; hier nun spricht er mit fester Zuversicht aus, ein solches Geschlecht werde aufkommen und von Gott bewahrt und gesegnet werden. Einige lesen diese Worte als Gebetswunsch: Mögen die Kinder deiner Knechte bleiben usw. Aber die gewöhnliche Übersetzung als Aussage, die wir schon bei den Alten finden, entspricht sicherlich mehr der Glaubensgewissheit des Psalmisten und gibt dem Psalm einen viel kraftvolleren Abschluss. In beiden Fällen freilich sind die Worte für uns gar tröstlich: wir dürfen Gottes segnende und schirmende Gnade für unsere Nachkommen erflehen, und wir dürfen im Glauben erwarten, dass Gottes Reich und Gottes Wahrheit in den zukünftigen Geschlechtern sich in neuer Kraft entfalten werden. Lasst uns hoffen, dass diejenigen, welche unseren Platz einnehmen sollen, nicht so halsstarrig, ungläubig und voll Irrens sein werden, wie wir es gewesen. Ist die Gemeinde des HERRN durch die Lauheit des gegenwärtigen Geschlechts gehindert und heruntergebracht worden, so wollen wir den HERRN anflehen, dass er eine bessere Klasse von Menschen erstehen lasse, deren Eifer und Gehorsam ihnen geistliche und leibliche Wohlfahrt gewinne und erhalte. Und ach, dass unsre eigenen Lieben durch Gottes Gnade zu diesem besseren Geschlechte zählen möchten, das in des HERRN Wegen gehen wird, im Gehorsam des Glaubens ausharrend bis zum Ende. Und ihr Same wird vor dir gedeihen, wörtlich: bestehen oder gefestigt werden. Gott vernachlässigt nicht die Kinder seiner Knechte. Das ist die heilige Regel, dass Abrahams Isaak des HERRN Eigentum ist, dass Isaaks Jakob von dem Höchsten geliebt wird und Jakobs Joseph vor dem Angesicht Gottes Gnade findet. Wohl ist die Gnade nicht erblich; doch ist es Gottes Wohlgefallen, sich in derselben Familie für unausdenkliche Zeiten verehren zu lassen, gerade wie es sich so manche unserer großen Landbesitzer zur Freude rechnen, die gleichen Familien von Geschlecht zu Geschlecht als Pächter auf ihren Gütern zu haben. Hierauf ruht Zions Hoffnung: ihre Söhne werden sie aufbauen, ihre Nachkommen sie zu ihrer früheren Herrlichkeit erheben. Wir dürfen daher, nicht nur um unser selbst willen, sondern auch aus Liebe zu der Gemeinde Gottes, Tag für Tag darum beten, dass unsere Söhne und Töchter des Heils teilhaftig und durch die göttliche Gnade bis ans Ende im Glauben erhalten und also vor dem HERRN gefestigt werden mögen.
So sind wir denn durch die Wolke hindurchgedrungen, und im nächsten Psalm werden wir uns am hellen Sonnenschein erquicken dürfen. Solcher Art ist die oft recht buntscheckige Erfahrung der Gläubigen. Paulus klagt und seufzt im siebenten Kapitel des Briefes an die Römer, und im achten darf er frohlocken und vor Freude jauchzen. So gehen auch wir jetzt von dem Seufzen und Stöhnen des 102. zu dem Gesang und Reigen des 103., indem wir dankbar den HERRN preisen, dass auch wir es erfahren dürfen: Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude. (Ps. 30,6.)

Fußnote
8. Vergl. auch Hiob 36,20: Begehre nicht der Nacht, die ganze Völker aufnimmt (hinwegführt) an ihrer Stätte.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Erläuterungen und Kernworte


Zum ganzen Psalm. Der Psalm ist, wie V. 14-18 zeigt, in der Zeit des Exils geschrieben, als es bereits längere Zeit gedauert hatte und jene siebenzig Jahre, welche die Propheten als Dauer desselben angegeben hatten, fast vorüber waren. Prof. A. Tholuck 1843.

Der Sänger war bereits mit Jes. 40-66 bekannt, vergl. V. 16 und besonders V. 27, und lebte ohne Zweifel nicht noch im Exil, sondern erst nach der ersten Wiederherstellung Jerusalems, wo die neue Gemeinde von den feindlichen Nachbarvölkern bereits schwer zu leiden hatte. Dafür spricht V. 14.15, dafür auch das Dass mit Perfektum (im Grundtext) in V. 17 f. und V. 20. Die Annahme, dass das Perfektum hier immer wieder als reines futurum exactum stehe, dass ihm noch gar nichts Faktisches zu Grunde liege, ist unnatürlich. Der Psalm bildet also zu den vorhergehenden Psalmen 91-100 ein ergänzendes Seitenstück, wie Ps. 94, indem er auch den Anfechtungen und Beängstigungen der damaligen Frommen, besonders ihrem Hauptanliegen, einen treffenden Ausdruck gibt. Dass der Verfasser so individuell redet und doch nur das nationale Leiden im Sinn hat, erklärt sich am besten, wenn er eins der Häupter in der neuen Gemeinde war. - Kommentar von Prof. Fr. W. Schultz 1888.

Mit der Inbrunst eines Menschen, dem es aufs festeste gewiss ist, dass Gebete den Himmel durchdringen, beginnt er Gott anzurufen. Man fühlt es der Glut dieser Klagen ab, dass sie nicht bloß Privatleiden bejammern, dass sie, wie die Klaglieder Jeremiä, der Demütigung eines einst vor Gott und vor Menschen hochgeehrten Volkes gelten, als dessen Mitglied der Sänger sich weiß. Es ist die Demütigung seines Volkes, wodurch, wie vor ihm Jeremias, dieser Sänger im Innersten verwundet worden, aber in Verbindung damit auch der Schmerz über die Sünde, welche diese Züchtigung veranlasst hat. - Hat indes auch der HERR sein Verhalten gegen Israel geändert, in seinem Wesen bleibt er ewig derselbe, und darum hat er ja verkündigen lassen, dass die Gefangenschaft nach bestimmter Frist ein Ende haben soll. (Jer. 30,11; 31,23 f.) Ja, auch wann diese Züchtigung zu Ende gehen werde, hat er offenbaren lassen: Jer. 25,11. So hat die Hoffnung des Klagenden einen Anhalt, an dem er sich zur heitersten Zuversicht aufschwingt. Die Geschichte dieser Erlösung soll insbesondere eine Predigt sein, die neuen Bewohner sollen Evangelisten des wahren Gottes werden, wenn die Zeit kommt, wo der HERR die Völker der Heiden hinzutun wird zum Volke Gottes. Wird aber der Sänger diese glorreiche Zukunft erleben? Er fühlt, dass seine Lebenskraft geschwunden sei. Doch - der HERR bleibt in seinem Wesen unverändert, wie auch alles im Himmel und auf Erden veränderlich sei. Lässt er in der Gegenwart bis jetzt noch seine Offenbarung anstehen: die Kinder seiner Knechte werden doch noch seinen Segen erleben. Prof. A. Tholuck 1843.

V. 1. Gebet für einen Elenden usw. (Wörtl.) Diese Überschrift gibt sicherlich nicht den nächsten Zweck an, zu welchem der Psalm gedichtet worden ist, sondern enthält den Wink, dass der Psalm, der unverkennbar aus persönlicher Empfindung wirklich vorhandener (nicht aber etwa mit Hilfe der Phantasie oder prophetischer Eingebung vorausgeschauter) Not heraus gedichtet worden ist, auch andern, die in Lage und Gesinnung dem Verfasser ähnlich sind, als Gebetswort dienen könne. Die Überschrift mag aus einer späteren Zeit als der Psalm selbst stammen, wo der Psalter bereits gleich unseren Gesangbüchern ein Andachtsbuch zum öffentlichen wie privaten Gebrauch geworden war. - J. M

Da der Verfasser nicht genannt noch sonst zu erkennen gegeben wird, so kann sich’s ein jeder Elender desto näher auf sich selbst zueignen und ein treffliches Muster davon nehmen, was der Glaube unter allerlei Druck und Not für einen Zugang zu Gott habe, und daraus erkennen, dass viel an Gott sei, das ein Elender zu seinem Trost ergreifen könne. O wie viel Seufzer und Klagen hat Gottes Ohr schon vor sich kommen lassen! Wie bald sind aber wir überdrüssig und unwillig, wenn der Elende seine Klage vor uns ausschütten will! Karl Heinrich Rieger † 1791.

Und er seine Klage vor dem HERRN ausschüttet. Hier wird die Art, welche das Gebet der Gemeinde des HERRN in Zeiten großer Not annimmt, unter dem Bilde eines Gefäßes dargestellt, das mit neuem Wein oder dergleichen bis an den Rand gefüllt ist und daher birst, weil der mächtig gährende Inhalt sich Luft machen muss. O welche das Herz zersprengenden Hilferufe entströmen der Gemeinde Gottes unaufhörlich in solchen Zeiten! Da hört alles lässige, verdrossene Beten, alles Lippenwerk auf, da sieht man das Gebet nicht mehr als fromme Leistung an, da ist es nicht ein leerer Schall von Worten, der doch niemals dem Beter eine gnädige Antwort von Gott noch auch nur die geringste Erleichterung für sein bekümmertes Gemüt verschaffen kann; sondern da kommt es zu einem Ausschütten des Herzens vor Gott wie bei Hanna (1. Samuel 1,15) und bei Jeremia (vergl. Klgl. 2,11), da werden die Worte des Flehens mit Ungestüm und unter starken inneren Wehen hervorgestoßen. So sind die Führungen des HERRN mit seinem Volk und seiner Gemeine: ehe er den Becher des Trostes über sie ausgießt, müssen sie Ströme von Tränen vergießen. Finiens Canus Vove (ein Verbannter) 1643.

V. 2. Mein Gebet - mein Schreien. Das Gebet ist, dass er Gnade begehret; das Geschrei, dass er sein Elend erkläret, wie denn folget. Martin Luther 1525.

Mein Schreien. Das Schreien ist gleichsam die lauteste Glocke im Betgeläute. O so lass, wenn mein Beten nicht durchdringt, doch mein Schreien zu dir kommen! Hörst du nicht auf mein Schreien, so werde ich schreien, weil ich nicht Gehör finde; hörst du aber auf mein Schreien, so werde ich weiter rufen, um noch völliger erhört zu werden. So werde ich denn, ob du mir Antwort gibst oder nicht, immer noch rufen und schreien, und Gott gebe es, dass ich also anhalte. Richard Baker † 1645.

V. 2.3. Der große Gott lässt es zu, dass seine stammelnden Kinder zu ihm in ihrer Sprache reden, auch wenn die Worte, die sie brauchen, seiner geistigen, unsichtbaren und für uns unbegreifbaren Erhabenheit nicht entsprechen. David Dickson † 1662.

David sendet sein Gebet als einen Gesandten zu Gott. Nun sind vier Stücke erforderlich, wenn eine Gesandtschaft gelingen soll. Der Gesandte muss von dem Fürsten, zu welchem er gesandt wird, mit gnädigem Auge angeschaut und mit willigem Ohr gehört werden; und er muss, nachdem ihm, was er begehrt hat, bewilligt worden ist, ohne Säumen zurückkehren. Diese vier Stücke erbittet David für sein Gebet von Gott, seinem König. Thomas Le Blanc † 1669.

V. 3. Neige deine Ohren zu mir. Das deutet hin auf die große Erschöpfung des Elenden, der da betet. Er ist so abgemattet, dass er kaum mehr imstande ist zu rufen, sondern mit fast versagender Stimme nur noch lispelt, wie ein ganz erschöpfter Kranker, zu dem wir, wenn wir sein Flüstern auffangen wollen, unser Ohr niederbeugen müssen. Martin Geier † 1681.

V. 4. Vergangen wie Rauch. Ganz der gleiche Ausdruck, welchen David Ps. 37,20 in Beziehung auf die Feinde des HERRN gebraucht hatte, wozu man auch Ps. 68,2 vergleichen kann: Gott erhebt sich, seine Feinde zerstieben. So hatte also den gottseligen Dulder das Los der Gottlosen getroffen. A. R. Fausset 1866.

Und meine Gebeine sind wie ein Herd durchglüht. Die Bedeutung Herd ist durch das Arabische gesichert. Es kann jedoch der Herd mit dem, was darauf liegt (dem Feuer und Holz) zusammengefasst werden (Jes. 33,14; 3. Mose 6,2). K. B. Moll † 1878.

Und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand. Gleichwie das Feuer auszeucht alles Feiste und machet dürre (machet eine dürre Griebe), also auch das Leiden macht alle Kräfte der Seele dürre, kraftlos und überdrüssig. Martin Luther 1525.

V. 5. Mein Herz ist geschlagen und verdorret wie Gras. Das Gras, so abgeschlagen oder gebrochen, verliert seinen Ursprung, das ist, der einfließende Saft und Feuchtigkeit wird dürre, und wird gut Feuerwerk. Martin Luther 1525.

Dass ich auch vergesse, mein Brot zu essen. Ahab, David und Daniel vergaßen oder weigerten sich alle drei, Speise zu sich zu nehmen, wiewohl ihr Kummer sehr verschiedener Art war. 1. Könige 21,4; 2. Samuel 12,16 f.; Dan. 10,3. Solch natürliche Gefährten sind Trauern und Fasten. Siehe ferner Ps. 107,18; Hiob 33,20; Hanna 1. Samuel 1,7; Saul 1. Samuel 20,34; 28,20.23; Darius Dan. 6,19 [18]. Samuel Burder 1839

V. 6. Mein Gebein klebt an meinem Fleisch. Wenn die Knochen an der Haut kleben, sind beide nahe daran, am Staube zu kleben (Ps. 119,25 Grundtext, vergl. Ps. 44,26). Joseph Caryl † 1673.

Dass großer Kummer sehr schnelles Hinschwinden der Körperkräfte verursachen kann, ist bekannt. Über den Kardinal Wolsey wird von einem Augenzeugen berichtet, er habe, als er hörte, dass sich die Gunst seines königlichen Herrn, Heinrichs VIII. von England, von ihm gewandt habe, die ganze Nacht hindurch einen so furchtbaren Kampf des Kummers gerungen, dass sein Angesicht am andern Morgen zu der Hälfte einer ehemaligen Größe zusammengefallen gewesen sei. C. H. Spurgeon 1874.


V. 7. Die Rohrdommel, welche Luther nach seiner bekannten trefflichen Weise, die fremdländischen Tiere, Bäume u. dergl. in seiner Übersetzung durch einheimische zu ersetzen, hier nennt, ist ein bräunlicher, zu den Sumpfreihern gehörender Vogel, ein Nachttier, eulenartig auch in den Federn. Es macht gern Lärm, täuscht aber durch steifes Stillsitzen oft den Jäger. Der hebräische Name "der Speier" führt auf den Pelikan, der in seinem am Unterkiefer hangenden großen Kehlsack Fische aufzuspeichern und diese dann gleichsam wieder auszuspeien pflegt, um seine Jungen zu füttern. - James Millard

Wie ein Pelikan in der Wüste. Das Wohnen in der Wüste, d. h. an einsamen Orten, fern von menschlichen Wohnungen, ist in der Tat eine der Eigentümlichkeiten der Kropfgans oder des Pelikans. Er macht sein Nest in unbebauten, einsamen Gegenden, wo er nicht gestört wird; dorthin kehrt er auch zurück, nachdem er sich sein reichliches Mahl aus dem Wasser geholt hat, um es in stiller Muße zu verdauen. Dr. Tristram meint, das Bild des Dichters lehne sich vielleicht an die dem Pelikan mit seinen Verwandten gemeinsame Gewohnheit an, nachdem er sich mit Speise vollgepfropft hat, den Kopf auf der Schulter, den Schnabel auf der Brust stundenlang unbeweglich dazusitzen. J. G. Wood 1869

Nur hier in Huleh habe ich den Wüstenpelikan gesehen. Es war einer angeschossen worden, und da ihm nur ein Flügel verwundet worden war, hatte ich gute Gelegenheit, seine Art genau zu betrachten. Das sehr große Tier war sicherlich der schwermütigste Vogel, den ich je gesehen, ein Kopfhänger wie er im Buch steht. Man bekam schon genug vom bloßen Ansehen. Der Dichter konnte wahrlich kein treffenderes Abbild von Vereinsamung und Schwermut finden, um seinen eigenen traurigen Zustand zu schildern. William M. Thomson 1859.

Käuzlein. Manche Alte verstehen nicht unter dem ersten sondern dem zweiten hier genannten Vogel den Pelikan, indem sie den zweiten hebräischen Namen etwa "Bechervogel" (Sackvogel) deuten. Die Beschreibung, dass der Vogel in zerstörten Stätten wohne, passt aber besser auf eine Eulenart, wie denn auch die Septuaginta das Wort mit dem (auch in unseren Sprachen wegen des Gekrächzes der Eulen üblich gewesenen) Namen Nachtrabe wiedergibt. Wahrscheinlich ist die in ganz Syrien am stärksten verbreitete kleine Eule, der nächste Verwandte unseres Käuzleins, gemeint. Sie wird beschrieben als ein wunderlich und drollig aussehender kleiner Vogel, der zahm und doch vorsichtig ist, sich nie unnötig bewegt, sondern wie angeleimt festsitzt, es sei denn, dass er guten Grund hat, sich entdeckt zu glauben. Dabei dreht und wendet er den Kopf statt der Augen, um zu sehen, was um ihn her geschieht. Man findet ihn zwischen Felsen in den Bachtälern oder auf Bäumen am Wasser, in Olivengärten, in Grabstätten und Ruinen, aus den Sandhügeln von Beer-Seba und auf den von der Brandung bespritzten Überresten von Tyrus, wo man sicher sein kann, um Sonnenuntergang seinen tiefen klagenden Ruf zu vernehmen und ihn mit Beugungen den Takt zu seiner Musik schlagen zu sehen. W. Houghton 1874.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Erläuterungen und Kernworte


V. 8. Vogel. Das im Hebräischen gebrauchte Wort zippor dient zwar auch als Bezeichnung des Sperlings, dieses im ganzen Morgenland so gut wie bei uns gewöhnlichsten Vogels, wird aber auch als allgemeine Bezeichnung für allerlei Vogelarten gebraucht. Der Sperling kann an unserer Stelle nicht gemeint sein, denn er ist überall der gleiche viel Kameradschaft liebende und bis zur Frechheit lustige Spatz. Dagegen gibt es einen andern in Westasien wie in Südeuropa ebenfalls häufigen Vogel, der auch wohl, freilich ganz irrtümlich, für eine Sperlingsart gehalten wird, jedoch nach Größe, Gestalt und Stimme vielmehr eine richtige Drossel ist, nämlich die Blaudrossel. Dieser Vogel unterscheidet sich aber von den andern Drosseln ganz eigentümlich, und zwar überall im Orient, dadurch, dass er eine besondere Vorliebe hat, allein auf menschlichen Wohnstätten zu sitzen. Er hält nie mit andern Gesellschaft, sogar mit seinem Weibchen nur zu einer Zeit im Jahr; und selbst dann kann man ihn oft ganz allein oben auf dem Haus sehen, wo er seine lieblichen klagenden Weisen hören lässt und zu singen anhält, während er von Dach zu Dach hüpft. Auch Amerika hat eine die Einsamkeit liebende Drossel von etwas anderer Art und Lebensweise. The Biblical Treasury.

Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache. Ich bin nicht entschlafen und an mein selbst Acht gegangen. Denn die Welt schläft, als der Apostel 1. Thess. 5,6 saget. Aber darinnen ist er alleine und niemand mit ihm; denn sie schlafen alle. Und er saget: auf dem Dache, als spräche er: Die Welt ist ein Haus, darinnen sie alle schlafen und beschlossen liegen; ich aber alleine bin außer dem Hause, auf dem Dache, noch nicht im Himmel, und auch doch nicht in der Welt. Die Welt habe ich unter mir, den Himmel über mir: also schwebe ich zwischen der Welt Leben und dem ewigen Leben einsam im Glauben. Martin Luther 1525.

V. 7.8. Du brauchst wahrlich nicht wie Elia darüber zu klagen, dass du allein und einsam bist; siehest du doch, dass die größten Heiligen in allen Jahrhunderten unter dem gleichen Schmerze gelitten haben, wie z. B. David. Zu Zeiten kann er freilich rühmen, dass er auf grüner Aue weidet und zu stillen Wassern (Ps. 23,2 Grundtext) geführt wird; aber hernach muss er seufzen, er versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund sei (Ps. 69,3). Was ist aus der grünen Aue geworden? Sie ist verdorrt, von der Hitze ausgebrannt. Wo sind jene stillen Wasser? Sie sind aufgewühlt durch den Sturm der Trübsal. In unserem Psalm vergleicht sich David einer Eule, und im nächsten findet er sein Abbild im Adler! Gibt es zwei Vögel verschiedenerer Art? Der eine ist der Kauz, der andre der König unter den Vögeln, der eine der verachtetste, der andre der geehrteste, der eine der langsamste, der andre der schnellste, der eine der scharfsichtigste, der andre der blödsichtigste aller Vögel. Wundre dich denn nicht, wenn du bei dir plötzliche und seltsame Veränderungen erfährst. Es ist so allen Knechten Gottes in ihren Trübsalskämpfen ergangen. Und habe des gute Zuversicht: ob du jetzt auch von den Wogen des Kummers wie auf eine Sandbank geschleudert bist, dein Schifflein wird doch zu guter Zeit wieder flott werden und fröhlich und getrost dem Hafen zusegeln. Thomas Fuller † 1661.

Nur wenig verstehen die Menschen, was es um Einsamkeit ist und wie man sie allerorten empfinden kann. Eine Menschenmenge ist noch keine Gesellschaft, und Gesichter sind nur eine Bildergalerie, Gespräche nur eine klingende Schelle, wo die Liebe fehlt. Das lateinische Sprichwort "magna civitas, magna solitudo (große Stadt, große Einsamkeit)" weiß etwas davon, denn in großen Städten sind die Freunde zerstreut, so dass sich dort meist nicht die Geselligkeit findet wie in kleineren Orten. Aber wir können weitergehen und streng der Wahrheit gemäß behaupten, dass die eigentliche und traurigste Einsamkeit die ist, wenn man keine wahren Freunde hat, ohne welche die Welt nur eine Einöde ist. Franz Baco v. Verulam † 1626.

Warum lieben Betrübte die Einsamkeit? Sie sind voll Herzeleids, und ein Herz, in welchem sich der Kummer tief eingewurzelt hat, zieht sich naturgemäß in sich selbst zurück und flieht allen Verkehr. Der Gram ist ein gar schweigsamer, die Heimlichkeit liebender Geselle. Leuten, die über ihren Kummer viel schwatzen und lärmen, sitzt der Jammer nicht tief. Manche wundern sich, warum schwermütige Menschen so viel allein sein wollen; ich will euch die Ursachen sagen. Erstens liegt vielfach eine Störung in dem Stoffwechsel des Körpers vor, wodurch ihr Temperament, ihre Gemütsart und ihre Neigungen eine solche Veränderung erleiden, dass sie nicht mehr dieselben sind wie ehedem. Ihre ganze Stimmung ist allem, was sie fröhlich machen oder von ihrer krankhaften Eingezogenheit ablenken könnte, abgeneigt. Wem das unverständlich ist, der könnte sich mit ebenso viel Weisheit darüber wundern, warum solche Leute denn überhaupt krank sein wollen. Sie wären es sicherlich nicht, wenn sie es ändern könnten; aber die Krankheit der Schwermut ist so hartnäckig, dass nur Gottes Macht sie völlig heben kann, ich weiß kein andere Heilung dafür. Sodann wird dieses Leiden nur von solchen verstanden, die es selber durchgemacht haben. Gewöhnlich achtet man ja gar nicht auf das, was Gemütskranke sagen, glaubt nicht an ihr Leiden, sondern macht es lächerlich. So grausam ist man in der Regel mit andern Kranken nicht. Nun kann man wahrlich niemand tadeln, wenn er die Gesellschaft solcher meidet, die seinen Worten nicht einmal das Vertrauen schenken, das man doch den andern Menschen nicht vorenthalten zu dürfen glaubt. Aber der tiefste Grund, warum Menschen, die in Seelennot und Traurigkeit sind, allein zu sein begehren, ist der, dass sie sich gemeiniglich als Zielscheibe ganz besonderer göttlicher Ungnade ausersehen wähnen. Sind sie doch oft wegen der ausnehmend schweren Trübsale, die über sie hereinbrechen, sich selber ein Schrecken und den andern ein Rätsel. Es bricht sogar ihren Mitmenschen das Herz, zu sehen, wie tief sie im Elend liegen, wie schwer sie bedrückt sind, die einst so ruhig lebten, so wohlgemut und hoffnungsfreudig waren, wie es andre sind. Man vergleiche z. B. Hiob 6,21: "Ihr schaut das Schreckliche und scheuet dran", und Ps. 71,7: "Ich bin vor vielen wie ein Wunder (ein abschreckendes Zeichen)". Auch ist es andern meist unbehaglich, mit solchen Leidenden zusammen zu sein. Ps. 88,19: "Du machst, dass meine Freunde und Nächsten und meine Verwandten sich ferne von mir halten um solches Elends willen". Und wiewohl das bei den Freunden Hiobs nicht zutraf, so griff sie doch der Anblick seines Jammers aufs tiefste an, ja der Ärmste war so verändert, dass sie ihn nicht erkannten. Siehe Hiob 2,12 f. Timothy Rogers † 1729.

So empfindlich in diesem Psalme die göttliche Traurigkeit beschrieben wird, so ist doch selbst unter solchem Heulen und Seufzen im tiefsten Grund mehr Zufriedenheit als unter aller Welt Freude. Denn es ist mehr Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, mehr Untertänigkeit unter Gott dabei, mehr Freude als bei aller Lustbarkeit, die ein stetes Streiten wider Gott mit sich führt. Auch als ein einsamer Vogel auf dem Dache ist man doch dem Himmel näher als einer, der sich in der Welt anbauen und festsetzen will. Doch spürt man freilich, dass man nicht im Himmel ist, sondern zwischen dem Weltleben und dem ewigen Leben einsam im Glauben schweben muss, wie unser seliger Luther über diesen Psalm sagt. Es wird aber auch an die Welt kommen, dass sie noch mehr als Rohrdommels Heulen erfahren muss. Das hat schon das alte Babel bei seiner Zerstörung erfahren (Jes. 13,21 f.), und dem jetzt noch stehenden wird’s auch nicht besser gehen, siehe Off. 18,2. O wie viel besser ist es, hier mit Zion und über Zion zu weinen! Wer hier zeitlich hat geweint, der darf nicht ewig klagen. Karl Heinrich Rieger † 1791.

V. 9. Schmähen. Es ist wahr, was Plutarch sagt, dass die Menschen von Hohn mehr verletzt werden als von andern Beleidigungen. Auch gibt die Trübsal dem Spott eine sonderlich scharfe Spitze; denn Bekümmerte sind doch viel mehr geeignet, zu Mitleid zu bewegen als zu Spott zu reizen. H. Moller 1639.

Bin ich, wo sie sind, so schmähen sie mich ins Angesicht; bin ich nicht unter ihnen, so lästern sie mich hinter meinem Rücken. Und beides tun sie nicht je und dann, in Ausbrüchen der Leidenschaft, so dass ich doch zwischenein aufatmen könnte, sondern sie speien ihr Gift auf mich den ganzen Tag und einen Tag wie den andern, unaufhörlich; und nicht einzeln, sondern sie haben sich alle miteinander dazu verschworen. Und nun zähle all meinen Jammer zusammen, mein Fasten, Seufzen, Wachen, das Schamgefühl, von allen wie ein Ungeheuer angestarrt zu werden, das Elend, von niemandem ein Wort des Trostes, einen Händedruck der Teilnahme zu empfangen, sondern mit meinem Jammer ganz allein sitzen zu müssen, und endlich den Hass und die tückischen Schmähungen und Verleumdungen meiner Feinde - was Wunder dann, wenn mein Herzeleid mich verzehrt und ich nur noch Haut und Knochen bin! Richard Baker † 1645.

Schwören bei mir, d. i. sie machen mich zum Exempel, Schwur, Fluch und Wunsch, wie man spricht: Es müsste dir Gott tun wie diesem und jenem. Martin Luther 1525.

V. 10. Denn ich esse Asche wie Brot. An eine wirkliche Verunreinigung des Brotes ist nicht zu denken; es ist ein bildlicher Ausdruck gleich dem: Staub ist ihr Brot. (Jes. 65,25; vergl. 1. Mose 3,14; Ps. 72,9.) K. B. Moll † 1878.

Und mische meinen Trank mit Weinen. Ist seine Speise schon schlecht - schlechter noch als Nebukadnezars Gras - so ist sein Getränk noch übler; denn Tränen sind ein gar bitterer Trank, wie das salzige Wasser des Meeres. Ist das ein Mittel, den Durst zu stillen? Da mag man wohl sagen, das Heilmittel sei schlimmer als die Krankheit. Ist’s nicht jämmerlich, nichts andres zu haben, um den Durst zu löschen, als das bittere Augenwasser, die Zähren des Kummers? Doch welchem Menschen, der Sünde tut, wird es besser gehen? Man tut ja die Sünde der Lust wegen, die sie so verlockend darbietet; aber sei doch jeder, der Sünde begeht, des versichert, dass er, früh oder spät, tausendmal mehr Not und Kummer in ihr finden wird, als er je Vergnügen und Lust in ihr gefunden hat. Denn alle Sünde ist eine Art Überfüllung, und es gibt kein anderes Mittel, ihre tödliche Wirkung aufzuheben, als dass man solche Diät halte, dass man Asche wie Brot esse und mische seinen Trank mit Weinen. Wo aber findet man solche Buße? Richard Baker † 1645.

V. 11. Dass du mich aufgehoben hast, damit ich mit desto größerer Wucht zu Boden stürze. Der Mann Gottes klagt hier nicht Gott der Grausamkeit an, sondern beklagt sein eignes Elend. Miserum est fuisse felicem, es ist kein kleines Unglück, glücklich gewesen zu sein. John Trapp † 1669.

Dass du mich aufgehoben und niedergeworfen, ist nach Hiob 30,22 zu verstehen: erst hat ihm Gott den festen Boden unter den Füßen entzogen, dann ihn aus der Schwebe zu Boden geworfen - ein Bild des Geschickes Israels, welches seinem Vaterlande entrückt und in das Elend (d. i. Fremdland) hingeworfen ist. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.

V. 12. Meine Tage, d.i. meine Lebenszeit, sind wie ein gedehnter Schatten, wie der lang werdende Abendschatten, der zeigt, dass die Nacht nahe ist. Die Vergleichung ist, wiewohl nicht in Worten ausgeführt, ein überaus sprechendes Bild des zu Grunde liegenden Gedankens. Thomas J. Conant 1871.

Ich - ich verdorre usw. Das "ich" steht im Grundtext in deutlichem Gegensatz zu dem "Du aber" V. 13. A. R. Fausset 1866

V. 14. Du wirst (Grundtext) dich aufmachen und über Zion erbarmen. "Du wirst" - wie die Sunamitin den Propheten Elisa bei den Füßen hält, wo Gehasi sie abstoßen will, und spricht: So wahr der HERR lebt und deine Seele, ich lasse nicht von dir! (2. Könige 4,27.30.) Und wie Jakob zu dem Engel, nachdem er die ganze Nacht mit ihm gerungen: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. (1. Mose 32,27) Bischof John King 1620.

Die Stunde ist kommen. Es gibt vorherbestimmte Zeiten für Gottes große Taten. Gott lässt die Mächte der Finsternis ihre Zeit haben (Lk. 22,53), aber er nimmt auch seiner Stunde wahr; er wird nicht eine Sekunde zurückbleiben hinter der Zeit, die er für die Enthüllung seiner Gnade festgesetzt hat. Wann ist diese Stunde gekommen? Wenn die Seinen Asche wie Brot essen und ihren Trank mit Weinen mischen, wenn die Knechte Gottes aufs tiefste gebeugt sind und in ihnen eine so inbrünstige Liebe zu der Gemeinde des HERRN ist, dass ihnen selbst die Steine und der Schutt des Hauses Gottes lieb sind, und sie von so tiefem Sehnen nach der Wiederherstellung desselben erfüllt werden wie die Juden in der Gefangenschaft nach der Wiederaufrichtung des Heiligtums aus seinem Schutt und mit redlichem, lauterem Herzen Gott bei seinen Zusagen fassen. Ohne Glauben können wir nicht Gnade begehren, ohne Beugung sie nicht empfangen, ohne ein von sehnsüchtiger Liebe entbranntes Herz sie nicht schätzen, ohne Lauterkeit keinen Nutzen aus ihr ziehen. Zeiten tiefer Not aber tragen sehr dazu bei, diese Vorbedingungen der Gnade in uns wachsen und ausreifen zu lassen. Stephen Charnock † 1680.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Erläuterungen und Kernworte


V. 15. Denn deine Knechte hangen mit Liebe an ihren Steinen, und es jammert sie ihres Staubes (Grundtext) Welch treffendes Bild zu dieser Stelle bietet heute noch die bekannte Klagmauer zu Jerusalem. "Hier", sagt Olin, "am Fuße der Mauer des alten salomonischen Tempels ist ein offener, mit Fliesen gepflasterter Platz, wo die Juden jeden Freitag, in kleinerer Anzahl auch an anderen Tagen, zusammenkommen, um zu beten und die Verwüstung des Heiligtums zu beklagen. Sie halten den Boden sehr sorgfältig rein und ziehen die Schuhe aus als auf heiligem Boden weilend. Sie stehen oder knieen, das Angesicht gegen die uralte Mauer gerichtet, und starren entweder schweigend die ehrwürdigen Quadern an oder lassen ihren Klagen Lauf in zwar halb unterdrückten, aber doch vernehmbaren Tönen. Wie viele Tränen sind da schon vergossen, wie viele Seufzer zum Himmel gesandt worden!"Vergl. Ps. 137,5.6. John Kitto † 1854

V. 17. Und erscheinet in seiner Herrlichkeit. Die Sonne ist auch am düstersten Tage herrlich, aber ihre Herrlichkeit erscheint erst, wenn sie die Wolken zerstreut hat, die sie den Blicken der unteren Welt verhüllen. Gott ist herrlich, auch wenn die Welt ihn nicht sieht; aber seine Herrlichkeit erscheinet, wenn die Herrlichkeit seiner Gnade und Treue in der Errettung seinem Volkes durchbricht. William Gurnall † 1679.

Warum wird der HERR, gerade wenn er Zion bauet, in seiner Herrlichkeit erscheinen? Erstlich, weil dies das Werk ist, an dem er sonderliches Wohlgefallen hat, und sodann, weil Himmel und Erde nur ein vergängliches Werk sind, das nur eine Woche, sechs- oder siebentausend Jahre, stehen soll und dann abgebrochen wird wie eine Lehmhütte, die Erbauung Zions aber sein Meisterstück ist, an dem er sich ewiglich ergötzen will. Stephen Marshall 1645.

V. 18. Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen. Seines Reichs Art ist, dass es elende, rufende, betende Leute hat, die viel leiden um seinetwillen; so ist seine Art und Regiment nicht anders, denn solchen Armen, Elenden, Sterbenden und Sündern zu helfen, sie erhören und ihnen beistehen. "Kommt zu mir alle, die ihr mühselig seid". Und verschmähet ihr Gebet nicht. Es ist nicht ein weltlich Reich, da man der Obrigkeit muss helfen, geben und beistehen, sondern ein geistliches, da jedermann geholfen wird aus allerlei Not an Leib und Seele. Martin Luther 1525.

Ich habe oft beobachtet, wie solche betrübte Gotteskinder, die sich verlassen und aller Hilfe und allen Trostes entblößt vorkommen, mehr als alle anderen darauf aus sind, die Fürbitte ihrer Freunde zu erbitten, wo immer sie jemand sehen, der besondere Gnadengaben hat und sich des Friedens eines heiteren Gemüts und der inneren und äußeren Freiheit, zu beten und sich mit der Gemeinde des HERRN zu vereinigen, erfreut. O wie froh sind sie, wenn sie eines solchen Mannes Fürbitte erlangen können! Während in Wahrheit gerade solche vielmehr es wünschen würden, dass die geistlich Armen, Verlassenen, Entblößten für sie einträten. Denn wahrlich, wen immer Gott außer Acht lassen mag, so wendet er sich doch sicher zum Gebet der Verlassenen und hilf- und trostlosen Gläubigen. Darum du Betrübter, der du von den Wogen hin und her geworfen wirst und meinst, du seiest vom HERRN gar verstoßen, o halte an, deine Seele vor ihm auszuschütten; du hast hier eine kostbare Verheißung, die der treue Gott sicherlich einlösen wird. Stephen Marshall 1645.

Solch ein "Entblößter" weiß wie beten. Er bedarf dazu keines Lehrmeisters. Seine Trübsale unterweisen ihn wunderbar in dieser Kunst. O dass wir uns recht entblößt wüssten, damit wir lernten, wie wir beten sollen; entblößt von Kraft, Weisheit, von der Macht des Einflusses, die wir besitzen sollten, von wahrer Glückseligkeit, entsprechendem Glauben, völliger Hingebung, von Schrifterkenntnis, von Gerechtigkeit usw. - Diese Worte des Psalms stehen in unmittelbarer Verbindung mit einer Weissagung von herrlichen Dingen, die in der Zukunft eintreten sollen. Wir behaupten, nach der Erfüllung dieser wunderbaren Hoffnungen begierig zu sein; aber bringen wir das Gebet des Entblößten dar? Ist nicht im Gegenteil die Gemeinde des HERRN im Großen und Ganzen vielmehr der Gemeinde zu Laodicäa ähnlich? Lässt sich nicht eine Menge ihrer Taten, ja vielfach ihr ganzes Gebahren bei richtiger Beurteilung in den Worten zusammenfassen: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts? Und müssen ihre Gebete nicht der vorwurfsvollen Antwort begegnen: Du weißt nicht, dass du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß? Dein äußerliches Blühen, Glänzen und Wirken entspricht nicht deinem inneren Stand. Ich rate dir usw. Off. 3,18. George Bowen 1873.

Es ist unserer vollen Beachtung wert, dass hier die Erlösung und Wiederherstellung des Volks mit den Gebeten der Treugesinnten in Zusammenhang gebracht wird. Jene Dinge sind doch freie Gaben, die ganz von der Gnade Gottes abhängen; dennoch schreibt Gott selbst sie oft unseren Gebeten zu, um uns zu eifrigerem, inbrünstigerem Beten anzureizen. D. H. Moller 1639.

Und verschmähet ihr Gebet nicht. Wie vielen hat das Gebet aus verzweifelter Lage geholfen! Das Gebet hat auch bisher unser Reich erhalten. Erinnern wir uns des stolzen Rühmens unserer Feinde (des Heeres König Karls I. von England im Kampf mit dem Parlamentsheer unter Cromwell, 1642-45), als wir Bristol verloren hatten. Da sandten sie ins ganze Land und sogar in andere Königreiche ein triumphierendes Schreiben, in welchem sie behaupteten, dass ihnen nun alles unterworfen sei. Unter andern gar zuversichtlichen Ausdrücken war auch folgender: "Es bleibt dem König nichts zu besiegen als die Gebete etlicher Fanatiker". Die (lateinischen) Worte waren übrigens zweideutig; man konnte sie auch so verstehen: "Es bleibt nichts übrig, was den König besiegen könnte, als die Gebete etlicher Fanatiker". Wir waren damals in der Tat in sehr schlimmer Lage. Unsere Festungen waren genommen, unsere Heere zusammengeschmolzen, unsere Herzen zumeist von Furcht und Mutlosigkeit beherrscht, massenhaft flohen Leute aus dem Reiche, und gar viele verließen unsere Sache als eine verlorene und suchten sich in Oxford (wo der König nach diesen Siegen 1644 ein Gegenparlament berufen hatte) mit der königlichen Partei zu versöhnen. Ja, es war uns fast nichts geblieben als preces et lacrimae (Gebet und Tränen). Aber, Gott sei gelobt, das Gebet ward nicht besiegt; die Feinde fanden an ihm den unersteiglichsten Wall, die mächtigste, unbesiegbarste Brigade. Es hat uns bisher erhalten, hat uns unerwartete Hilfskräfte erweckt, uns so manche kaum zu hoffende Erfolge und Errettungen gebracht. Darum lasst uns, nach Gott, dem Gebet die Krone der Ehren geben. Ihr Notabeln und Helden, gebt euch alle damit zufrieden, dass es so sei. Es wird euer keinem den verdienten Ruhm schmälern; Gott und Menschen werden euch geben, was euch gebührt. Viele von euch haben rühmenswert gehandelt, aber das Gebet übertrifft euch alle; und das ist nichts Neues, das Gebet hat stets den Vorrang gehabt bei der Auferbauung Zions. Gott hat mancherlei besondere Aufgaben besonderen Männern und besonderen Zeiten vorbehalten; aber in allen Zeitaltern und unter allen Menschen ist das Gebet das vorzüglichste Werkzeug gewesen, sonderlich wo es der Auferbauung Zions galt. - Aus einer vor dem Oberhause gehaltenen, "Der mächtige Helfer" betitelten Predigt von Stephen Marshall 1645

Aber wer mag das glauben, dass Gott in seiner Herrlichkeit sich mit solch geringen Dingen abgeben wird? Verträgt sich das denn mit seiner Ehre? Menschen, die zu Würden kommen, halten sich allerdings in gebührender Entfernung von den Armen und meinen, sich etwas zu vergeben, wenn sie niederschauen; Gott aber rechnet es sich zur Ehre, die Ungeehrten zu beachten, und sieht, ob er wohl der Höchste ist, so tief hinab, dass er auch den Niedersten wahrnimmt, und erweist den Verachtetsten die größte Huld. Ganz so handelte auch Christus nach seiner Verklärung; da wusch er den Jüngern die Füße und setzte den Petrus ebenso sehr in Staunen ob seiner Erniedrigung wie da er ihn seine Herrlichkeit hatte schauen lassen. Richard Baker † 1645.

V. 19.22. Loben. Das Volk, das Gott in Gnaden aus Niedrigkeit und Elend führt, das sind die Leute, von welchen er Lob und Preis erwartet. In der Tat ist die Selbstsucht unserer verderbten Natur so groß, dass wir, wenn wir irgendetwas sind oder irgendetwas tun, alsbald geneigt sind, Gott zu vergessen und unserem eigenen Netz zu opfern und unserem Garn zu räuchern (Hab. 1,16), so dass, wenn Gott je ein Volk findet, das auf ihn traut und ihn preist, es ein armes, geringes Volk sein muss (Zeph. 3,11-13) oder ein Volk, das aus solchem Zustand herausgebracht ist. Die wissen die freie Gnade zu schätzen. Und ihr möget die ganze Schrift durchgehen, immer werdet ihr finden, dass die Loblieder, die so jubelnd von Heil und Rettung singen, von Leuten stammen, die in ihren eigenen Augen zunichte geworden waren, die Gott aber nach seiner Barmherzigkeit von den Toren des Todes zurückgebracht hatte. Erst wenn sie sich also ansehen gelernt hatten, gaben sie Gott die Ehre, die seinem Namen gebührt. Stephen Marshall 1645.

Diese errettete Gemeinde denkt nicht an sich, an das Wohlbefinden, die Freude, Freiheit, Macht oder irgendetwas anderes, das ihr aus dieser Befreiung erwächst; sie bespiegelt sich nicht selbst, sondern all ihr Sinnen und Streben geht darauf, wie das jetzige und die zukünftigen Geschlechter dem HERRN die Ehre geben sollen. Für diese Gesinnung hat die Gemeinde des HERRN gute Gründe: Sie weiß, dass der HERR sich nichts anderes denn die Ehre vorbehält; die Wohltaten lässt er die Seinen ungeschmälert genießen, nur über seiner Ehre wacht er eifersüchtig. Sie wissen ferner, dass er die Seinen eben dazu aus allen Völkern der Erde ausgesondert hat, dass sie ihm alle Ehre und den Preis seines Namens geben. "Ich habe sie geschaffen zu meiner Herrlichkeit." (Jes. 43,7) Drittens endlich wissen sie gar wohl, dass auch ihr eigener Vorteil mit Gottes Ehre und Herrlichkeit verknüpft ist, dass wo immer Gott die Ehre bekommt, die ihm gebührt, sie nicht dabei zu kurz kommen, sondern Gott auch ihnen die höchsten Ehren gibt, dass er sie als seine Werkzeuge und Mitarbeiter ehrt. Stephen Marshall 1645.

Das werde geschrieben. Es gibt kaum etwas Zäheres als das Gedächtnis des Menschen, wenn diesem ein Unrecht zugefügt ist; kaum etwas Schlafferes, wenn es sich um empfangene Wohltaten handelt. Darum will Gott, dass seine Gnadentaten, damit sie nicht der Vergessenheit anheimfallen, der Schrift anvertraut werden. Thomas Le Blanc † 1669.

V. 21. Dass er das Seufzen des Gefangenen höre. Gott nimmt Kenntnis nicht nur von den Gebeten seiner betrübten Kinder, der Sprache der Gnade, sondern auch von ihren Seufzern, der Sprache der Natur. Matthew Henry † 1714.

Kinder des Todes heißen, auf hebräische Weise, die Menschen, die zum Tod übergeben sind; wie man sagt Kind des Lebens, Kind der Bosheit usw. Denn die Christen sind dem Tode übergeben. (Röm. 8,36.) Martin Luther 1525.

V. 22. Wes das Werk ist, des ist auch billig der Name; wes der Name ist, des ist auch das Lob, und die Ehre des, des das Lob ist. Martin Luther 1525.


V. 24. Er demütiget auf dem Wege meine Kraft. Dass der Weg der Lebensweg ist, zeigt V. 25. Vergl. aber auch 2. Mose 18,5. Auf dem Wege sind David und Israel so lange, bis sie das herrliche ihnen gesteckte Ziel, die Weltherrschaft, erreicht haben, das Reich der Herrlichkeit eingetreten ist. Es ist eine große Versuchung, wenn mitten in dieser Laufbahn die Kraft auszugehen scheint; aber die Ermattung und Ohnmacht können immer nur vorübergehend sein, die jugendliche Kraft kehrt stets wieder zurück, vergl. Ps. 103,5. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.

V. 25. Mein Gott. Die Auslassung eines Wortes kann ein Testament ungültig machen und den vermeinten Erben um alle seine Hoffnungen bringen; das Fehlen dieses einen Wortes mein (Gott), bedeutet für den Gottlosen den Verlust des Himmels und ist der Dolch, der sein Herz in der Hölle in alle Ewigkeit durchbohren wird. George Swinnock † 1673.

Ob er mich wohl bricht und drückt, will ich darum nicht von ihm laufen, sondern desto mehr auf ihn hoffen und anrufen und bitten - wie denn alle seine Heiligen tun. Martin Luther 1525.

V. 25. Deine Jahre währen durch alle Geschlechter. (Im Licht von Hebr. 1,10-12.) Lasst uns das Dasein Christi durch alle Zeiten verfolgen. Er war vor seiner Empfängnis, Hebr. 10,5.7, vor dem etliche Monde vor ihm geborenen Täufer, Joh. 1,15, vor den Propheten, in welchen der Geist Christi war, 1. Petr. 1,11; er war zu Moses Zeit, denn ihn versuchten die Israeliten, 1. Kor. 10,9 (vergl. den Engel, in welchem der Name Jehovahs, 2. Mose 23,20 f.), zu und vor Abrahams Zeiten, Joh. 8,56.58, zu Noahs Zeiten, 1. Petr. 3,19, am Anfang der Welt, Joh. 1,1, die durch ihn gemacht ist, V. 3.10 - also währen seine Jahre buchstäblich durch alle Geschlechter, und er war, ehe die Erde gegründet ward; ja sein Ausgang war von Ewigkeit her, Micha 5,1. Was Ps. 90,2 von Gott dem Vater gesagt ist: Du bist, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, das gilt ebenso von dem Sohne. Thomas Goodwin † 1679.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Erläuterungen und Kernworte


V. 26-28. mit Hebr. 1,10-12. Wenn der Verfasser des Hebräerbriefs V. 26-28 des Psalms ohne weiteres auf Christum bezieht, so rechtfertigt sich dies dadurch, dass der Gott, den der Dichter als den Unwandelbaren bekennt, Jahve der Kommende ist. Prof. Franz Delitzsch † 1890.

Wie kommt der Verfasser des Briefes dazu, diese Aussage, die der Grundtext auf Jehovah bezieht, von dem Sohne gelten zu lassen? Er ward dazu nicht durch das von den Septuaginta V. 26 aus dem 13. Vers eingefügte Ku/rie (HERR) ganz mechanisch verführt, sofern Ku/rioj (Herr) die gewöhnliche Benennung Christi in der apostolischen Zeit war. Nein, der Psalm selbst hatte christologischen Charakter. Delitzsch verweist auf die Tradition, welche Ps. 2; Ps. 45 und den (hier Hebräer Kap. 1) gleich folgenden 110. Psalm messianisch fasste. Schon diese Verknüpfung mit lauter messianischen Psalmen führt uns auf die gleichfalls messianische Deutung dieses Psalms. Der "Elende" des 102. Psalms, welchem die Trümmer Jerusalems die Gebeine schwinden machen, tröstet sich mit dem Gedanken an die Ewigkeit dessen, der die Erde und den Himmel gemacht - und derselbe bleibt in Ewigkeit. Diese Wahrheit ist eine Wahrheit in der vergangenen Zeit; beim Beginne der Welt war sie in Kraft. Aber sie ist zugleich eine bleibende Wahrheit, die für die Zukunft gilt. Vor diesem Jehovah sollen nach V. 29 dereinst seine Knechte eine feste Wohnung haben - in dem wiedererbauten Jerusalem. Dieser Ausblick lenkt ein in die messianischen Hoffnungen des Volkes Gottes, und was von Jehovah gilt, das gilt ebenso von dem Sohne Gottes. - Zugleich ist hier die höchste Stufe der Namen Jesu erreicht. Jesus Christus heißt in diesem ersten Kapitel des Hebräerbriefes: "Abglanz der Herrlichkeit, Ebenbild des Wesens Gottes"; sodann heißt er der "Sohn", als solchen sollen ihn alle Engel Gottes anbeten. Darauf wird er zweimal mit dem Namen "Gott" (Elohim) bezeichnet, und nun zum Schluss mit dem Namen "HERR", d. i. Jehovah, dem allerhöchsten und allertröstlichsten, gleichsam dem Eigennamen des göttlichen Wesens. Die Engel heißen zwar Elohim, aber wahrlich nicht Jehovah; dem Sohne aber ist nichts vorenthalten. Die dem Sohne, im Unterschied von den Engeln, zuteil werdenden Auszeichnungen seitens des Vaters kulminieren (gipfeln) in dieser letzten, wonach Gott Vater den Sohn als den ewig bleibenden Jehovah deklariert. Was da von Ewigkeit her feststand, und wovon das Wort der Verheißung wiederholt gezeugt, das wurde bei der Erhöhung des Sohnes zur Rechten des Vaters für Zeit und Ewigkeit offenbar. Hier fand auf den Sohn des Menschen eine Devolution (Übertragung) aller Namen, Eigenschaften und Würden Gottes statt, die er sich kraft seines Gehorsams an der Abgefallenen Statt verdient hatte. Der Sohn entäußerte sich selbst, er tauchte unter in unsere elende Seinsweise, und als er wieder emportauchte, da bekleidet ihn Gott, sein Gott, mit allen jenen Namen und Prärogativen (Vorrechten), die er vor der Welt Grundlegung besessen. (Joh. 17,5; Röm. 1,3 f.) - Zu Ps. 21,6 bemerkt der Midrasch Tillim: Auch den König Messias benennt Gott nach seinem Namen: Jehovah unsere Gerechtigkeit (Jer. 23,6). Die Synagoge weiß also auch davon, dass der Messias "Jehovah" heiße. - Die alttest. Citate im N. T. von Prof. Eduard Böhl 1878.



V. 26.27. Erde - Himmel. Er nennt die festesten und die schönsten Teile der Schöpfung, diejenigen, die am freiesten sind von Vergänglichkeit und Wandelbarkeit, um eben an ihrem Vergehen die Unwandelbarkeit Gottes ins Licht zu stellen. Wie ihre Schönheit vor der Herrlichkeit Gottes erbleicht, so kommt auch ihre Festigkeit zu kurz gegen seine ewige Beständigkeit. Stephen Charnock † 1680.

Sie werden vergehen. Aber was wird dann aus den Heiligen werden, wenn Erde und Himmel in Flammen aufgehen? Sie werden aus allem errettet werden, werden wie jene drei Knechte Gottes des Höchsten (Dan. 3) mitten in dem großen glühenden Ofen einer brennenden Welt los im Feuer gehen, unversehrt, weil einer bei ihnen ist, sie zu erretten, "ein Sohn der Götter", ihr Erlöser. - Aber wird alles gar vergehen? Nein, es wird vielmehr eine Umschmelzung, nicht eine Vernichtung der Substanz von Himmel und Erde vor sich gehen. Die Verdorbenheit der Natur, die Fleischlichkeit wird vergehen, die Natur wird bleiben; die Schlacken werden ausgeschieden, das Gold wird erhalten. - An jenem Tage wird keiner der Weltlinge sagen können wie Hiobs Bote: Ich bin allein entronnen. Da gibt’s nur eine Arche, die vor dem Untergang retten kann: der Busen Jesu Christi. Thomas Adams 1614.

Wie ein Gewand usw. Die LXX lieben die Abwechslung und setzen daher statt des zweimaligen a)lla/ssein das erste Mal e(li/xeij: du wirst sie wegwälzen. Das Bild im Urtext ist freilich schöner: Wie ein Kleid wechselst du sie, und sie fallen dahin, d. h. gleiten von dir ab, mit der Schnelligkeit und Leichtigkeit eines Gewandes - Du aber stehst immer als derselbe da. Nach Prof. Ed. Böhl 1878.

V. 28. Du aber bist derselbe. (Grundtext) Der Psalm behauptet nicht nur die Ewigkeit Gottes (Du bleibest, V. 27), sondern auch seine Unveränderlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit. Du bist derselbe, der gleiche Gott in Wesen und Art, in Wille und Vorsatz. Du änderst alle Dinge nach deinem Belieben; du selbst aber bist unwandelbar in jeder Hinsicht, in dir geht auch nicht ein Schatten von Veränderung vor sich. Der Psalmdichter deutet hier auf den Namen Jehovah hin und schreibt nicht nur Unveränderlichkeit Gott zu, sondern schließt auch alles andere von der Teilnahme an dieser Vollkommenheit aus. Stephen Charnock † 1680.

V. 29. Die Kinder ... werden bleiben. Kinder sind Erben und bleiben; die Knechte aber, denen Gott zeitlichen Lohn gibt, bleiben nicht im ewigen Erbe mit den Kindern. Martin Luther 1525.

Die Kinder deiner Knechte werden bleiben. O der Torheit der Weltleute, die ihren Häusern immerwährende Dauer zu geben suchen durch gesetzmäßige Testamente, die vielleicht es vermögen, ihre Güter zu erhalten; aber reicht es auch dazu hin, ihren Samen zu erhalten? Es mag ihren Erben Ländereien sichern, aber kann es auch ihren Ländereien Erben sichern? Nein, wahrlich nicht! Das ist ein Vermächtnis, das Gott allein machen kann. Richard Baker † 1645.

Homiletische Winke


V. 1.
1) Die Elenden dürfen beten. 2) Sie sollen beten, selbst wenn sie am Verschmachten (Grundtext) sind. 3) Sie können beten, denn es handelt sich um ein Ausschütten ihrer Klage vor dem HERRN, nicht um eine rednerische Leistung. 4) Sie finden für ihr Gebet gnädige Annahme, wie der vorliegende Fall aufs beste erweist.
V. 2.3.
Fünf Stufen zum Gnadenthron. Der Psalmist bittet: 1) um Gehör (Audienz): Höre mein Gebet; 2) um Zutritt: Lass mein Schreien zu dir kommen; 3) um Zuwendung des göttlichen Angesichts: Verbirg usw.; 4) um ein geneigtes Ohr: Neige usw.; 5) um Antwort: Erhöre usw. Charles A. Davis 1874.
V. 3.
Gebet in der Not 1) am nötigsten, 2) am dringendsten, 3) am wirksamsten.
1) Gebet in der Zeit großer Not. 2) Die Bitte der größten Not: Verbirg dein Antlitz nicht vor mir. Nicht: Nimm die Trübsal hinweg, sondern: Sei mit mir in der Trübsal. Ein feuriger Ofen ist ein Paradies für uns, wenn Gott dort bei uns ist. Prof. George Rogers 1874.
V. 3a.
Das Gotteskind bittet vor allem, dass ihm in der Not das göttliche Antlitz sich nicht verberge, denn das würde 1) die Not tausendfach verschärfen, 2) ihm die Kraft rauben, die Not zu tragen, 3) ihn verhindern, so zu handeln, dass Gott durch ihn in der Not verherrlicht wird, und 4) könnte es der heilsamen Wirkung der Not auf ihn selbst Eintrag tun.
V. 3c.
Erhöre mich bald! 1) Wir bedürfen oft, dass Gott uns eilends erhöre. 2) Gott kann es. 3) Er hat es schon oft getan. 4) Er hat es verheißen.
V. 4-12.
1) Die Ursachen des Kummers. a) Die Hinfälligkeit des Lebens, V. 4a. b) Körperliche Schmerzen, V. 4b. c) Niedergeschlagenheit des Gemütes, V. 5.6. d) Vereinsamung, V. 7.8. e) Schmach und Verwünschung, V. 9. f) Demütigung, V. 10. g) Verbergen des göttlichen Angesichts, V. 11. h) Augenfälliges Schwinden der Kräfte, V. 12. 2) Die Beredsamkeit des Kummers. a) Sein Leben vergeht wie Rauch, V. 4a. b) Der Schmerz wühlt in seinem Körper wie Feuer, V. 4b. c) Sein Gemüt ist niedergeschlagen, wie von der Sonnenglut versengtes Gras. Wer mag essen, wenn das Herz also betrübt ist? V. 5. d) Er gleicht in seiner Vereinsamung dem Pelikan in der Wüste, dem Käuzlein in verstörten Stätten, dem einsamen Vogel auf dem Dache, V. 7.8. e) Seine Schmähung: er ist wie von Rasenden (Grundtext) umgeben, V. 9. f) Seine Demütigung: Essen von Asche, Trinken von Tränen, V. 10. g) Gottes Verbergen des Angesichts: er fühlt sich wie aufgehoben und zu Boden geschleudert, V. 11. h) Er schwindet wie der sich dehnende Schatten, wie verdorrendes Gras, V. 12. Prof. George Rogers 1874.
V. 5b.
Ungläubiges Grämen veranlasst uns, die zu unserer Erhaltung dargebotenen Mittel zu vernachlässigen. Wir vergessen 1) die Verheißungen, 2) die Erfahrungen der Vergangenheit, 3) den Herrn Jesum, unser Lebensbrot (Joh. 6), 4) die nimmer aufhörende Liebe Gottes. Kein Wunder, wenn wir dann schwach werden, in Ohnmacht fallen usw. "Darum ermahne ich euch, Speise zu nehmen, euch zu laben" Apg. 27,34.
V. 7.
Man vergleiche diesen Vers mit Ps. 103,5. Der starke Gegensatz gibt weiten Raum zu sehr anziehenden Erfahrungslehren.
V. 8.
Die Gefahren und die Segnungen der Einsamkeit. Wann sie zu suchen ist und wann sie eine Torheit wird.
Der kummervolle Wächter - allein, außerhalb der Schutzmauern der Gemeinschaft, unbedeutend in den eigenen wie fremden Augen, nach Gleichgesinnten sich sehnend, abgesondert um zu wachen.
V. 10.
Die Kümmernisse des Gläubigen; ihre Menge, ihre Bitterkeit, ihre Ursachen, ihre Gegenmittel, ihre Wirkungen und ihre Tröstungen.
V. 11.
1) Die tiefste Trübsal: dein Dräuen, dein Zorn. 2) Was diese Trübsal noch bitterer macht: frühere Gunsterweisungen (dass du mich aufgehoben usw.) 3) Das beste Verhalten: siehe V. 10 und V. 13 u. 14.
V. 12.13.
Ich und Du, oder der große Gegensatz. 1) Ich: a) Meine Tage sind wie ein Schatten. Der Schatten ist ohne Kraft, Bestand und Gehalt; er hat seiner Natur nach an der Finsternis teil, in welche er aufgeht; und je länger er wird, desto kürzer ist seine Frist. b) Ich selbst bin wie entwurzeltes Kraut, das von der Hitze verdorrt. 2) Du: bist Jehovah: ewiglich bleibend, ewiglich thronend (Grundtext), ewig denk- und preiswürdig, ewig der, in den sich die Geschlechter der Menschen sinnend, forschend und anbetend versenken. Charles. A. Davis 1874.
V. 14.
1) Zion bedarf oft der Wiederherstellung und Erneuerung, bedarf der Gnade. 2) Seine Wiederherstellung ist gewiss: Du wirst (Grundtext) dich aufmachen usw. 3) Die Zeiten seiner Wiederherstellung sind vorherbestimmt. Es gibt Gnaden-Zeiten und Gnaden-Stunden für Zion. 4) Vorzeichen solcher Zeiten werden oft gegeben. Prof. George Rogers 1874.
V. 14.15.
1) Gottes Knechte erwarten Gnadenheimsuchungen für Gottes Stadt (die Gemeinde des HERRN). 2) Sie stützen sich dabei auf Gottes vorbestimmten Gnadenrat. 3) Sie beobachten im Lichte der Verheißung die Zeichen der Zeit. 4) Zum Schluss die Frage: Wie stehen wir zu der Gottesstadt? Hängen wir in Liebe an ihren Steinen und jammert uns ihres Staubes?
Die innige Anteilnahme des Volkes Gottes an allem, was Zion betrifft, eines der sichersten Zeichen, dass Zions Wohlstand wiederkehrt.
V. 16.
Innerer Wohlstand der Gemeinde des HERRN unumgänglich notwendig, wenn ihr Einfluss auf die Welt mächtig sein soll.
V. 17.
Gott ist Zions Erwerber (Bauherr), Baumeister (der den Plan macht), Bauleiter (Erbauer), (königlicher) Bewohner und Gebieter.
1) Zion auferbaut. Wie? Wenn häufige Bekehrungen geschehen, viele sich zu der Gemeinde des HERRN bekennen, die innere Einheit der Gemeinde fest wird, die "Erbauung" gediegen ist und die Mission in die Tiefe, die Breite und die Höhe wächst. 2) Gott verherrlicht. Wie? Durch den von ihm selbst gelegten Grund; durch die von ihm verordneten Ämter (Dienste); durch Schwierigkeiten und Feinde; durch die Armseligkeit der Arbeiter und des Baumaterials; sogar durch unsere Fehler. 3) Die Hoffnung belebt. Weil wir erwarten dürfen, dass der HERR sich verherrlichen wird. 4) Eine Frage: Bin ich an diesem Bau beteiligt - sei es als Stein, sei es als Arbeiter - und zwar beides nicht nur dem Namen, Beruf, äußeren Schein nach, sondern in Wirklichkeit?
V. 18.
1) Die Verlassenen ("Entblößten") beten; 2) sie beten am meisten, 3) am besten, 4) am wirksamsten. Oder: Der sicherste Weg, im Gebet erfolgreich zu sein, ist, zu beten, wie die Verlassenen beten. Man zeige den Grund davon.
V. 19.
1) Eine Denkschrift. 2) Ein Danklied.
V. 19-22.
1) Tiefste Not, V. 21. 2) Gott achtet auf sie, V. 20. 3) Gott hilft aus ihr, V. 21. 4) Gottes Herrlichkeit wird infolge dessen verkündigt, V. 19 u. 22.
V. 20-23.
1) Gott nimmt Kenntnis von dem, was in der Welt vorgeht. a) Der Ort, von welchem aus er die Welt anschaut: vom Himmel, nicht von einem irdischen Standpunkt. b) Die Gesinnung, in welcher er sie betrachtet: von seiner heiligen Höhe, wo er jetzt noch auf dem Gnadenthron, nicht auf dem Richtstuhl sitzt. 2) Was in der Welt seine Aufmerksamkeit am meisten anzieht: das Seufzen der Gefangenen, die Bande der Kinder des Todes. 3) Der Zweck, zu welchem er diese beobachtet: um den Menschen zu helfen, V. 21, und um seine Ehre zu mehren, V. 22.23. Prof. George Rogers 1874.
V. 24.
Eine Predigt für Kranke. Was soll mich die Krankheit lehren? 1) Ergebung: der HERR hat die Trübsal gesandt - Er demütigt usw. 2) Dienst: Gott entbindet mich jetzt von anderem Dienst, fordert dagegen von mir Geduld, Fleiß um mein Seelenheil usw. 3) Vorbereitung - auf den Heimgang. 4) Gebet - für andere, dass sie in meine Stelle treten mögen. 5) Frohe Erwartung: Bald werde ich im Himmel sein, nun, da meine Tage verkürzt werden.
V. 25.
1) Die Bitte: Nimm mich nicht weg usw. a) mitten aus dem Leben, beten etliche; b) mitten aus irdischem Fleiß und Gedeihen, beten manche um derer willen, die von ihnen abhängen; c) mitten aus meiner geistlichen Entwicklung, beten nicht wenige; d) mitten aus erfolgreichem Wirken für den HERRN, beten andere. 2) Die Begründung: Deine Jahre währen für und für. Du hast Jahre die Fülle, darum ist es dir ein Leichtes, mir etliche zuzusetzen - und deine eigenen Jahre währen durch alle Geschlechter. Prof. George Rogers 1874.
V. 26-28.
1) Die Unwandelbarkeit Gottes inmitten der Wechsel der Vergangenheit: vormals usw. a) Er war derselbe, bevor er die Erde gründete, wie hernach. b) Er war derselbe hernach wie zuvor. 2) Die Unwandelbarkeit Gottes inmitten der Wechsel der Zukunft: Erde und Himmel werden vergehen, veralten, verwandelt werden usw. a) Er ist derselbe, ehe sie vergehen, wie er hernach sein wird. b) Er wird derselbe sein, nachdem sie vergangen sind, wie zuvor. 3) Zusammenfassung: Die Unwandelbarkeit Gottes in Vergangenheit und Zukunft: Du bist derselbe. Prof. George Rogers 1874.
V. 27.28.
1) Inwiefern Gott sich ändern kann - nur in seinem Gewand, in den Kundgebungen seines Wesens, in Schöpfung und Vorsehung. 2) Worin er sich nicht ändern kann - in seinem Wesen, seinen Eigenschaften, in den Bündnissen, die er geschlossen, in seiner Liebe usw. 3) Die trostreichen Wahrheiten, die wir daraus ohne Gefahr entnehmen können oder die aus diesen Tatsachen Unterstützung empfangen.
1) Die sichtbare Welt und Gott. a) Sie ist für ihn nicht mehr als das Kleid für den, der es trägt. b) Sie wird alt, er nicht. c) Sie wird bald durch eine neue ersetzt und dem Verderben überlassen werden, seine Jahre aber nehmen kein Ende. 2) Unser Verhältnis zu beiden. a) Lasst uns nie das Kleid mehr lieben als den, der es trägt; b) noch auch je auf das Veränderliche mehr bauen als auf den Unveränderlichen; c) noch leben für das, was vergeht.
V. 29.
Wahre apostolische Sukzession. 1) Es wird allezeit solche geben, die Gott dienen. 2) Sie werden oft der Same der Gläubigen nach dem Fleische sein. 3) Allezeit aber werden sie der geistliche Same der Gläubigen sein, denn es gefällt Gott, Menschen durch Menschen zu bekehren. 4) Wir sollten bei allem Wirken, Beten und Arbeiten stets die Zukunft der Gemeinde Gottes im Auge haben.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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PSALM 103 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

(Ein Psalm) Davids. Es ist uns nicht zweifelhaft, dass dieser Psalm wirklich von David herrührt, stimmt er doch ganz zu Davids Sinn und Art, so dass wir sagen können, er sei in Davids bestem Stil geschrieben.1 Wir möchten ihn den späteren Jahren dieses gottbegnadeten Dichters zuschreiben, da derselbe eine höhere Erkenntnis von der Köstlichkeit der Vergebung, weil auch eine durchdringendere Erkenntnis der Sünde hatte als in seinen jüngeren Tagen. Die starke Empfindung der Hinfälligkeit des Lebens weist auf das beginnende Alter, wie die überströmende Fülle lobpreisender Dankbarkeit auf die Zeit der inneren Reife. Wie in den hehren Alpen etliche Gipfel hoch über die andern ragen, so gibt es sogar unter den geistdurchwehten Psalmen Sangeshöhen, die die übrigen an Erhabenheit noch weit übertreffen. Dieser 103. Psalm war uns stets in der Kette der Lobeberge gleichsam der Monte Rosa, der in glühenderem Licht erstrahlt denn irgendeiner der andern. Der Psalm ist der Apfelbaum unter den Bäumen des Feldes, und seine goldne Frucht hat einen Duft und Wohlgeschmack, den keine Frucht besitzt, sie sei denn im vollen Sonnenschein der Gnade gereift. Dieser Lobgesang ist das Echo des Menschen auf die Wohltaten seines Gottes, der Sang auf dem Berge, mit dem er der Bergpredigt seines Erlösers antwortet. Nebukadnezar betete seinen Götzen mit Schall der Posaunen, Trompeten, Harfen, Geigen, Psalter, Lauten und allerlei Saitenspiel an (Dan. 3,5); David weiß eine bessere Weise: er weckt all die Melodien des Himmels und der Erde, dem allein wahren und lebendigen Gott zu Ehren. Wir gehen an den Versuch, den Psalm auszulegen, mit dem lebhaften Gefühl, dass wir schlechterdings nicht imstande sind, einer so erhabenen Dichtung ganz gerecht zu werden. Wir rufen unsere Seele und alles, was in uns ist, auf, uns bei der vergnüglichen Aufgabe zu helfen; aber ach, unser Gemüt hat seine Grenzen, und wenn wir auch alles, was wir an geistigen Fähigkeiten besitzen, zusammennehmen, so ist’s doch viel zu wenig für das Unternehmen. Es ist in dem Psalm zu viel selbst für tausend Federn, es auszuschreiben; er ist eine jener allumfassenden Schriftstellen, eine Bibel im Kleinen, und könnte allein fast genügen als Gesangbuch der Gemeinde des HERRN.

Einteilung


Erst singt der Dichter von Gnadenerweisungen, die er persönlich erlebt hat, V. 1-5. Dann preist er die herrlichen Eigenschaften Jehovahs, wie sie sich in seinem Walten über dem auserwählten Volke erzeigt haben, V. 6-19. Zum Schluss ruft er alle Geschöpfe im ganzen Weltall auf, den HERRN anzubeten und sich mit ihm in dem Preise Jehovahs, des ewig Gnädigen, zu vereinen, V. 20-22.

Auslegung


1.
Lobe den HERRN, meine Seele,
und was in mir ist, seinen heiligen Namen!
2.
Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!
3.
Der dir alle deine Sünde vergibt,
und heilt alle deine Gebrechen;
4.
der dein Leben vom Verderben erlöst,
der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit;
5.
der deinen Mund fröhlich macht,
und du wieder jung wirst wie ein Adler.



1. Lobe den HERRN, meine Seele. Musik der Seele ist die Seele der Musik; wo das Herz nicht singt, ist auch der künstliche Gesang (kunstvoll können wir in diesem Falle ja nicht sagen) nur seelenloser Schall. Der Psalmist setzt den rechten Schlüssel vor sein Lied, indem er damit beginnt, sein innerstes Ich zum Preise Gottes aufzurufen. Er hält ein Zwiegespräch mit seinem Selbst, und zwar mahnt und ermuntert er sich, als fühle er, wie leicht Mattigkeit und Trägheit seine Kräfte beschleiche, was ja bei uns allen stets geschehen wird, wenn wir nicht mit allem Eifer darüber wachen. Jehovah ist würdig, von uns mit jener inbrünstigen Anbetung gepriesen zu werden, die das Wort des Grundtextes, segnen,2 anzeigt. Auch Lerche und Sturmwind loben den HERRN, aber nur seine Heiligen können ihn lobpreisend segnen. (Vergl. Ps. 145,10 Grundtext) Unser innerstes Leben, unser wahres Sein sollte ganz von diesem herrlichen Dienst in Anspruch genommen sein, und unser jeglicher sollte sein eigenes Herz zu solcher Tätigkeit anspornen. Mögen andre es fertig bringen, dies zu unterlassen - lobe du, meine Seele, den HERRN. Mögen andere murren, du aber lobe. Mögen andre sich selber oder ihre Götzen rühmen, du aber lobe den HERRN. Mögen andre Gott nur mit den Lippen ehren, ich aber will meine Seele zum Preise Gottes aufrufen. Und (alles) was in mir ist, seinen heiligen Namen. Mannigfaltig sind unsere Fähigkeiten, Gemütsbewegungen, Anlagen und Kräfte, aber sie alle hat Gott uns gegeben, darum sollten sie auch alle im Chor ihn preisen. Halbherzige, schlecht erwogene, vernunftlose Lobpreisungen sind nicht solche, wie wir sie unserem liebevollen Herrn darbringen sollten. Fordert schon das Gesetz des einfachen Rechtes unser Herz, Seele und Gemüt ganz für den Schöpfer, der uns gebildet hat, wie viel mehr darf das Gesetz der Dankbarkeit darauf umfassenden Anspruch erheben, dass unser ganzes Wesen dem gnadenreichen Gott huldige. Es ist lehrreich, zu beachten, wie der Psalmist die Heiligkeit des Namens Gottes hervorhebt, als sei diese ihm das Köstlichste an der Offenbarung Gottes; oder vielleicht geschieht es, weil die Heiligkeit Gottes, d. i. die innere Einheit seines Seins, seines Denkens, Wollens und Wirkens, dem Gemüt des Psalmisten der stärkste Antrieb und erhabenste Beweggrund war, ihn auch mit innerer Einigung seines ganzen Wesens anzubeten. Kindlein im Glauben mögen Gottes Güte vornehmlich preisen, Väter aber in der Gnade erheben seine Heiligkeit. Unter dem Namen Gottes verstehen wir sein geoffenbartes Wesen; und wahrlich, solche Lobgesänge, die nicht durch fehlbares Denken und unvollkommenes Beobachten der menschlichen Vernunft, sondern durch die unfehlbare göttliche Offenbarung und Eingebung hervorgerufen sind, sollen mehr als alle andern alle unsere gottgeweihten Kräfte wecken.

2. Lobe den HERRN, meine Seele. Es ist ihm voller Ernst mit seinem Vorsatz, Gott zu preisen; darum ruft er sich abermals dazu auf. War er vorher schläfrig gewesen? Oder war ihm jetzt die Wichtigkeit, die gebieterische Notwendigkeit der Anbetung Gottes mit zwiefacher Kraft zum Bewusstsein gekommen? Sicherlich gebraucht er keine müßigen Wiederholungen, führt doch der Heilige Geist ihm die Feder. Somit zeigt uns die Wiederholung, dass wir es nötig haben, uns immer und immer wieder anzueifern, wenn wir damit umgehen, Gott zu loben, weil es schmählich wäre, ihm weniger darzubringen, als das Höchste, Beste, das unsere Seele geben kann. In diesen Eingangsversen stimmt der Sänger seine Harfe; er spannt die locker gewordenen Saiten, damit auch nicht ein Ton versage in den heiligen Akkorden. Und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Auch nicht eine der uns vom HERRN erwiesenen Taten darf der Vergessenheit anheimfallen, denn sie alle sind für uns wirkliche Wohltaten, alle seiner würdig und alle darum auch des Preises wert. Unser Gedächtnis ist gar treulos gerade in Beziehung auf die besten Dinge; einer seltsamen Verkehrtheit zufolge, die ihm durch den Sündenfall eingeimpft worden ist, häuft es den Auskehricht der Vergangenheit bei sich auf und lässt unschätzbare Schätze achtlos liegen; Kümmernisse, Leiden aller Art hält es krampfhaft fest, für Wohltaten dagegen ist es schlaff, wie eines gelähmten Mannes Hand. Es bedarf, mit scharfem Sporn zu seiner Pflicht angetrieben zu werden, wiewohl diese Pflicht seine Wonne sein sollte. Achten wir ernstlich darauf, dass der Psalmist alles, was in ihm ist, dazu auffordert, aller Wohltaten des HERRN zu gedenken. Es gilt, unsere sämtlichen Kräfte für diese hehre Aufgabe herauszurufen: Gottes allumfassende Güte kann nicht mit weniger als allem, was wir sind und haben, gepriesen werden.
Lieber Leser, haben wir nicht Ursache genug, jetzt ihn lobpreisend zu segnen, der uns also segnet? Komm, lass uns unsere Tagebücher durchgehen und zusehen, ob sich da nicht auserlesene Gnadenerweisungen aufgezeichnet finden, für die wir ihm bisher noch nicht den gebührenden Dank erstattet haben. Erinnern wir uns, wie der persische König in jener Nacht, da er nicht schlafen konnte, in der Chronik des Reiches las und entdeckte, dass einer, der ihm das Leben gerettet hatte, niemals dafür Vergeltung empfangen hatte. Wie schnell erwies er ihm da die Ehre, die ihm gebührte! Uns hat der HERR durch eine wunderbare Erlösung errettet; sollen wir ihm dafür keinen Preis darbringen? Der Name, ein undankbarer Mensch zu sein, ist einer der schmählichsten, den jemand tragen kann; wir können uns wahrlich nicht ruhig der Gefahr aussetzen, mit solchem Brandmal gezeichnet zu werden. Drum Psalter und Harfe, wach’ auf, und lasse den Lobgesang hören!

3. Der dir alle deine Sünde vergibt. Damit beginnt David seine Liste von empfangenen Segnungen, die er als Gegenstände und Gründe des Lobpreises anführt. Er wählt etliche der köstlichsten Perlen aus dem Schatzkästlein der göttlichen Liebe, reiht sie auf an der Schnur des Gedächtnisses und hängt sie um den Nacken der Dankbarkeit. Die Vergebung der Sünden ist in unserem menschlichen Erfahrungsgebiet eines der auserlesensten Geschenke der Gnade und zugleich eines der ersten, die unerlässliche Vorbedingung und Grundlage für den Genuss all der andern Gaben, die da folgen. Ehe uns die Missetat vergeben ist, sind Heilung, Befreiung und Befriedigung der Seele uns unbekannte Segnungen. Die Vergebung ist aber nicht nur der Reihe nach das Erste in unserer geistlichen Erfahrung, sondern in gewissen Beziehungen auch das Erste dem Werte nach. Die Erlassung der Schuld ist ein Gut, dessen wir uns in der Gegenwart erfreuen dürfen, denn Gott vergibt; sie ist ein dauerndes Gut, denn er vergibt noch immer, ist, wie es buchstäblich heißt, der Vergebende; sie misst sich nicht nach Menschenmaß und -art, denn sie ist göttlich; sie reicht gar weit, denn sie räumt alle unsre Sünden weg; sie umfasst unsere Unterlassungen sowohl wie unsre Begehungen, denn beides sind Verkehrtheiten (was das Wort des Grundtextes seinem Ursprunge nach bedeutet); und sie ist höchst wirksam, denn sie ist etwas so wirkliches wie die Heilung und die übrigen Gnadengaben, mit denen sie hier zusammengestellt ist. Und heilt alle deine Gebrechen. Wenn die Ursache verschwunden ist, nämlich die Sünde, hört auch die Folge auf. Die Gebrechen Leibes und der Seele sind durch die Sünde in die Welt gekommen, und da die Sünde ausgerottet wird, werden auch die körperlichen, die seelischen und die geistlichen Krankheiten verschwinden, dass endlich kein Einwohner mehr sagen wird: Ich bin schwach.3 (Jes. 33,24) Wie vielseitig ist doch das Wesen unseres himmlischen Vaters! Erst begnadigt er uns als souveräner König, dann heilt er uns als Arzt. Er ist uns in der Tat alles, und stets gerade das, was unser Bedürfnis erheischt, und unsere Mängel und Gebrechen enthüllen uns ihn nur von neuen Seiten. Gott ist es, der der Arznei für unseren siechen Leib heilsame Wirkung gibt, und seine Gnade heilt und heiligt unsere Seele. Im Geistlichen sind wir täglich in seiner Pflege, und er besucht uns, wie der Arzt seine Kranken, und heilt fort und fort (beachte wieder die Form des Grundtextes: "der da heilend ist") jede Krankheit, die aufkommt. Auch nicht eine unserer vielen inneren Krankheiten spottet seiner Kunst, er heilt sie alle und wird sich an uns als Arzt bewähren, bis auch die letzte Spur von Siechtum aus unserem Wesen geschwunden ist. Die beiden alle dieses Verses sind weitere Gründe, warum alles, was in uns ist, den HERRN loben sollte.
Der Psalmdichter stand im persönlichen Genuss der beiden Segnungen, welche er in diesem Vers an die Spitze stellt; er sang nicht von andern, sondern von sich selbst, oder vielmehr von seinem Herrn, der ihm täglich vergab und täglich sein Arzt war. Er muss darüber Gewissheit gehabt haben, dass dem so sei, sonst hätte er nicht davon singen können. Kein Zweifel trübte ihm diese selige Erfahrung, sein Herz zeugte davon, und deshalb rief er seine der Schuld entlastete und von Heiligungskräften belebte Seele auf, mit aller Macht den HERRN zu preisen.


Fußnoten
1. Man macht gegen die davidische Abfassung ja namentlich die Suffixformen yki " und ykiy: a geltend, die man kurzweg als nordpalästinensisch- (vergl. 2. Könige 4,3.7) aramäische Formen bezeichnet. Allein es ist doch in den Vordergrund zu stellen, dass diese Formen altsemitisch sind; als solche archaistische Formen werden sie hier ihres Vollklangs wegen in dem so erhabenen Lobliede als dichterischer Schmuck verwendet. Man vergl. übrigens die alte (Genetiv-) Form (chirek compaginis) yni$:Olm (bei Auflösung des St. constr. durch das zwischengeschobene rtsb mithin ersichtlich tote archaistische Form) in dem uns unzweifelhaft davidischen Psalm 101, Vers 5. Dass manche solche altsemitische Formen im Aramäischen wieder modern geworden sind, ist eine Sache für sich. Allerdings zeigt die spätere hebr. Poesie mehrfach eine Vorliebe für solche altertümelnde oder aramaisierende Verzierungen, vergl. Ps. 113; 124; hier aber (Ps. 103) ist ihre Anwendung so maßvoll und so ganz in dem außergewöhnlich hohen Schwung des Liedes begründet, dass wir es nicht für berechtigt halten, um ihretwillen den Psalm dem David bestimmt abzusprechen. Auch die nahe Verwandtschaft von V. 9.15.16 mit Hiob u. Hes. 40 ff. zwingt nicht, diese Schriften vorauszusetzen. - James Millard


2. Das hebräische Wort hängt mit knien zusammen: der Anbetende beugt ja die Knie.


3. Oder krank. Wort vom gleichen Stamm wie hier Gebrechen, vergl. Jes 53,4 und das griech. a)sqe/neia usw. Das Wort bezeichnet ja bald physische, bald sittliche Krankheiten; oft werden im A. T. u. N. T. beide mit ihm zusammengefasst, so auch hier im Psalm.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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4. Der dein Leben vom Verderben4 erlöst. Durch Loskauf und durch Machttat erlöst der HERR uns von dem geistlichen Tode, dem wir verfallen waren, und von dem ewigen Tode, der unausbleiblichen Folge jenes. Würde die durch die Sünde verwirkte Todesstrafe nicht von uns genommen, so wären die Vergebung und Heilung nur eine unvollkommene Rettung, Bruchstücke, die ohne die notwendige Ergänzung nur wenig Wert hätten; aber die Befreiung von der Schuld und Macht der Sünde ist, ganz unserem Bedürfnis entsprechend, begleitet von der Aufhebung des Todesurteils, das über uns verhängt war. Preis unserem großen Stellvertreter, der uns vom Hinabfahren in die Grube errettete, indem er sich selbst für uns zum Lösegeld gab. Diese Erlösung wird stets einen der jubelndsten Akkorde in dem Dankliede des Gläubigen bilden. Der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit. Unser Gott tut nichts halb; er hält nicht ein, bis er an den Seinen das Höchste getan hat. Sie reinigen, heilen, erlösen, ist ihm nicht genug; er muss sie auch zu Königen machen, sie krönen, und die Krone, die er für schön genug achtet, dass er sie ihnen aufs Haupt setze, muss weit köstlicher sein als eine aus vergänglichen Dingen, wie Silber und Gold, gemachte. Sie ist mit Edelsteinen der Liebe besetzt und mit dem Samt der Barmherzigkeit verbrämt; sie ist in reicher Fülle mit den Brillanten der begabenden Gnade geschmückt, doch auch, dass sie das Haupt nicht drücke, durch eine sanfte Auskleidung mit erbarmendem Mitleid zum Tragen angenehm gemacht. HERR, wer ist dir gleich! Gott selber krönt die Fürsten seines Hauses; denn all ihr Bestes, das sie haben, kommt unmittelbar und offenkundig von ihm: sie erwerben sich die Krone nicht, denn sie ist eine Krone der Gnaden, nicht des Verdienstes; sie fühlen es tief, wie unwürdig sie derselben sind, darum handelt er mit ihnen gar zart nach seinem Erbarmen; aber er ist entschlossen sie zu segnen, darum krönt er sie fort und fort (Partizip), bekränzt ihre Stirn allezeit mit Kleinoden der Gnade und Barmherzigkeit. Er ruht nicht, bis er allem, was er angefangen, die Krone aufsetzen kann; darum, wo er Vergebung schenkt, da gibt er auch Kindesrecht und Königsadel. "Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet, musst du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb" (Jes. 43,4) Die Sünde hat uns all unserer Ehren beraubt, wir waren als Hochverräter geschändet und enterbt; aber Er, der unser Todesurteil zunichte machte, indem er uns mit seinem eigenen Blute vom Verderben erlöste, setzt uns wieder in alle Ehren, ja in größere denn die verlorenen ein, indem er uns eine neue Krone aufs Haupt setzt. Und der Gott, der uns also krönt, sollte von uns nicht wieder gekrönt, verherrlicht werden? Auf, meine Seele, wirf deine Krone ihm zu Füßen und bete ihn in tiefster Ehrfurcht an, der dich also erhöhet hat, dass er dich aus dem Staube, ja aus dem Kot aufgerichtet und unter die Fürsten gesetzt hat. (Ps. 113,7.8)

5. Der deinen Schmuck (d. i. deine Seele) mit Gutem sättigt. (Grundtext) Keines Menschen Begehren ist je ganz bis zur Sättigung gestillt, außer dem Herzen des Gläubigen, und auch ihn kann nur Gott selbst so völlig befriedigen. Mancher Weltmensch ist übersättigt, aber wirklich befriedigt keiner. Gott sättigt die Seele des Menschen, seinen edelsten Teil, der darum hier sein Schmuck,5 seine Zier genannt wird, wie anderwärts, z. B. Ps. 16,9; 108,2, seine Ehre, oder Ps. 22,21; 35,17 seine Einzige, seine Teuerste. Damit geschieht denn auch, was Luther hier (sprachlich unhaltbar) sagt: Der deinen Mund sättiget mit Gutem (L. 1524), so hungrig und unersättlich er sonst auch gewesen sein mag, und damit fröhlich machet (L. 1534). Herzenssättigung ruft laut nach Herzenslobpreis, und wenn der Mund mit Gutem gesättigt ist, ist er verpflichtet, gut von dem zu sprechen, der ihn gefüllt hat. Unser guter Meister beschenkt uns mit wahrhaft guten Dingen, nicht mit nichtigem Tand und eitlen, hohlen Freuden. Und solch gute Gaben gibt er allezeit, so dass er wieder und wieder unsre Seele mit Gutem sättigt (Partizip); sollen wir da nicht auch fort und fort ihn preisen? Wenn wir nie aufhören, ihn zu segnen, solange er nicht aufhört, uns mit Segnungen zu überschütten, so werden wir ewig an dem seligen Werke bleiben. Und du wieder jung wirst wie ein Adler. Dem Psalmisten war Erneuerung der Kraft in solchem Maße geschenkt worden, dass gleichsam seine Jugend wieder anfing, ein neues Leben vor ihm lag. Er war so voller Kraft wie ein Adler, dessen Augen in die Sonne schauen und dessen Schwingen über die Wetterwolken auffahren können. Man denkt bei den Textesworten (wörtl.: dass deine Jugend erneuert wird [oder sich erneuert] wie ein Adler, s. Luther 1524), gerne an die jährliche Mauserung des Adlers, nach welcher er wieder jung und frisch aussieht. Auch in Jes. 40,31 wollen einige eine Hindeutung sehen auf die auffällige Erneuerung des Gefieders bei diesem Vogel. Allein an beiden Stellen ist diese Deutung keineswegs notwendig, sondern es kann ganz allgemein die bekannte unverwüstliche Lebenskraft des Adlers den Vergleich bilden. Hier mag der Sinn einfach der sein, dass der Kranke so geheilt und gestärkt worden, dass er so voller Kraft ist wie der Adler, der stärkste, furchtloseste, majestätischste und am höchsten aufsteigende unter allen Vögeln. Er, der im vorhergehenden Psalm mit der Eule um die Wette grübelnd traurig zwischen Ruinen saß, schwingt sich hier dem Adler gleich in Himmelshöhen auf. Der HERR wirkt wunderbare Veränderungen in uns, und wir lernen aus solchen Erfahrungen, seinen heiligen Namen zu preisen. Aus einem Käuzlein zum Adler wachsen und die Wüste der Rohrdommel verlassen, um zu den Sternen aufzufahren, das ist wahrlich genug, um jedem, der es an sich erlebt, den Ruf zu entlocken: Lobe den HERRN, meine Seele!
So schließt sich die Kette der Gnade zum endlosen Ring. Die Sünde vergeben, ihre Macht gebrochen, das durch sie über uns gekommene Todesurteil aufgehoben; sodann wir geehrt, voll befriedigt und verjüngt zu neugeborenen Kindlein im Hause Gottes. Ja wahrlich, HERR, wir müssen dich preisen, und wir wollen es tun. Wie du uns nichts, gar nichts vorenthältst, so wollen auch wir nicht eine einzige unserer Kräfte zurückhalten, sondern von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und aus allem Vermögen deinen heiligen Name erheben.

6.
Der HERR schafft Gerechtigkeit
und Gericht allen, die Unrecht leiden.
7.
Er hat seine Wege Mose wissen lassen,
die Kinder Israel sein Tun.
8.
Barmherzig und gnädig ist der HERR,
geduldig und von großer Güte.
9.
Er wird nicht immer hadern
noch ewiglich Zorn halten.
10.
Er handelt nicht mit uns nach unseren Sünden
und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
11.
Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,
lässt er seine Gnade walten über die, so ihn fürchten.
12.
So ferne der Morgen ist vom Abend,
lässt er unsre Übertretungen von uns sein.
13.
Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der HERR über die, so ihn fürchten.
14.
Denn er kennt, was für ein Gemächte wir sind;
er gedenkt daran, dass wir Staub sind.
15.
Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras,
er blüht wie eine Blume auf dem Felde;
16.
wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da,
und ihre Stätte kennt sie nicht mehr.
17.
Die Gnade aber des HERRN währet von Ewigkeit zu Ewigkeit
über die, so ihn fürchten,und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind
18.
bei denen, die seinen Bund halten
und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun.
19.
Der HERR hat seinen Stuhl im Himmel bereitet,
und sein Reich herrscht über alles.



6. Der HERR schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden. Was wir persönlich dem HERRN an Dank schuldig sind, darf unser Loblied nicht allein für sich in Anspruch nehmen; wir sollen den HERRN auch für seine an andern erwiesenen Wohltaten preisen. Er lässt die Armen und Wehrlosen nicht in der Gewalt ihrer Feinde zu Grunde gehen, sondern tritt für sie ins Mittel, denn er ist der Rächer der Unterdrückten und der Richter der Unterdrücker. Als sein Volk in Ägypten war, hörte er ihr Seufzen und Schreien (2. Mose 2,23; 3,7) und führte sie aus, Pharao aber stürzte er ins Schilfmeer samt Wagen und Ross. Alle Ungerechtigkeit der Menschen wird gerechte Belohnung empfangen von der Hand des HERRN. Gottes Gnade gegen seine Heiligen heischt Rache an deren Verfolgern, und er wird volle Vergeltung üben. Kein Tröpfchen Märtyrerblut wird umsonst vergossen; keiner der Seufzer, die den mutigen Bekennern in Kerkern und Banden entquollen, wird ohne gerichtliche Ahndung bleiben. Alles Unrecht wird zurecht gebracht, alle Unterdrückten in ihr Recht eingesetzt werden. Die Gerechtigkeit mag zuzeiten die menschlichen Gerichtshöfe verlassen, auf Gottes Richterstuhl bleibt sie. Dafür wird jeder gerecht Denkende Gott preisen. Wäre er gegen das Wohl seiner Geschöpfe gleichgültig, vernachlässigte er die Handhabung der Gerechtigkeit, ließe er boshafte Bedrücker schließlich entschlüpfen, so hätten wir mehr Ursache, zu zittern als uns zu freuen; aber es ist dem nicht also, denn unser Gott ist ein gerechter Gott, der die Taten wägt. (1. Samuel 2,3 nach LXX) Er wird dem Stolzen sein Teil geben und die Tyrannen Staub essen lassen; ja, oft sucht er den hochmütigen Verfolger schon in diesem Leben heim, also dass man erkennt, dass der HERR Recht schafft. (Ps. 9,17.)

7. Er hat seine Wege Mose wissen lassen. Mose durfte reichlich die Art und Weise kennen lernen, wie Gott an den Menschenkindern handelt; in jedem der drei Abschnitte seines Lebens bekam er darein tiefe Blicke: als er noch am ägyptischen Hofe war, sodann bei seinem Leben der Zurückgezogenheit in den Einöden Midians, und als er das Haupt der Stämme Israels war. Ihm enthüllte der HERR besonders klar sein Walten und seine Regierungsweise; er durfte mehr von Gott schauen, als je zuvor einem Sterblichen gestattet worden war, da er mit Gott auf dem Berge so nahen Verkehr genoss. Die Kinder Israel sein Tun, wörtlich: seine Taten. Sie sahen weniger als Mose, denn sie schauten Gottes Taten, ohne die Beweggründe, die ihn bei denselben leiteten, zu verstehen; dennoch war auch das schon viel, und es hätte mehr sein können, wenn sie nicht so verkehrt gewesen wären: die Beschränkung lag nicht in der göttlichen Offenbarung, sondern in der Härte ihrer Herzen. Es ist eine erhabene Tat freier Gnade und herablassender Liebe, wenn Gott sich irgendjemand oder gar einem ganzen Volke offenbart, und die Menschen sollten billig die ihnen damit erzeigte vorzügliche Huld gebührend schätzen. Wir, die wir an Jesum glauben, kennen die wunderbaren Wege Gottes, seine anbetungswürdige Handlungsweise in der Gnade, und wir haben aus Erfahrung die Taten seiner Gnade gegen uns kennen gelernt. Wie inbrünstig sollten wir unseren göttlichen Lehrer, den Heiligen Geist, preisen, der uns mit diesen Dingen bekannt gemacht hat; denn ohne ihn säßen wir noch heute in Finsternis. "Herr, was ist’s, dass du uns dich willst offenbaren und nicht der Welt?" (Joh. 14,22.) Warum hast du uns den "Auserwählten, die es erlangten" (Röm. 11,7) zugezählt, während die andern verstockt werden?
Lasst uns beachten, wie die Persönlichkeit Gottes bei all diesem gnädigen Unterweisen hervortritt: Er hat usw. Er überließ es nicht dem Mose, die Wahrheit zu finden, sondern ward selbst sein Unterweiser. Was würden wir wohl jemals wissen, wenn er es uns nicht kundtäte? Gott allein kann sich selbst offenbaren. Wenn Mose Gott nötig hatte, um die göttlichen Dinge zu erkennen, wie viel mehr wir, die wir gegen ihn, den großen Gesetzgeber, so unbedeutende Menschen sind!


Fußnoten
4. Wörtlich: Grube, so auch Luther im ersten Psalter. Die Übersetzung Verderben stammt aus der LXX, die das Wort an sämtlichen Stellen so deutet, mit falscher Ableitung von txa$f statt von xW$. Gemeint ist im Grundtext bald das Grab, bald die Unterwelt, bald beide miteinander. Man wird somit hier und an manchen andern Stellen den Ausdruck Verderben gerne beibehalten als freie Übersetzung, die den Sinn allgemeiner fasst als unser deutsches Wort Grube. Vergl. übrigens Schatzk. Bd. I, S. 254 f. zu Ps. 16,8-11.


5. Schmuck ist die einzige nachweisbare Bedeutung des hebr. Wortes. (Vergl. Schatzk. Bd. I, S. 603, Anm. zu Ps. 32,9.) Es erscheint in der Tat noch am einfachsten, unter dem Schmuck des Menschen hier die Seele zu verstehen, nach Ähnlichkeit der oben angeführten Ausdrücke. (Darauf scheint auch die Übers. der LXX th/n e)piqumi/an sou hinzuweisen, hinter welcher manche Exegeten freilich eine andere Lesart vermuten.) Der gegen diese Auffassung geltend gemachte Grund, es sei ja die Seele selber angeredet, ist allerdings der Form nach richtig; aber dem Sinne nach ist doch schon im Vorhergehenden (vergl. bes. V. 3b. 4a) an die Stelle der Seele unvermerkt der Begriff der Person getreten, welche die Seele eben als die pars melior repräsentiert. (Hengstenbg.) Gestützt wird die Übers. Schmuck durch V. 4b (krönen - Schmuck: Ideen-Assoziation), die Deutung auf die Seele aber dadurch, dass "die Seele sättigen" eine oft gebrauchte Redewendung ist, Ps. 107,9 u. anderwärts. - Alle andern Deutungen, die sich fast sämtlich schon bei den Alten finden, sind nur Mutmaßungen. Die Übers. Mund beruht auf der irrigen Deutung Kinnbacke, Maul in Ps. 32,9. Auch die Bedeutung Alter (für die man Spr. 16,31; 20,29 vergleichen mag) ist nur aus dem 2. Versglied geraten. Andere fassen Schmuck mit starker Metonymie gleich schmucker Leib. Ähnlich Bäthgen, der, den Psalm auf die aus dem Exil erlöste Gemeinde Israel beziehend, diese hier als eine in neuer Jugend strahlende Jungfrau vorgestellt findet, auch bO+ nach. 2. Mose 2,2; 1. Samuel 9,2 mit Schönheit übersetzt: Der deinen Schmuck - deine geschmückte Erscheinung - mit Schönheit sättigt. - James Millard
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Regelmäßige Lesung aus der Schatzkammer David Ps103

Beitrag von Jörg »

8. Barmherzig und gnädig ist der HERR. Diejenigen, mit welchen er es zu tun hat, sind Sünder. So groß sein Wohlwollen gegen sie sein mag, so sind sie doch schuldbeladen und können nur von seiner Barmherzigkeit leben; aber sein Mitleid mit ihrem gefallenen Zustand ist auch tief, und es fehlt ihm nicht an Willigkeit, sie durch seine Gnade aus demselben zu erheben. Die Barmherzigkeit vergibt die Sünde, die Gnade gibt Segnungen, und an beidem, an Barmherzigkeit und Gnade, ist der HERR überreich. Das eben ist jener sein Weg (seine Weise zu handeln), den er Mose wissen ließ (2. Mose 34,6), und bei diesem Wege wird er verharren, solange die Zeit der Gnade währt und die Menschen noch in diesem Leibesleben sind. Er, der Gerechtigkeit und Gericht schafft oder ausübt, hat doch Lust zur Gnade. Geduldig, eigentlich: langsam zum Zorn. Er kann zürnen, kann seine gerechte Entrüstung über den Schuldigen entladen, aber es ist eine ihm ungewohnte Arbeit, er zögert lange damit, hält von Liebe bewogen inne, säumt auf dem Wege, um dem Schuldigen Raum zur Buße zu geben und Gelegenheit, noch die Gnade zu ergreifen. Also handelt er an den größten Sündern, wie viel mehr an seinen geliebten Kindern; gegen sie ist sein Zorn von gar kurzer Dauer und reicht nie in die Ewigkeit, und wenn er sie seinen Hass gegen die Sünde in väterlichen Züchtigungen fühlen lassen muss, so betrübt er doch nicht von Herzen und hat bald Mitleid mit ihren Ängsten. Daran sollten wir lernen, selber auch langsam zu sein zum Zorn; wenn der HERR bei den starken Reizungen, deren wir uns schuldig machen, langmütig ist, wie viel mehr sollten wir dann die Fehle unserer Brüder tragen! Und von großer Güte: reich an Gnade, schnell bereit, Gnade walten zu lassen, und das im reichsten Maße. Es ist auch nötig, dass er ein solcher Gott sei, sonst würden wir bald von seinem Zornesfeuer verzehrt werden. Er ist Gott und kein Mensch, sonst würden unsre Sünden seine Liebe bald auslöschen; doch höher als die Berge unserer Missetaten steigen die Fluten seiner Gnade. Die ganze Welt besteht durch seine verschonende Gnade; diejenigen Menschen, welche das Evangelium hören, nehmen an seiner einladenden Gnade teil, und die, die gläubig geworden sind, verdanken ihr Leben seiner rettenden Gnade, werden erhalten durch seine bewahrende Gnade, werden erquickt durch seine tröstende Gnade und werden einst in den Himmel eingehen kraft seiner nimmer endenden Gnade. Diese überströmende Huld sei zu allen Stunden unser Lied im Hause unserer Wallfahrt. Mögen alle, die da wissen, dass sie von ihr leben, die mächtige Quelle preisen, die sie so willig uns zuströmen lässt.

9. Er hadert6 nicht immer. Oft muss er mit uns rechten, denn er kann es nicht dulden, dass seine Kinder in ihren Herzen Sünde hegen; aber nicht immerdar straft er sie: sobald sie sich zu ihm kehren und ihre bösen Wege verlassen, endet er den Streit. Er könnte ja beständig Ursache finden, mit uns zu hadern, denn wir haben stets etwas in uns, das seinem heiligen Sinn zuwider ist; aber er hält sich zurück: ihr Geist müsste sonst vor ihm dahinschmachten und die Seelen, die er selbst geschaffen. (Jes. 57,16 Grundtext) Es wird für jeden unter uns, der zu dieser Zeit der bewussten Gemeinschaft mit dem HERRN ermangelt, nützlich sein, bei ihm selbst die Ursache seines Zürnens zu erfragen, mit Hiob zu Gott zu sagen: Lass mich wissen, warum du mit mir haderst. (Hiob 10,2) Denn er lässt sich leicht erbitten und kehrt sich bald von seinem Zorn. Wenn seine Kinder sich von ihren Sünden wenden, so wendet er sich bald vom Schelten. Noch hält er ewig Zorn. Er hegt keinen Groll. Er mag es an seinen Kindern nicht leiden, wenn sie sich untereinander etwas nachtragen, und er gibt ihnen dazu in seinem eigenen Verhalten ein erhabenes Vorbild. Wenn der HERR sein Kind gezüchtigt hat, so ist sein Zorn vorbei; er straft nicht als Richter, dann könnte sein Zorn fortbrennen, sondern er handelt als Vater, und darum macht er nach wenigen Schlägen der Sache ein Ende und drückt sein geliebtes Kind an die Brust, als wäre nichts geschehen; oder aber, wenn das Ärgernis zu tief in die Natur des Übertreters eingewurzelt ist, als dass es auf diese Weise überwunden werden könnte, so fährt er fort mit strenger Erziehung, aber er hört nie auf zu lieben und lässt seinen Zorn nicht mit den Seinigen in die andere Welt hinübergehen, sondern nimmt sein irrendes Kind in die Herrlichkeit auf.

10. Er hat nicht mit uns gehandelt nach unseren Sünden und vergalt uns nicht nach unseren Missetaten. (Wörtl.) Sonst wäre Israel völlig vom Erdboden verschwunden, und auch wir wären längst der untersten Hölle übergeben. Wir sollten den HERRN preisen für das, was er nicht getan hat, so gut wie für das, was er uns zugute vollbracht hat; selbst diese Kehrseite des göttlichen Handelns gibt uns Anlass zu anbetendem Dank. Bis zu dem gegenwärtigen Augenblick haben wir nie, auch wenn es uns am schlimmsten erging, gelitten, wie wir zu leiden verdienten (vergl. Esra 9,13); unser täglich Los ist uns nicht mit der Messschnur dessen, was wir verdienten, zugeteilt worden, sondern nach dem gar andern Maße unverdienter Freundlichkeit. Sollten wir da nicht den HERRN lobpreisen? Jeder Nerv unseres Wesens könnte von Qual durchzuckt sein; stattdessen stehen wir alle im Genuss eines gewissen Maßes von Glückseligkeit, und unser vielen ist sogar ein reiches Maß innerer Freude beschert: so lobe denn jede Kraft unserer Seele, ja alles was in uns ist, seinen heiligen Namen.

11. Denn (oder sondern) so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten (wörtl.: ist seine Gnade mächtig) über die, so ihn fürchten. Unbegrenzt ist die Gnade des HERRN gegen seine Erkorenen; sie kann so wenig gemessen werden wie die Höhe des Himmels oder der Himmel Himmel. Nicht allein die unendliche Ausdehnung, sondern auch die Erhabenheit, Pracht und Herrlichkeit liegt in dem Vergleich. Wie das erhabene Himmelszelt die Erde überwölbt, sie mit Tau und Regen tränkt, mit dem Licht von Sonne, Mond und Sternen erhellt und beglückt, und gleichsam mit nimmer ermüdender Wachsamkeit auf sie niederblickt, geradeso bedeckt die Gnade des HERRN von oben her alle seine Erwählten, umgibt sie von allen Seiten, macht sie reich und fruchtbar, und ist das Saphirgewölbe, unter dem sie ewig wohnen. Wer mag auch nur den nächsten der Fixsterne erreichen, wer gar die äußersten Grenzen des sternbesäten Universums messen? Doch. ist so groß seine Gnade! O welch großes Wörtlein - Gnade! Alle diese Gnade aber ist für die, so ihn fürchten: bei uns muss demütige, herzliche Anerkennung der Macht und Gewalt des Höchsten sein, sonst können wir seine Gnade nicht genießen. Gottesfurcht ist etwas vom Ersten, das das göttliche Leben in uns erzeugt, sie ist der Anfang der Weisheit; dennoch gewährleistet sie dem, der sie besitzt und übt, alle die Segnungen der göttlichen Gnade, und das Wort Furcht des HERRN wird daher auch, hier und anderwärts, gebraucht, um das Ganze der wahren Frömmigkeit zu bezeichnen. Manches wahre Gotteskind ist voll kindlicher Ehrfurcht und steht doch zugleich der Frage, ob es bei Gott als Kind angenommen sei, mit Zittern gegenüber; dies Zittern ist grundlos, aber es ist unendlich besser als jene gemeine Frechheit, welche Menschen den Mut gibt, sich mit der Gotteskindschaft und darum auch der Heilsgewissheit zu brüsten, während sie, wie Simon der Zauberer, bittere Galle sind und verknüpft mit Ungerechtigkeit. (Apg. 8,23) Wer auf die unendliche Weite der Gnade hin vermessen wird, der mag an unserem Text zu erwägen lernen, dass Gottes Gnade, ob sie wohl weit ist wie der Horizont und hoch wie die Sterne, doch nur denjenigen zugesichert ist, welche den HERRN fürchten, dass die hartnäckigen Aufrührer aber Gericht ohne Gnade werden zugemessen bekommen.

12. So ferne der Morgen ist vom Abend, lässt er unsre Übertretungen von uns sein. O welch köstlicher, herrlicher Vers! Selbst auf den Blättern der von Gott eingegebenen Schrift ist keine Stelle zu finden, die ihn übertreffen könnte! Die Sünde von uns weggeschafft durch ein Wunder der Liebe! Welch eine Last ist da fortzurücken, und doch ist sie so weit weggeschafft, dass die Entfernung nicht mehr zu berechnen ist. Fliege so fern wie die Flügel der Einbildung dich tragen mögen; geht dein Flug ostwärts durch den Raum, so bist du mit jedem Flügelschlage weiter vom Westen weg. Ist die Sünde so weit von uns entfernt worden, dann dürfen wir sicher sein, dass selbst ihre Witterung, ihre Spur, die Erinnerung an sie völlig verschwunden ist; dann braucht uns auch kein Schatten von Furcht anzukommen, als könnte sie je zurückgebracht werden - selbst der Satan vermöchte solch ein Werk nicht zu vollbringen. Unsre Sünden sind fort, Jesus hat sie hinweggetragen. Weit wie der Ort des Sonnenaufgangs vom Westen entfernt ist, so fern weg hat unser Sündenbock schon vor neunzehn Jahrhunderten unsre Verschuldungen getragen, und wenn man sie nun sucht, wird man sie nicht finden, spricht der HERR. (Jer. 50,20) Auf denn, meine Seele, werde munter und preise den HERRN für diese kostbarste aller Segnungen! Hallelujah! Nur Er vermochte Sünde hinwegzutun, und er hat es in göttlich großer Weise getan, indem er alle unsre Verschuldungen ein für alle Mal getilgt hat.

13. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, so ihn fürchten. Denen, die seinen heiligen Namen aufrichtig ehren, ist der HERR ein Vater und handelt an ihnen als ein solcher. Erbarmen ist’s, was er ihnen bezeigt, denn auch an den Besten der Menschen sieht der HERR viel, das sein Mitleid herausfordert, und wenn es mit ihnen am besten steht, so können sie doch nur von seinem Erbarmen leben. Das sollte wahrlich allen Hang zum Stolz in uns ersticken, sosehr es uns zu gleicher Zeit reichsten Trost gewährt. Väter haben ein zartes Mitgefühl für ihre Kinder, sonderlich wenn diese in Schmerzen sind. Wie gerne würden sie an ihrer Statt leiden! Ihr Stöhnen und Jammern schneidet ihnen ins Herz. So mitempfindend ist unser himmlischer Vater gegen uns. Wir beten nicht einen steinernen Götzen an, sondern den lebendigen Gott, der die Zärtlichkeit selbst ist. Auch in diesem Augenblicke regt sich sein Herz in erbarmender Liebe gegen uns, denn die Übersetzung des Zeitworts in der Gegenwart ist richtig; sein Mitleid hört nie auf zu wallen, wie auch wir ja nie aufhören, es zu bedürfen.

14. Denn Er kennt, was für ein Gemächte wir sind. Er weiß genau, aus welchem Stoffe wir gemacht sind, hat er uns doch selber gebildet. (1. Mose 2,7) Unsre ganze Natur und Bildungsart, unsre Leibes- und Gemütsbeschaffenheit, unsre besonderen Schwächen und die uns vornehmlich aufsässigen Versuchungen, er weiß sie wohl, denn er durchforscht unser innerstes Wesen. Er gedenkt daran, dass wir Staub sind: gebildet aus Staub, Staub auch jetzt noch, und im Begriff, wieder zu Staub zu werden. (1. Mose 3,19; Hiob 34,15; Ps. 104, 29) Wir haben wohl von dem "Eisernen Herzog" (Wellington) gehört sowie von Leuten, denen man eine eiserne Konstitution zuschrieb; aber diese Ausdrücke lassen sich leicht als Lügen erweisen, denn der eiserne Herzog ist zergangen, und die andern Leute von Eisen sinken einer nach dem andern in das Grab, über dem das Requiem ertönt: Der Staub dem Staube. Wir selber vergessen gar leicht, dass auch wir Staub sind, und setzen unsere geistigen und leiblichen Kräfte durch übermäßiges Arbeiten ungebührlichen Proben aus, und geradeso nehmen wir oft zu wenig Rücksicht auf die Schwachheit anderer und laden ihnen Lasten auf, die sie nicht ohne Schaden tragen können; unser himmlischer Vater aber überbürdet uns nie, er verfehlt nicht, uns das Maß von Kraft zu geben, das der Last des Tages entspricht, weil er stets unsere Gebrechlichkeit in Rechnung zieht, wenn er uns unser Los zuteilt. Er schont unser, wie ein Vater seines Sohnes schont, der ihm dient. (Mal. 3,17.) Gepriesen sei sein heiliger Name, dass er gegen seine hinfälligen Geschöpfe so rücksichtsvoll und gütig ist.


Fußnote
6. Man kann ja mit Luther V. 9 futurisch, V. 10 präsentisch übersetzen, entsprechender scheint uns aber V. 9 das Präsens, V. 10 das Perfektum; denn, wie Delitzsch bemerkt, sagen die hebräischen Perfekte V. 10, was Gott je und je nicht getan hat, die hebräischen Imperfekte V. 9, was er nicht fort und fort tut.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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