Regelmäßige Lesung aus der Schatzkammer Davids von Spurgeon
Moderatoren: Der Pilgrim, Anton, Peter01
Psalm 119
17.
Tue wohl deinem Knecht, dass ich lebe
und dein Wort halte.
18.
Öffne mir die Augen, dass ich sehe
die Wunder an deinem Gesetz.
19.
Ich bin ein Gast auf Erden;
verbirg deine Gebote nicht vor mir.
20.
Meine Seele ist zermalmt vor Verlangen
nach deinen Rechten allezeit.
21.
Du schiltst die Stolzen;
verflucht sind, die von deinen Geboten abirren.
22.
Wende von mir Schmach und Verachtung;
denn ich halte deine Zeugnisse.
23.
Es sitzen auch die Fürsten und reden wider mich;
aber dein Knecht redet von deinen Rechten.
24.
Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen,
die sind meine Ratsleute.
In diesem Abschnitte stehen dem Psalmisten die Anfechtungen und Prüfungen vor der Seele, die dem, der unsträflich wandeln will, auf dem Wege begegnen, und er bittet daher um die Hilfe von oben, deren er in seiner Lage bedarf. Während er in den vorigen acht Versen von dem Standpunkt eines Jünglings aus redete, der eben erst in die Welt hinausgetreten ist, spricht und fleht er hier als ein Knecht und als ein Pilger, der sich je länger je mehr als Fremdling in Feindesland fühlt. Er wendet sich an Gott allein, aber an ihn auch mit großer Zuversicht des Glaubens. Er redet mit dem HERRN, wie ein Freund mit seinem Freunde redet.
17. Tue wohl deinem Knecht. Freudig bekennt er sich zu der Pflichtstellung, die er dem HERRN gegenüber hat; es ist seines Herzens Lust, im Dienst seines Gottes zu stehen. Eben diese seine Stellung aber macht er alsbald zum Stützgrund der Bitte, die sein Herz bewegt; ist doch ein Knecht auch zu gewissen Erwartungen seinem Herrn gegenüber berechtigt. In diesem Falle schließt allerdings der Wortlaut der Bitte den Gedanken an gesetzlich begründete Ansprüche aus. Er begehrt eine Wohltat, nicht etwas, das ihm von Rechts wegen zukäme. Miss mir meinen Lohn zu nach dem Reichtum deiner Freigebigkeit, nicht nach meinem dürftigen Verdienste. Unseres Vaters Tagelöhner haben Brot die Fülle, er lässt niemand von seinem Gesinde im Hunger verderben. Wenn uns der HERR nur halten will als einen seiner geringen Knechte, so können wir es wohl zufrieden sein; denn wer bei ihm ein rechter Knecht ist, der ist auch sein Sohn, ein Prinz von Geblüt, ein Erbe des ewigen Lebens. Der Psalmdichter war sich wohl bewusst, dass er mit seinen großen Bedürfnissen große Ansprüche an die Güte Gottes stellen müsse und er sich mit seinen geringen Diensten niemals soviel werde erwerben können. Darum blieb ihm als einzige Zuflucht Gottes Güte; allein von seiner Freigebigkeit konnte er all das Große erwarten, dessen er bedurfte.
Dass ich lebe. Ohne überreiche Gnade konnte er nicht leben. Es bedarf in der Tat eines großen Maßes von Gnade, wenn ein Gläubiger am Leben erhalten bleiben soll. Schon das irdische Leben ist für solch Unwürdige, wie wir es sind, ein Gnadengeschenk. Nur der HERR kann uns den Odem bewahren, und die übermächtige Gnade allein ist es, die uns das Leben erhält, das wir durch die Sünde verwirkt haben. Das Verlangen zu leben, das im Menschen ist, ist recht, es ziemt sich uns auch, dass wir die Erhaltung unseres Lebens zu einem Gegenstand des Gebets machen, und wir erfüllen nur unsere Schuldigkeit, wenn wir die Verlängerung unseres Lebens der Güte Gottes zuschreiben. Ebenso haben wir auch das geistliche Leben, ohne welches das leibliche nur ein Dasein, ein bloßes Vegetieren ist, als eine Gabe der milden Hand Gottes anzusehen und zu erbitten; denn es ist das herrlichste Werk seiner Gnade, und in ihm enthüllt sich die Freigebigkeit Gottes besonders ruhmvoll. Die Knechte des HERRN vermögen ihm nicht in ihrer eigenen Kraft zu dienen, können sie doch nicht einmal leben, es sei denn, dass seine Gnade sich an ihnen mächtig erweise.
Und dein Wort halte. Das sollte die Richtschnur, der Zweck und die Freude unseres Lebens sein. Wir dürfen nicht zu leben begehren, um weiter zu sündigen; wohl aber dürfen wir um das Leben bitten zu dem Zwecke, Gottes Wort zu halten. Das Dasein ist etwas gar Armseliges, wenn es kein Wohlsein ist; nur dieses ist wahres Leben. Erst das Leben im Lichte des Wortes Gottes hat einen Wert; ja, getrennt von Heiligkeit gibt es gar kein Leben in dem höheren Sinn, in dem die Schrift dies Wort fast immer, und so auch hier, gebraucht. Solange wir das Gesetz Gottes brechen, sind wir lebendig tot.
Die Bitte dieses Verses zeigt uns, dass wir nur durch Gottes Gnade als treue Knechte des HERRN leben und seinen Geboten gehorsam sein können. Tun wir Gott Dienst, so geschieht dies nur, weil er uns dazu Gnade schenkt. Wir wirken für ihn, weil er in uns wirkt. So können wir denn aus den Eingangsversen der drei ersten Abschnitte unseres Psalms eine Kette bilden: V. 1 preist den Menschen selig, der in unsträflichem Wandel lebt, V. 9 fragt, wie man zu solcher Heiligkeit gelange und V. 17 führt diese auf ihre oberste Quelle zurück und weist uns ins Gebet als das Mittel, des seligen Standes von V. 1 teilhaftig zu werden. Je höher ein Mensch die Heiligkeit schätzt und je eifriger er nach ihr trachtet, umso mehr wird er dahin geführt, bei Gott Beistand zu suchen; denn er wird immer tiefer inne, wie unzulänglich die eigene Kraft ist, da er ja nicht einmal leben kann ohne die freigebige Gnade seines Gottes.
18. Öffne mir die Augen. Auch eine Wohltat (V. 17), und zwar der größten eine, die uns widerfahren kann; ist doch das Auge - das leibliche und das geistige - ein so wichtiges Organ. Es ist von höherem Werte, dass uns die Augen aufgetan werden, als wenn wir mitten in die herrlichsten Aussichten hineingestellt würden und doch blind blieben für ihre Schönheit. Dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. Manche Menschen können selbst am Evangelium nichts Wunderbares erblicken; der Psalmist hingegen war davon durchdrungen, dass schon im Gesetz eine Fülle herrlicher Dinge verborgen sei. Er hatte nicht einmal die halbe Bibel; aber den kleinen Teil, den er besaß, schätzte er höher als heutzutage viele das ganze Wort Gottes, wie wir es haben. Er war dessen gewiss, dass Gott in seinem Worte köstliche Schätze niedergelegt hatte, und er bittet um die Fähigkeit, diese zu erkennen, recht zu würdigen und sich freudig anzueignen. Wir bedürfen nicht so sehr neue Gaben von Gott als vielmehr die Gabe, zu sehen, was er bereits gegeben hat.
Die Bitte "Decke meine Augen auf, enthülle sie" (wörtl.) setzt voraus, dass der Psalmist sich schmerzlich bewusst war, dass es ihm an Licht fehlte, dass seine geistliche Sehkraft gleichsam verschleiert war und er sich ohnmächtig fühlte, diesem Gebrechen abzuhelfen, dass er aber auch die volle Gewissheit hatte, Gott könne das tun. Die Bitte zeigt ferner, dass der Psalmist überzeugt war, im Worte Gottes seien noch viele Schätze, die er noch nicht völlig ersehen, Wunder, die er noch nicht geschaut, Geheimnisse, von denen er noch kaum etwas ahnte. Ja, die Heilige Schrift strotzt in der Tat von wunderbaren Dingen; sie ist das reine Wunderland. Sie erzählt nicht nur von Wundertaten und erstaunlichen Ereignissen, sondern ist selber eine Welt von Wundern. Doch was nützt das alles verschlossenen Augen? Und welcher Mensch kann sich selbst die Augen auftun, da wir alle blind geboren sind? Gott selbst muss seine Offenbarung jedem einzelnen Herzen neu offenbaren, muss uns zum Schauen dessen, was er in seinem Wort geoffenbart hat, verhelfen. Wohl bedarf die Schrift, dass sie geöffnet werde, aber viel mehr noch bedürfen dies unsere Augen. Die Decke liegt nicht auf dem Buch, sondern auf unseren Herzen. Welch vollkommene Gebote, welch köstliche Verheißungen, welch unschätzbare Vorrechte werden von uns vernachlässigt und versäumt, weil wir achtlos an ihnen vorübergehen, wie der Blinde an den Schönheiten der Natur; sie sind für unsere Augen verdeckt wie eine Landschaft, die in Nacht und Nebel gehüllt ist.
Der Psalmdichter besaß aber doch ein gewisses Maß geistiger Sehkraft, sonst würde er nie gewusst haben, dass es in dem Worte Gottes Wunder zu schauen gibt. Er hatte schon einiges davon sehen dürfen, und was er geschaut, das erweckte in ihm die Sehnsucht nach klarerer, vollkommenerer Einsicht in diese göttliche Wunderwelt. Diese Sehnsucht ist ein Beweis, dass das, was er besaß, wirkliche, echte Gotteserkenntnis war; denn ein untrügliches Merkmal dieser ist es, dass sie den, der sie besitzt, mit einem dürstenden Verlangen nach immer tieferer Erkenntnis beseelt.
Die Bitte dieses 18. Verses schließt sich trefflich mit dem in der Stellung innerhalb des Abschnitts gleichlaufenden 10. Vers zusammen. Dort bat er. "Lass mich nicht irregehen"; wer aber ist so der Gefahr ausgesetzt, vom Wege abzuirren, wie ein Blinder? Dort bezeugte er auch, dass er den HERRN von ganzem Herzen suche; wie natürlich da die Sehnsucht, das Gesuchte mit hellen Augen zu schauen! Es ist gar interessant, wie die Zweige des mächtigen Baumes dieses Psalms sich durcheinander flechten. An ihm selber sind der Wunder genug zu schauen, wenn wir geöffnete Augen haben, um sie wahrzunehmen.
19. Ich bin ein Gast auf Erden, bin hienieden nicht daheim, sondern ein Fremdling, der da keine bleibende Stätte hat. Mit diesem Hinweis auf die Flüchtigkeit seines Seins will der Dichter Gottes Mitleid bewegen. Durch vielerlei Vorschriften hatte Gott den Israeliten Freundlichkeit und Barmherzigkeit gegenüber den Fremdlingen eingeschärft; und was Gott von den Menschen verlangt, darin geht er uns selber mit seinem Vorbild voran. Der Psalmist war um des HERRN willen ein Fremdling auf Erden; sonst würde er sich hienieden ebenso gut daheim gefühlt haben, wie es die Weltmenschen tun. Nicht Gott war er fremd, sondern der Welt; eben weil er Gott von ganzem Herzen suchte, fühlte er sich in der Fremde, solange er nicht im Himmel, bei Gott, war, sondern noch auf Erden pilgern musste.
Darum fleht er auch zum HERRN: Verbirg deine Gebote nicht vor mir. Wenn mir diese entschwinden, was bleibt mir dann noch? Da nichts von allem um mich her mir gehört, was soll ich machen, wenn ich dein Wort verliere? Da keiner von denen, die mich umgeben, den Weg zu dir kennt oder auch nur zu wissen begehrt, was soll ich anfangen, wenn ich deine Gebote nicht mehr vor Augen habe, mit deren Hilfe allein ich meine Schritte zu dem Lande lenken kann, da du wohnst? Es liegt in diesen Worten auch, dass Gottes Gebote sein Trost waren in seiner Verbannung; sie waren ihm Heimatglocken, die ihm mit ihren süßen Klängen den Weg dorthin wiesen. Darum fleht er, dass Gottes Gebote nie vor ihm verborgen werden möchten, dass ihm nie die Fähigkeit entzogen werde, sie zu verstehen und ihnen zu folgen. Wenn uns das geistliche Licht genommen wird, dann ist das Gebot verborgen, und um Abwendung solchen Unglücks bittet das begnadigte Herz mit allem Ernste. Was nützten uns die schärfsten Augen, wenn das Beste, zu dessen Schauen sie bestimmt sind, vor ihnen verhüllt würde? Wir können alle die Beschwerden und Unannehmlichkeiten, die uns hier in der Fremde begegnen, geduldig ertragen, solange das Wort Gottes durch den Heiligen Geist unseren Herzen zugeeignet wird; wenn aber die himmlischen Dinge, auf denen unser Friede beruht, unseren Augen verhüllt würden, dann wären wir in einer üblen Lage. Wir wären in der Tat wie auf sturmbewegter See ohne Kompass, in weiter Wüste ohne Führer, in Feindesland ohne auch nur einen Freund.
Diese Bitte ist eine Ergänzung zu der vorhergehenden: Öffne mir die Augen. Bittet diese um die Fähigkeit zu sehen, so die andere um Abwendung des Gegenteils, des Nichtsehenkönnens, weil das zu Schauende den Augen verborgen wird. Es ist gut, wenn wir den Segen, den wir für uns begehren, von beiden Seiten ins Auge fassen, auch die Kehrseite in unserem Gebet berücksichtigen. Die Bitten entsprechen ferner den verschiedenen Benennungen, die sich der Psalmist zur Bezeichnung seiner persönlichen Stellung beigelegt hat. Als Knecht des HERRN bittet er um geöffnete Augen, damit dieselben stets auf ihren Herrn gerichtet seien, wie es einem Knecht geziemt (Ps. 123,2); und als Fremdling bittet er, dass er nicht fremd sei auf dem Wege, der ihn nach Hause führen soll. In beiden Beziehungen setzt er sein ganzes Vertrauen allein auf den HERRN.
Einen schönen Gegensatz können wir auch in V. 11 und V. 19 finden. Er hatte Gottes Wort in seinem Herzen geborgen und bittet nun, Gott wolle seine Gebote nicht vor ihm verbergen.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
20. Meine Seele ist zermalmt vor Verlangen nach deinen Rechten allezeit. Die wahre Gottseligkeit besteht hienieden zum guten Teil im Verlangen, in Sehnsucht des Herzens. Denn wie wir nicht sind, was wir sein sollten, so sind wir auch nicht, was wir sein möchten. Die Sehnsucht des begnadigten Menschen nach völligerer Heiligung ist brennend und wird immer brennender; dies Verlangen wirkt auf das Herz aufreibend und spannt die Saiten des Gemütes so an, dass diese unter der Gewalt des himmlischen Zuges wohl gar zu zerreißen drohen. Schätzen wir die Rechtsordnungen Gottes hoch, so wird das Begehren, sie tiefer zu erkennen und völliger nach ihnen zu handeln, immer stärker, und dies Begehren lastet so schwer auf der Seele, dass sie unter dem Druck ihrer Sehnsucht zermalmt zu werden in Gefahr kommt. Aber welch ein Glück ist es, wenn all unser Verlangen und Sehnen so nach dem Göttlichen geht; nach solcher Sehnsucht mögen wir uns wohl sehnen!
Gottes Rechte sind seine Rechtsentscheidungen in den Dingen, über welche die Menschen sonst im Zweifel sein könnten. Jedes Gebot Gottes ist ein Rechtsspruch des höchsten Gerichtshofes über eine Frage des Handelns, eine unfehlbare und unabänderliche Entscheidung über eine sittliche oder geistliche Frage. Gottes Wort ist ein Gesetzbuch, von dem es keine Berufung gibt. Wo es spricht, hat jedes "Ich meine, ich denke" des Menschen ein Ende; vor ihm soll aller Streit, aber auch jeder Zweifel verstummen.
Der Psalmist hatte solche Ehrfurcht vor dem Worte Gottes, solch ein Verlangen, es recht kennen zu lernen und ihm ähnlich zu werden, dass seine Sehnsucht ihm schier das Herz brach, und das macht er hier vor Gott geltend in heißem Flehen. Inbrunst des Verlangens ist die Seele des Gebetslebens, und wenn das Verlangen so stark wird, dass die Seele fast davon aufgerieben wird, dann kann der ersehnte Segen nicht lange ausbleiben. Die allerinnigste Gemeinschaft zwischen der Seele und ihrem Gott wird eben durch den in unserem Vers geschilderten Vorgang herbeigeführt: Gott offenbart seinen Willen, und unser Herz sehnt sich, sich damit in Übereinstimmung zu sehen. Gott gibt seinen Richterspruch ab, und unser Herz freut sich seiner Entscheidung. Das ist die allerwirklichste und vollkommenste Herzens-Gemeinschaft.
Beachten wir, dass unser Verlangen nach Gottes Rechten ein dauerndes sein soll; wir sollen nach ihnen verlangen allezeit. Begehrnisse, die man wie ein Kleid an- oder ablegen kann, sind im besten Fall bloße Wünsche und verdienen vielleicht selbst diesen Namen kaum; sie sind zeitweilige Gefühlsbewegungen, aus der Aufregung geboren und ihrer Natur nach dazu bestimmt, zu ersterben, wenn die Hitze, die sie erzeugt hat, sich abkühlt. Nur wer zu jeder Zeit sich sehnt, das, was recht ist, zu erkennen und zu tun, ist ein wahrhaft rechtschaffener Mann. Sein Urteil ist gesund, denn er liebt alle Rechtsurteile Gottes und befolgt sie mit Beständigkeit. Seine Zeit wird stets gute Zeit sein, da er allezeit gut zu sein und gut zu handeln verlangt.
An diesen vierten Vers des dritten Abschnittes klingt der vierte Vers des vierten Abschnittes (V. 28) auffallend an: Meine Seele ist zermalmt - mein Herz (meine Seele, Grundt) verschmachtet. Es unterliegt für uns keinem Zweifel, dass der Dichter mit Absicht die Verse vielfach so kunstvoll verkettet hat, und wir dürfen nicht achtlos an etwas vorübergehen, worauf der Psalmist so viel Sorgfalt verwendete.
21. Du schiltst die Stolzen; verflucht sind, die von deinen Geboten abirren. Dies ist eine von Gottes Rechtsordnungen: er lässt sicher schreckliche Gerichte ergehen über die Hochmütigen. Den stolzen Pharao strafte er mit schweren Plagen, und am Schilfmeer "ward des Erdbodens Grund aufgedeckt von deinem Schelten, HERR" (Ps. 18,16). An den übermütigen Ägyptern stellte er für alle Stolzen ein warnendes Beispiel auf, dass er sie erniedrigen werde. Verfluchte Übermütige nennt sie der Psalmist (nach den masoretischen Satzzeichen, während Luther die Versglieder hier nach der LXX abteilt). Ja, die Stolzen stehen unter einem Fluch; niemand segnet sie, und sich selbst werden sie auch bald zur Last, denn der Hochmut ist an sich schon eine Plage und Qual. Selbst wenn Gottes Gesetz keinen ausdrücklichen Fluch auf den Stolz legte, so scheint es schon ein Naturgesetz zu sein, dass die Hochmütigen unglückliche Menschen sind. Darum verabscheut David den Stolz; er fürchtet das Schelten Gottes und den Fluch des Gesetzes. Die stolzen Sünder seiner Zeit waren zugleich auch seine Feinde; da war er froh, dass Gott ebenso wie er mit ihnen im Streit lag.
Die von deinen Geboten abirren: das sind eben die Stolzen. Nur demütige Herzen sind gehorsam; denn nur sie unterwerfen sich der Ordnung und Autorität. Der Stolze trägt die Augen viel zu hoch, als dass er auf seine Füße achten und des HERRN Weg einhalten könnte. Der Hochmut liegt am Grunde jeder Sünde verborgen; wären die Menschen nicht vermessen, so würden sie es auch nicht wagen, ungehorsam zu sein.
Gott schilt die Hoffart, wenn auch die Menge ihr huldigt; denn er sieht darin Auflehnung gegen seine göttliche Majestät und erkennt darin zugleich den bösen Samen, aus dem immer mehr Empörung und Ungehorsam hervorkeimen werden. Der Hochmut ist in der Tat der Gipfel der Sünde. Man spricht wohl auch von einem rechten, ehrenhaften Stolz; wenn die Leute aber nicht voreingenommen wären, würden sie bald einsehen, dass der Stolz von allen Sünden die am wenigsten ehrenhafte ist und diejenige, die dem Geschöpfe, zumal dem gefallenen Geschöpfe, am schlechtesten ansteht. Aber so wenig Ahnung haben die Hochmütigen davon, wie es wirklich um sie steht, dass nämlich der Fluch Gottes über ihnen hängt, dass sie sich sogar anmaßen, die Frommen zu tadeln und ihrer Verachtung gegen sie höhnend Ausdruck zu geben, wie wir im nächsten Vers sehen. Sie sind selber verächtlich, und doch benehmen sie sich verachtungsvoll gegen die, die besser sind als sie. Wir mögen die Rechte Gottes wohl lieb gewinnen, wenn wir sehen, wie entschieden sie sich gegen die eingebildeten Emporkömmlinge wenden, die so gerne über die Gottesfürchtigen die Nase rümpfen und den Herren spielen. Und wir dürfen bei dem Schelten der Gottlosen getrosten Mutes sein, da ihre Macht, uns zu kränken und zu schaden, durch den HERRN vereitelt werden wird. "Der HERR schelte dich!" (Judas V. 9), das genügt als Antwort auf alle die Anklagen, die Menschen oder Teufel gegen Gottes Knechte vorbringen mögen.
In dem fünften Vers der vorhergehenden Gruppe (V. 13) hatte der Psalmist gesagt: Ich will mit meinen Lippen erzählen alle Rechte deines Mundes. Hier, V. 21, führt er ein besonderes Beispiel von den Rechten oder Gerichten Gottes an, nämlich das Recht, das Gott an den Hoffärtigen ausübt. In den entsprechenden Versen der nächsten beiden Gruppen (V. 29.37) wird er vom Weg der Lüge und von dem Sehen nach dem Eitlen handeln, zwei Übel, die mit dem Hochmut des Menschenherzen aufs innigste zusammenhängen.
22. Wende (oder wälze ab) von mir Schmach und Verachtung. Das sind gar peinliche Dinge für empfindsame Gemüter. Der Psalmist konnte sie ertragen um der Gerechtigkeit willen, aber ein schweres Joch, eine drückende Last waren sie, und er sehnte sich sehr, davon befreit zu werden. Verleumdet zu werden und dann um der üblen Nachrede willen Verachtung erdulden zu müssen ist eine schwere Prüfung. Niemand wird gerne das Opfer von Schmähungen, nicht einmal stille Verachtung können wir ohne Seelenqual erdulden. Wer spricht: "Ich kümmere mich nicht darum, was die Leute von mir denken oder sagen", ist kein kluger Mann, denn der weise Salomo sagt: Ein guter Ruf ist besser denn gute Salbe (Pred. 7,1). Es ist die beste Art und Weise, gegen die Verleumdung vorzugehen, wenn wir darüber beten; dann wird Gott uns entweder von den Schmähungen befreien, indem er sie verstummen lässt, oder aber ihnen den Stachel nehmen. Unsere eigenen Versuche, uns von ihnen zu reinigen, misslingen meistens; es geht uns da wie dem Schulknaben, der den Tintenfleck aus seinem Hefte entfernen will und damit, dass er darin herumpfuscht, die Sache zehnmal schlimmer macht. Haben wir unter unverdienter Schmähung zu leiden, so ist es besser, die Sache im Gebet vor den HERRN zu bringen, als dass wir damit vor Gericht gehen oder von dem Erdichter der Lügen auch nur eine Entschuldigung und Rechtfertigung unserer Ehre verlangen. O ihr, die ihr gekränkt und verlästert werdet, bringt eure Klagen doch vor dem allerhöchsten Gerichtshof vor und lasst sie dort in den Händen des Richters aller Welt. Gott wird eure hochmütigen Verkläger schelten; seid ihr nur stille und überlasst es eurem Verteidiger, eure Sache zu verfechten.
Denn ich halte deine Zeugnisse. Die Unschuld kann mit Recht begehren, dass sie von der Schmach gerechtfertigt, die Verachtung von ihr genommen werde. Wenn in den Anklagen, die man gegen uns schleudert, Wahrheit ist, freilich, womit könnten wir dann Gott bestürmen, uns zu rechtfertigen? Werden wir aber ungerecht geschmäht, so steht unsere Berufung auf unerschütterlichem Grunde und kann nicht abgewiesen werden. Wenn wir aus Furcht, der Schmach bei Menschen zu verfallen, Gottes Zeugnisse verleugnen, dann verdienen wir es, dem Verdammungsurteil zu verfallen, das den Feiglingen droht (Off. 21,8); unsere Bewahrung liegt darin, dass wir mit ganzer Treue festhalten an dem, was recht und wahr ist. Gott bewahrt die, die seine Zeugnisse bewahren. Ein gutes Gewissen bietet die beste Gewähr für einen guten Namen. Keine Schmach wird an denen haften bleiben, die mit Christo verbunden sind, und alle Verachtung der Menschen wird sich in Ehre bei Gott verwandeln für die, die Gottes Wort und Willen ehren.
Dieser Vers entspricht nach Inhalt und Stellung dem sechsten und klingt mit seinem Stichwort "Zeugnisse" an V. 14 an.
23. Es sitzen auch (die) Fürsten und reden wider mich. David war ein edles Wild, darum waren es auch vornehme Jäger, die auf ihn Jagd machten. Fürsten erkannten an ihm eine Größe, die sie mit Neid erfüllte; deshalb suchten sie ihn durch Schmähreden zu verkleinern. Sie hätten auf ihren Thronen wohl an Besseres denken, über Besseres reden können; aber sie verwandelten den königlichen Richtstuhl in einen Sitz der Spötter (Ps. 1,1). Die meisten Menschen bemühen sich eifrig um ein freundliches Wort eines Fürsten, und von einem der Großen auf Erden geschmäht zu werden ist ihnen ein bitterer Kummer; aber der Psalmist trug diese Prüfung mit heiliger Gelassenheit. Viele der Vornehmen waren ihm feind und machten es sich zur Aufgabe, ihn zu stürzen. Sie hielten ein Femegericht über ihn, veranstalteten regelrechte Verleumdungssitzungen und Lügenverschwörungen gegen ihn; aber er überlebte alle ihre Angriffe.
Aber dein Knecht sinnt über deine Rechte. (Grundtext, vergl. V. 15) Das war tapfer und treu! Er ist Gottes Knecht, darum kümmert er sich um die Angelegenheiten seines Herrn; deshalb ist er aber auch gewiss, dass sein Herr für ihn eintreten wird. So kehrte er sich nicht an seine Verleumder, ob sie auch Fürsten waren, und blieb bei all ihren feindlichen Anschlägen ruhig. Lass sie zusammensitzen und Ränke schmieden - er erlaubt nicht einmal seinen Gedanken, sich dadurch stören zu lassen. Wer sind denn diese Bösewichter, dass sie es fertig bringen sollten, einen treuen Knecht von seiner Pflicht, auf seinen Herrn und dessen Willen alle Gedanken zu richten, abwendig zu machen, oder den Auserkorenen Jehovahs auch nur für einen Augenblick in seiner trauten Gemeinschaft mit seinem Gott zu stören? All das pöbelhafte Lärmen seiner fürstlichen Feinde war es nicht wert, dass er auch nur fünf Minuten darüber nachgrübelte, wenn er diese fünf Minuten dem Sinnen über Gottes Rechte entziehen musste. Ein schönes Doppelbild fürwahr: dort die Versammlung der Fürsten, die sich zusammengesetzt haben, um sich wider den Psalmisten zu bereden, wie sie ihn stürzen können, und hier die traute Zusammenkunft des also Geschmähten und Angefeindeten mit seinem Gott. Still sitzt er über seiner Bibel, und seine ganze Antwort an seine Widersacher ist eben die, dass er ihnen keine Antwort gibt. Er denkt nur über die Rechte seines Herrn, sein Wort stärkt ihn, macht ihn friedfertig, und Gottes Gnade birgt ihn vor dem Hader der Zungen (Ps. 31,21).
Der aus dem Wort gezeuget
Und durch das Wort sich nährt
Und vor dem Wort ich beuget
Und mit dem Wort ich wehrt.
In dem entsprechenden Vers der vorigen Gruppe hatte er den Vorsatz ausgesprochen: Ich will sinnen über deine Befehle. Hier zeigt er, wie er diesen Vorsatz ausführt, selbst unter Umständen, die ihn in schwere Versuchung bringen müssen, ihn zu verlassen. Es ist ein trefflich Ding, wenn wir Entschlüsse, die in frohen Stunden gefasst sind, auch in Zeiten der Trübsal getreulich halten.
Gottes Rechte sind seine Rechtsentscheidungen in den Dingen, über welche die Menschen sonst im Zweifel sein könnten. Jedes Gebot Gottes ist ein Rechtsspruch des höchsten Gerichtshofes über eine Frage des Handelns, eine unfehlbare und unabänderliche Entscheidung über eine sittliche oder geistliche Frage. Gottes Wort ist ein Gesetzbuch, von dem es keine Berufung gibt. Wo es spricht, hat jedes "Ich meine, ich denke" des Menschen ein Ende; vor ihm soll aller Streit, aber auch jeder Zweifel verstummen.
Der Psalmist hatte solche Ehrfurcht vor dem Worte Gottes, solch ein Verlangen, es recht kennen zu lernen und ihm ähnlich zu werden, dass seine Sehnsucht ihm schier das Herz brach, und das macht er hier vor Gott geltend in heißem Flehen. Inbrunst des Verlangens ist die Seele des Gebetslebens, und wenn das Verlangen so stark wird, dass die Seele fast davon aufgerieben wird, dann kann der ersehnte Segen nicht lange ausbleiben. Die allerinnigste Gemeinschaft zwischen der Seele und ihrem Gott wird eben durch den in unserem Vers geschilderten Vorgang herbeigeführt: Gott offenbart seinen Willen, und unser Herz sehnt sich, sich damit in Übereinstimmung zu sehen. Gott gibt seinen Richterspruch ab, und unser Herz freut sich seiner Entscheidung. Das ist die allerwirklichste und vollkommenste Herzens-Gemeinschaft.
Beachten wir, dass unser Verlangen nach Gottes Rechten ein dauerndes sein soll; wir sollen nach ihnen verlangen allezeit. Begehrnisse, die man wie ein Kleid an- oder ablegen kann, sind im besten Fall bloße Wünsche und verdienen vielleicht selbst diesen Namen kaum; sie sind zeitweilige Gefühlsbewegungen, aus der Aufregung geboren und ihrer Natur nach dazu bestimmt, zu ersterben, wenn die Hitze, die sie erzeugt hat, sich abkühlt. Nur wer zu jeder Zeit sich sehnt, das, was recht ist, zu erkennen und zu tun, ist ein wahrhaft rechtschaffener Mann. Sein Urteil ist gesund, denn er liebt alle Rechtsurteile Gottes und befolgt sie mit Beständigkeit. Seine Zeit wird stets gute Zeit sein, da er allezeit gut zu sein und gut zu handeln verlangt.
An diesen vierten Vers des dritten Abschnittes klingt der vierte Vers des vierten Abschnittes (V. 28) auffallend an: Meine Seele ist zermalmt - mein Herz (meine Seele, Grundt) verschmachtet. Es unterliegt für uns keinem Zweifel, dass der Dichter mit Absicht die Verse vielfach so kunstvoll verkettet hat, und wir dürfen nicht achtlos an etwas vorübergehen, worauf der Psalmist so viel Sorgfalt verwendete.
21. Du schiltst die Stolzen; verflucht sind, die von deinen Geboten abirren. Dies ist eine von Gottes Rechtsordnungen: er lässt sicher schreckliche Gerichte ergehen über die Hochmütigen. Den stolzen Pharao strafte er mit schweren Plagen, und am Schilfmeer "ward des Erdbodens Grund aufgedeckt von deinem Schelten, HERR" (Ps. 18,16). An den übermütigen Ägyptern stellte er für alle Stolzen ein warnendes Beispiel auf, dass er sie erniedrigen werde. Verfluchte Übermütige nennt sie der Psalmist (nach den masoretischen Satzzeichen, während Luther die Versglieder hier nach der LXX abteilt). Ja, die Stolzen stehen unter einem Fluch; niemand segnet sie, und sich selbst werden sie auch bald zur Last, denn der Hochmut ist an sich schon eine Plage und Qual. Selbst wenn Gottes Gesetz keinen ausdrücklichen Fluch auf den Stolz legte, so scheint es schon ein Naturgesetz zu sein, dass die Hochmütigen unglückliche Menschen sind. Darum verabscheut David den Stolz; er fürchtet das Schelten Gottes und den Fluch des Gesetzes. Die stolzen Sünder seiner Zeit waren zugleich auch seine Feinde; da war er froh, dass Gott ebenso wie er mit ihnen im Streit lag.
Die von deinen Geboten abirren: das sind eben die Stolzen. Nur demütige Herzen sind gehorsam; denn nur sie unterwerfen sich der Ordnung und Autorität. Der Stolze trägt die Augen viel zu hoch, als dass er auf seine Füße achten und des HERRN Weg einhalten könnte. Der Hochmut liegt am Grunde jeder Sünde verborgen; wären die Menschen nicht vermessen, so würden sie es auch nicht wagen, ungehorsam zu sein.
Gott schilt die Hoffart, wenn auch die Menge ihr huldigt; denn er sieht darin Auflehnung gegen seine göttliche Majestät und erkennt darin zugleich den bösen Samen, aus dem immer mehr Empörung und Ungehorsam hervorkeimen werden. Der Hochmut ist in der Tat der Gipfel der Sünde. Man spricht wohl auch von einem rechten, ehrenhaften Stolz; wenn die Leute aber nicht voreingenommen wären, würden sie bald einsehen, dass der Stolz von allen Sünden die am wenigsten ehrenhafte ist und diejenige, die dem Geschöpfe, zumal dem gefallenen Geschöpfe, am schlechtesten ansteht. Aber so wenig Ahnung haben die Hochmütigen davon, wie es wirklich um sie steht, dass nämlich der Fluch Gottes über ihnen hängt, dass sie sich sogar anmaßen, die Frommen zu tadeln und ihrer Verachtung gegen sie höhnend Ausdruck zu geben, wie wir im nächsten Vers sehen. Sie sind selber verächtlich, und doch benehmen sie sich verachtungsvoll gegen die, die besser sind als sie. Wir mögen die Rechte Gottes wohl lieb gewinnen, wenn wir sehen, wie entschieden sie sich gegen die eingebildeten Emporkömmlinge wenden, die so gerne über die Gottesfürchtigen die Nase rümpfen und den Herren spielen. Und wir dürfen bei dem Schelten der Gottlosen getrosten Mutes sein, da ihre Macht, uns zu kränken und zu schaden, durch den HERRN vereitelt werden wird. "Der HERR schelte dich!" (Judas V. 9), das genügt als Antwort auf alle die Anklagen, die Menschen oder Teufel gegen Gottes Knechte vorbringen mögen.
In dem fünften Vers der vorhergehenden Gruppe (V. 13) hatte der Psalmist gesagt: Ich will mit meinen Lippen erzählen alle Rechte deines Mundes. Hier, V. 21, führt er ein besonderes Beispiel von den Rechten oder Gerichten Gottes an, nämlich das Recht, das Gott an den Hoffärtigen ausübt. In den entsprechenden Versen der nächsten beiden Gruppen (V. 29.37) wird er vom Weg der Lüge und von dem Sehen nach dem Eitlen handeln, zwei Übel, die mit dem Hochmut des Menschenherzen aufs innigste zusammenhängen.
22. Wende (oder wälze ab) von mir Schmach und Verachtung. Das sind gar peinliche Dinge für empfindsame Gemüter. Der Psalmist konnte sie ertragen um der Gerechtigkeit willen, aber ein schweres Joch, eine drückende Last waren sie, und er sehnte sich sehr, davon befreit zu werden. Verleumdet zu werden und dann um der üblen Nachrede willen Verachtung erdulden zu müssen ist eine schwere Prüfung. Niemand wird gerne das Opfer von Schmähungen, nicht einmal stille Verachtung können wir ohne Seelenqual erdulden. Wer spricht: "Ich kümmere mich nicht darum, was die Leute von mir denken oder sagen", ist kein kluger Mann, denn der weise Salomo sagt: Ein guter Ruf ist besser denn gute Salbe (Pred. 7,1). Es ist die beste Art und Weise, gegen die Verleumdung vorzugehen, wenn wir darüber beten; dann wird Gott uns entweder von den Schmähungen befreien, indem er sie verstummen lässt, oder aber ihnen den Stachel nehmen. Unsere eigenen Versuche, uns von ihnen zu reinigen, misslingen meistens; es geht uns da wie dem Schulknaben, der den Tintenfleck aus seinem Hefte entfernen will und damit, dass er darin herumpfuscht, die Sache zehnmal schlimmer macht. Haben wir unter unverdienter Schmähung zu leiden, so ist es besser, die Sache im Gebet vor den HERRN zu bringen, als dass wir damit vor Gericht gehen oder von dem Erdichter der Lügen auch nur eine Entschuldigung und Rechtfertigung unserer Ehre verlangen. O ihr, die ihr gekränkt und verlästert werdet, bringt eure Klagen doch vor dem allerhöchsten Gerichtshof vor und lasst sie dort in den Händen des Richters aller Welt. Gott wird eure hochmütigen Verkläger schelten; seid ihr nur stille und überlasst es eurem Verteidiger, eure Sache zu verfechten.
Denn ich halte deine Zeugnisse. Die Unschuld kann mit Recht begehren, dass sie von der Schmach gerechtfertigt, die Verachtung von ihr genommen werde. Wenn in den Anklagen, die man gegen uns schleudert, Wahrheit ist, freilich, womit könnten wir dann Gott bestürmen, uns zu rechtfertigen? Werden wir aber ungerecht geschmäht, so steht unsere Berufung auf unerschütterlichem Grunde und kann nicht abgewiesen werden. Wenn wir aus Furcht, der Schmach bei Menschen zu verfallen, Gottes Zeugnisse verleugnen, dann verdienen wir es, dem Verdammungsurteil zu verfallen, das den Feiglingen droht (Off. 21,8); unsere Bewahrung liegt darin, dass wir mit ganzer Treue festhalten an dem, was recht und wahr ist. Gott bewahrt die, die seine Zeugnisse bewahren. Ein gutes Gewissen bietet die beste Gewähr für einen guten Namen. Keine Schmach wird an denen haften bleiben, die mit Christo verbunden sind, und alle Verachtung der Menschen wird sich in Ehre bei Gott verwandeln für die, die Gottes Wort und Willen ehren.
Dieser Vers entspricht nach Inhalt und Stellung dem sechsten und klingt mit seinem Stichwort "Zeugnisse" an V. 14 an.
23. Es sitzen auch (die) Fürsten und reden wider mich. David war ein edles Wild, darum waren es auch vornehme Jäger, die auf ihn Jagd machten. Fürsten erkannten an ihm eine Größe, die sie mit Neid erfüllte; deshalb suchten sie ihn durch Schmähreden zu verkleinern. Sie hätten auf ihren Thronen wohl an Besseres denken, über Besseres reden können; aber sie verwandelten den königlichen Richtstuhl in einen Sitz der Spötter (Ps. 1,1). Die meisten Menschen bemühen sich eifrig um ein freundliches Wort eines Fürsten, und von einem der Großen auf Erden geschmäht zu werden ist ihnen ein bitterer Kummer; aber der Psalmist trug diese Prüfung mit heiliger Gelassenheit. Viele der Vornehmen waren ihm feind und machten es sich zur Aufgabe, ihn zu stürzen. Sie hielten ein Femegericht über ihn, veranstalteten regelrechte Verleumdungssitzungen und Lügenverschwörungen gegen ihn; aber er überlebte alle ihre Angriffe.
Aber dein Knecht sinnt über deine Rechte. (Grundtext, vergl. V. 15) Das war tapfer und treu! Er ist Gottes Knecht, darum kümmert er sich um die Angelegenheiten seines Herrn; deshalb ist er aber auch gewiss, dass sein Herr für ihn eintreten wird. So kehrte er sich nicht an seine Verleumder, ob sie auch Fürsten waren, und blieb bei all ihren feindlichen Anschlägen ruhig. Lass sie zusammensitzen und Ränke schmieden - er erlaubt nicht einmal seinen Gedanken, sich dadurch stören zu lassen. Wer sind denn diese Bösewichter, dass sie es fertig bringen sollten, einen treuen Knecht von seiner Pflicht, auf seinen Herrn und dessen Willen alle Gedanken zu richten, abwendig zu machen, oder den Auserkorenen Jehovahs auch nur für einen Augenblick in seiner trauten Gemeinschaft mit seinem Gott zu stören? All das pöbelhafte Lärmen seiner fürstlichen Feinde war es nicht wert, dass er auch nur fünf Minuten darüber nachgrübelte, wenn er diese fünf Minuten dem Sinnen über Gottes Rechte entziehen musste. Ein schönes Doppelbild fürwahr: dort die Versammlung der Fürsten, die sich zusammengesetzt haben, um sich wider den Psalmisten zu bereden, wie sie ihn stürzen können, und hier die traute Zusammenkunft des also Geschmähten und Angefeindeten mit seinem Gott. Still sitzt er über seiner Bibel, und seine ganze Antwort an seine Widersacher ist eben die, dass er ihnen keine Antwort gibt. Er denkt nur über die Rechte seines Herrn, sein Wort stärkt ihn, macht ihn friedfertig, und Gottes Gnade birgt ihn vor dem Hader der Zungen (Ps. 31,21).
Der aus dem Wort gezeuget
Und durch das Wort sich nährt
Und vor dem Wort ich beuget
Und mit dem Wort ich wehrt.
In dem entsprechenden Vers der vorigen Gruppe hatte er den Vorsatz ausgesprochen: Ich will sinnen über deine Befehle. Hier zeigt er, wie er diesen Vorsatz ausführt, selbst unter Umständen, die ihn in schwere Versuchung bringen müssen, ihn zu verlassen. Es ist ein trefflich Ding, wenn wir Entschlüsse, die in frohen Stunden gefasst sind, auch in Zeiten der Trübsal getreulich halten.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
24. Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen, die sind meine Ratsleute. Sie waren ihm also nicht nur Gegenstand des Nachdenkens, sondern auch eine Quelle des Ergötzens und ein Mittel sicherer Führung in seinen schweren Verlegenheiten. Während seine Feinde miteinander ratschlagten, suchte der Gottesmann Rat in dem Worte Gottes, das ihm den Willen seines Herrn bezeugte. Mit all ihrem Lärmen brachten die Vogler es doch nicht fertig, den Vogel aus seinem Nest zu vertreiben. Sie hatten ihre Lust daran, ihn zu verlästern und anzufeinden, er aber am Sinnen über Gottes Willenserklärungen. Die Worte des HERRN dienen uns auf vielerlei Weise: Sind wir bekümmert, so bereiten sie uns Ergötzung, und bringen Schwierigkeiten uns in Verlegenheit, so finden wir in ihnen Rat; sie bieten uns Lust der edelsten Art und zugleich die höchste Weisheit. Wollen wir aber Trost und Freude in der Schrift finden, so müssen wir uns ihren Weisungen, ihrem Rat unterwerfen, und wenn wir tun, was sie uns anrät, so soll das nicht widerwillig, sondern mit Lust geschehen. Das ist die sicherste Art sich zu verhalten, wenn wir es mit Leuten zu tun haben, die sich uns zu verderben verschwören. Lasst uns den wahren Zeugnissen des HERRN mehr Beachtung zuwenden als den falschen Zeugnissen unserer Widersacher. Die beste Antwort auf die Anklagen der Fürsten, die sich wider uns setzen, ist doch das Wort des Königs, wenn dies Wort uns rechtfertigt.
Im 16. Vers sagte der Psalmist. Ich will an deinen Rechten meine Lust haben, und hier spricht er: Ich habe meine Lust an deinen Zeugnissen. So kommen Entschlüsse, die in Gottes Kraft gefasst werden, zum Fruchttragen, und was zunächst nur ein durch den Geist gewirktes Sehnen war, wird zum tatsächlichen Besitz und zur eingewurzelten Eigenschaft. Mögen das alle Leser dieser Zeilen an sich selbst erfahren.
Erläuterungen und Kernworte
V. 17-24. Das achtfache g (G): Gottes Wort zu halten, das ist sein Lebenszweck; er will es in Furcht vor dem Fluch des Abfalls, will es, auch wenn er deshalb verfolgt wird.
17. Gütig zeig dich deinem Knechte, dass ich lebe,
So will ich beobachten dein Wort.
18. Gib offene Augen, damit ich erblicke
Wunderdinge aus deinem Gesetze.
19. Gast bin ich auf dieser Erde,
Verbirg nicht vor mir deine Gebote.
20. Ganz zermalmt ist meine Seele in Sehnsucht
Nach deinen Rechten allezeit.
21. Gedroht hast du den Übermütigen,
Verflucht sind, die von deinen Geboten abirren.
22. Gehöhn und Schimpf ziehe hinweg von mir,
Denn deine Zeugnisse beachte ich.
23. Ggleichviel ob Fürsten sitzen, sich wider mich bereden,
Dein Knecht sinnt über deine Satzungen.
24. Gleichwohl sind deine Zeugnisse mein Ergötzen,
Die sind meine Ratsleute.
Nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.
V. 17. Deinem Knecht. Dass er sich so häufig als einen Knecht Gottes bezeichnet, zeigt die Ehrfurcht, die er Gott gegenüber empfindet; er sieht es für ehrenvoller an, ein Knecht Gottes zu heißen, als der König eines mächtigen, alten, berühmten Volkes. Und wenn sogar die Engel Gottes Diener genannt werden, sollten Menschen es für eine Erniedrigung halten, Gott zu dienen? Zumal da er in seiner unerschöpflichen Güte jene in unseren Dienst gestellt hat, als dienstbare Geister für uns arme Menschen, sollten wir ihm da nicht unserseits freudig dienen, der alle Geschöpfe zu unserem Dienst bestimmt hat, und uns allein von der Verpflichtung ausgenommen hat, anderen Wesen dienstbar zu sein und allein für sich unsere Dienste verlangt? William Cowper † 1619.
Ein treuer Knecht hält sich für seine früheren Dienste reichlich belohnt, wenn ihn sein Herr noch weiter in einem Dienste verwenden will; in diesem Sinne bittet auch der Psalmist, dass er leben möge, um Gottes Wort ferner zu halten. David Dickson † 1662.
Auf dass ich lebe und dein Wort halte. Dies beides gehört zusammen. Dem Menschen, der in Empörung gegen seinen Herrn und Schöpfer lebt, wäre es besser, dass er nie geboren wäre. Je kürzer sein Leben, umso weniger Gelegenheit für ihn zu sündigen. Für den Erwählten Gottes aber ist das Leben eine große Gnadenerweisung. Je länger er lebt, umso mehr Gutes wirkt er, zur Ehre Gottes, zur Erbauung seiner Mitmenschen, wie zur Befestigung seiner eigenen Heiligung durch fortwährendes Ringen und Überwinden in allen Versuchungen, durch Beharren bis ans Ende. William Cowper † 1619.
V. 18. Öffne mir die Augen. Wer mag die Geheimnisse der Schrift erforschen und in ihre verborgenen Tiefen eindringen, wenn ihm nicht Christus die Augen öffnet? Sicherlich niemand, denn niemand kennt den Vater denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren. Darum nahen wir zu ihm mit der Bitte: Öffne du mir die Augen. Wir können Gottes Wort nicht halten (V. 17), wenn wir es nicht kennen, und wir können es nicht kennen, wenn uns nicht die Augen geöffnet sind. Paulus Palanterius 1600.
Öffne mir die Augen. "Was willst du, dass ich dir tun soll," das war die Frage voll erbarmender Liebe, die der Herr an jenen Unglücklichen richtete. "Herr, dass ich sehen möge," war die sofort bereite Antwort. An denselben barmherzigen, liebenden Herrn wendet sich hier der Psalmist und fleht: Öffne mir die Augen. Und wir fühlen bei dieser wie der vorhergehenden Bitte sofort, welcher Geist sie eingegeben hat. Barton Bouchier † 1865.
Gottes Heilige beklagen sich nicht über die Dunkelheit des Gesetzes, sondern über ihre eigene Blindheit. So sagt auch der Psalmist nicht: HERR, gib uns ein klareres Gesetz, sondern: HERR, öffne mir die Augen. Oder dürften etwa die Blinden Gott anklagen, dass er nicht eine Sonne geschaffen, in deren Licht sie auch sehen könnten? Gottes Wort ist ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort (2. Petr. 1,19). In der Schrift fehlt es nicht an Licht, auf unseren Herzen aber liegt ein dichter Schleier; wenn wir trotz dieses hellen Lichtes nicht zu sehen vermögen, so liegt der Fehler nicht am Wort, sondern an uns selbst. Das Licht, das die Gottseligen begehren, ist nicht etwas neben dem Worte. Die Leute, die ihre eigenen Träume als Offenbarungen des Geistes ausgeben, bieten uns nicht Mysterien, sondern Monstrositäten, zeigen uns nicht die Wunderdinge Gottes, sondern Wunderlichkeiten ihres eigenen Hirns, unglückliche Fehlgeburten, die sterben, sobald sie ans Licht kommen. "Zur Gotteslehre und zum Zeugnis! Wenn sie nicht in dieses Wort einstimmen, sind sie solche ohne Morgenrot." (Jes. 8,20.) - Die wörtliche Übersetzung der Bitte würde lauten: Entschleiere meine Augen, nimm die Hülle von ihnen weg. Die Art, wie der blinde Saulus wieder sehend wurde, ist ein treffendes Bild unserer eigenen Heilung von der geistlichen Blindheit: Alsbald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend (Apg. 9,18). Thomas Manton † 1677.
Der HERR hat den Gläubigen des Alten Bundes ja auch je und je neue Offenbarungen gegeben, je nachdem es nötig und seinen Ratschlüssen gemäß war. Der Psalmist aber bittet hier nicht um ein Mehreres, sondern dass er das recht verstehe und verwenden könne, was er bereits in Gottes Wort besitzt. Und uns, den Christen des Neuen Bundes, geziemt diese Bitte noch viel mehr. Es ist für uns von der größten Wichtigkeit, dass uns diese Wahrheit so recht zum Bewusstsein komme, dass es noch so vieles in der Bibel zu erforschen gibt, und dass uns, wenn wir im rechten Geiste an sie herantreten, manches davon erschlossen werden mag. Um diese verborgenen Schätze zu heben, bedarf es aber nicht sowohl besonderer Gelehrsamkeit, obwohl diese keineswegs zu verachten ist, als vielmehr geistliches Sehvermögen, ein demütiges, liebeerfülltes Herz. Soviel wenigstens ist gewiss, dass wir stets Dinge finden werden, die uns neu sind. Mögen wir auch noch so oft diese Gefilde durchstreifen, immer werden wir auf einen neuen Schatz stoßen, der uns entgegen leuchtet, und werden erstaunt sein, wahrzunehmen, wie unsere Augen früher gehalten waren, dies nicht zu sehen, und doch war es immer da und wartete auf uns, und wir ahnen, dass da noch viel mehr unserer Entdeckung harrt. - Auch das ist der Beachtung wert, dass der Psalmdichter nicht um eine neue Fähigkeit bittet. Die Augen sind da, sie bedürfen nur, dass sie geöffnet, dass sie von der auf ihnen liegenden Hülle befreit werden. Nicht die Verleihung einer neuen, übernatürlichen Macht ist nötig, um einen Menschen zu befähigen, die Bibel mit Nutzen zu lesen, sondern die Belebung und Entbindung einer Fähigkeit, die er bereits besitzt. Von einem Gesichtspunkt aus betrachtet ist die Kraft allerdings übernatürlich, da Gott der Urheber der Erleuchtung ist und diese unmittelbar durch seinen Geist wirkt; in anderer Hinsicht jedoch ist sie natürlich, da sie durch die Fähigkeiten wirkt, die der Mensch schon hat. Darin liegt auch unsere Verantwortlichkeit. Niemand wächst in die Erkenntnis des göttlichen Wortes hinein, indem er müßig auf eine neue Gabe wartet, sondern indem er das, was Gott ihm bereits verliehen hat, fleißig benutzt und zugleich alle Hilfsmittel, die er erreichen kann, anwendet. Es gibt Menschen und Bücher, die vor andern Kraft haben, uns in geistlicher Einsicht zu fördern. Wir alle haben diese Kraft gefühlt durch geheimnisvolle Berührung mit einer gewissen Naturverwandtschaft, die sie zu unseren besten Helfern machte. Lasst uns solche Mittel brauchen, ohne uns von ihnen abhängig zu machen. Vor allem aber lasst uns unser ganzes Gemüt in geduldigem, liebendem Forschen dem Buche selber hingeben, und wo wir in irgendeinem wesentlichen Stück ratlos dastehen, wird Gott uns entweder einen Philippus zu Hilfe senden (Apg. 8) oder selbst uns unterweisen.
Doch nur dem, der sich mit Hingebung und Ausdauer ins Wort versenkt, wird Hilfe von oben gegeben. Gott könnte uns ja alle Erkenntnis durch bequeme Inspiration eingießen; aber nur durch ernstes Forschen wird die Erkenntnis wirkliches Eigentum der Seele. - Die Hauptursache, warum die Menschen die Kraft und Schönheit der Heiligen Schrift nicht empfinden, ist geistlicher Art. Sie sind nicht durchdrungen von der Wirklichkeit des einen großen Übels, das zu heilen die Bibel in die Welt gesandt ist, und haben keinen Geschmack für die Segnungen, die sie uns als Gabe darbietet. Das Starfell der Naturverderbnis ist auf ihren Augen, während sie lesen. Sie wandeln in Verfinsterung ihrer Gesinnung, in Entfremdung von dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, so in ihnen ist, durch die Blindheit ihres Herzens. (Eph. 4,18) Alle Fähigkeiten unserer Natur werden nie den rechten Schlüssel zur Bibel finden, bis die Gedanken der Sünde und der Erlösung ins Herz eingehen und als der Kern, als die Zentralgedanken der Heiligen Schrift erkannt werden. Das wirkt der Heilige Geist in unserem Herzen, und dann lesen wir das Buch im Sinne seines Urhebers. John Ker 1877.
Im 16. Vers sagte der Psalmist. Ich will an deinen Rechten meine Lust haben, und hier spricht er: Ich habe meine Lust an deinen Zeugnissen. So kommen Entschlüsse, die in Gottes Kraft gefasst werden, zum Fruchttragen, und was zunächst nur ein durch den Geist gewirktes Sehnen war, wird zum tatsächlichen Besitz und zur eingewurzelten Eigenschaft. Mögen das alle Leser dieser Zeilen an sich selbst erfahren.
Erläuterungen und Kernworte
V. 17-24. Das achtfache g (G): Gottes Wort zu halten, das ist sein Lebenszweck; er will es in Furcht vor dem Fluch des Abfalls, will es, auch wenn er deshalb verfolgt wird.
17. Gütig zeig dich deinem Knechte, dass ich lebe,
So will ich beobachten dein Wort.
18. Gib offene Augen, damit ich erblicke
Wunderdinge aus deinem Gesetze.
19. Gast bin ich auf dieser Erde,
Verbirg nicht vor mir deine Gebote.
20. Ganz zermalmt ist meine Seele in Sehnsucht
Nach deinen Rechten allezeit.
21. Gedroht hast du den Übermütigen,
Verflucht sind, die von deinen Geboten abirren.
22. Gehöhn und Schimpf ziehe hinweg von mir,
Denn deine Zeugnisse beachte ich.
23. Ggleichviel ob Fürsten sitzen, sich wider mich bereden,
Dein Knecht sinnt über deine Satzungen.
24. Gleichwohl sind deine Zeugnisse mein Ergötzen,
Die sind meine Ratsleute.
Nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.
V. 17. Deinem Knecht. Dass er sich so häufig als einen Knecht Gottes bezeichnet, zeigt die Ehrfurcht, die er Gott gegenüber empfindet; er sieht es für ehrenvoller an, ein Knecht Gottes zu heißen, als der König eines mächtigen, alten, berühmten Volkes. Und wenn sogar die Engel Gottes Diener genannt werden, sollten Menschen es für eine Erniedrigung halten, Gott zu dienen? Zumal da er in seiner unerschöpflichen Güte jene in unseren Dienst gestellt hat, als dienstbare Geister für uns arme Menschen, sollten wir ihm da nicht unserseits freudig dienen, der alle Geschöpfe zu unserem Dienst bestimmt hat, und uns allein von der Verpflichtung ausgenommen hat, anderen Wesen dienstbar zu sein und allein für sich unsere Dienste verlangt? William Cowper † 1619.
Ein treuer Knecht hält sich für seine früheren Dienste reichlich belohnt, wenn ihn sein Herr noch weiter in einem Dienste verwenden will; in diesem Sinne bittet auch der Psalmist, dass er leben möge, um Gottes Wort ferner zu halten. David Dickson † 1662.
Auf dass ich lebe und dein Wort halte. Dies beides gehört zusammen. Dem Menschen, der in Empörung gegen seinen Herrn und Schöpfer lebt, wäre es besser, dass er nie geboren wäre. Je kürzer sein Leben, umso weniger Gelegenheit für ihn zu sündigen. Für den Erwählten Gottes aber ist das Leben eine große Gnadenerweisung. Je länger er lebt, umso mehr Gutes wirkt er, zur Ehre Gottes, zur Erbauung seiner Mitmenschen, wie zur Befestigung seiner eigenen Heiligung durch fortwährendes Ringen und Überwinden in allen Versuchungen, durch Beharren bis ans Ende. William Cowper † 1619.
V. 18. Öffne mir die Augen. Wer mag die Geheimnisse der Schrift erforschen und in ihre verborgenen Tiefen eindringen, wenn ihm nicht Christus die Augen öffnet? Sicherlich niemand, denn niemand kennt den Vater denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren. Darum nahen wir zu ihm mit der Bitte: Öffne du mir die Augen. Wir können Gottes Wort nicht halten (V. 17), wenn wir es nicht kennen, und wir können es nicht kennen, wenn uns nicht die Augen geöffnet sind. Paulus Palanterius 1600.
Öffne mir die Augen. "Was willst du, dass ich dir tun soll," das war die Frage voll erbarmender Liebe, die der Herr an jenen Unglücklichen richtete. "Herr, dass ich sehen möge," war die sofort bereite Antwort. An denselben barmherzigen, liebenden Herrn wendet sich hier der Psalmist und fleht: Öffne mir die Augen. Und wir fühlen bei dieser wie der vorhergehenden Bitte sofort, welcher Geist sie eingegeben hat. Barton Bouchier † 1865.
Gottes Heilige beklagen sich nicht über die Dunkelheit des Gesetzes, sondern über ihre eigene Blindheit. So sagt auch der Psalmist nicht: HERR, gib uns ein klareres Gesetz, sondern: HERR, öffne mir die Augen. Oder dürften etwa die Blinden Gott anklagen, dass er nicht eine Sonne geschaffen, in deren Licht sie auch sehen könnten? Gottes Wort ist ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort (2. Petr. 1,19). In der Schrift fehlt es nicht an Licht, auf unseren Herzen aber liegt ein dichter Schleier; wenn wir trotz dieses hellen Lichtes nicht zu sehen vermögen, so liegt der Fehler nicht am Wort, sondern an uns selbst. Das Licht, das die Gottseligen begehren, ist nicht etwas neben dem Worte. Die Leute, die ihre eigenen Träume als Offenbarungen des Geistes ausgeben, bieten uns nicht Mysterien, sondern Monstrositäten, zeigen uns nicht die Wunderdinge Gottes, sondern Wunderlichkeiten ihres eigenen Hirns, unglückliche Fehlgeburten, die sterben, sobald sie ans Licht kommen. "Zur Gotteslehre und zum Zeugnis! Wenn sie nicht in dieses Wort einstimmen, sind sie solche ohne Morgenrot." (Jes. 8,20.) - Die wörtliche Übersetzung der Bitte würde lauten: Entschleiere meine Augen, nimm die Hülle von ihnen weg. Die Art, wie der blinde Saulus wieder sehend wurde, ist ein treffendes Bild unserer eigenen Heilung von der geistlichen Blindheit: Alsbald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend (Apg. 9,18). Thomas Manton † 1677.
Der HERR hat den Gläubigen des Alten Bundes ja auch je und je neue Offenbarungen gegeben, je nachdem es nötig und seinen Ratschlüssen gemäß war. Der Psalmist aber bittet hier nicht um ein Mehreres, sondern dass er das recht verstehe und verwenden könne, was er bereits in Gottes Wort besitzt. Und uns, den Christen des Neuen Bundes, geziemt diese Bitte noch viel mehr. Es ist für uns von der größten Wichtigkeit, dass uns diese Wahrheit so recht zum Bewusstsein komme, dass es noch so vieles in der Bibel zu erforschen gibt, und dass uns, wenn wir im rechten Geiste an sie herantreten, manches davon erschlossen werden mag. Um diese verborgenen Schätze zu heben, bedarf es aber nicht sowohl besonderer Gelehrsamkeit, obwohl diese keineswegs zu verachten ist, als vielmehr geistliches Sehvermögen, ein demütiges, liebeerfülltes Herz. Soviel wenigstens ist gewiss, dass wir stets Dinge finden werden, die uns neu sind. Mögen wir auch noch so oft diese Gefilde durchstreifen, immer werden wir auf einen neuen Schatz stoßen, der uns entgegen leuchtet, und werden erstaunt sein, wahrzunehmen, wie unsere Augen früher gehalten waren, dies nicht zu sehen, und doch war es immer da und wartete auf uns, und wir ahnen, dass da noch viel mehr unserer Entdeckung harrt. - Auch das ist der Beachtung wert, dass der Psalmdichter nicht um eine neue Fähigkeit bittet. Die Augen sind da, sie bedürfen nur, dass sie geöffnet, dass sie von der auf ihnen liegenden Hülle befreit werden. Nicht die Verleihung einer neuen, übernatürlichen Macht ist nötig, um einen Menschen zu befähigen, die Bibel mit Nutzen zu lesen, sondern die Belebung und Entbindung einer Fähigkeit, die er bereits besitzt. Von einem Gesichtspunkt aus betrachtet ist die Kraft allerdings übernatürlich, da Gott der Urheber der Erleuchtung ist und diese unmittelbar durch seinen Geist wirkt; in anderer Hinsicht jedoch ist sie natürlich, da sie durch die Fähigkeiten wirkt, die der Mensch schon hat. Darin liegt auch unsere Verantwortlichkeit. Niemand wächst in die Erkenntnis des göttlichen Wortes hinein, indem er müßig auf eine neue Gabe wartet, sondern indem er das, was Gott ihm bereits verliehen hat, fleißig benutzt und zugleich alle Hilfsmittel, die er erreichen kann, anwendet. Es gibt Menschen und Bücher, die vor andern Kraft haben, uns in geistlicher Einsicht zu fördern. Wir alle haben diese Kraft gefühlt durch geheimnisvolle Berührung mit einer gewissen Naturverwandtschaft, die sie zu unseren besten Helfern machte. Lasst uns solche Mittel brauchen, ohne uns von ihnen abhängig zu machen. Vor allem aber lasst uns unser ganzes Gemüt in geduldigem, liebendem Forschen dem Buche selber hingeben, und wo wir in irgendeinem wesentlichen Stück ratlos dastehen, wird Gott uns entweder einen Philippus zu Hilfe senden (Apg. 8) oder selbst uns unterweisen.
Doch nur dem, der sich mit Hingebung und Ausdauer ins Wort versenkt, wird Hilfe von oben gegeben. Gott könnte uns ja alle Erkenntnis durch bequeme Inspiration eingießen; aber nur durch ernstes Forschen wird die Erkenntnis wirkliches Eigentum der Seele. - Die Hauptursache, warum die Menschen die Kraft und Schönheit der Heiligen Schrift nicht empfinden, ist geistlicher Art. Sie sind nicht durchdrungen von der Wirklichkeit des einen großen Übels, das zu heilen die Bibel in die Welt gesandt ist, und haben keinen Geschmack für die Segnungen, die sie uns als Gabe darbietet. Das Starfell der Naturverderbnis ist auf ihren Augen, während sie lesen. Sie wandeln in Verfinsterung ihrer Gesinnung, in Entfremdung von dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, so in ihnen ist, durch die Blindheit ihres Herzens. (Eph. 4,18) Alle Fähigkeiten unserer Natur werden nie den rechten Schlüssel zur Bibel finden, bis die Gedanken der Sünde und der Erlösung ins Herz eingehen und als der Kern, als die Zentralgedanken der Heiligen Schrift erkannt werden. Das wirkt der Heilige Geist in unserem Herzen, und dann lesen wir das Buch im Sinne seines Urhebers. John Ker 1877.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
Erläuterungen und Kernworte
V. 18. Wunder. Das hebräische Wort wird häufig von den Wundertaten Gottes gebraucht. Warum begriffen die Israeliten die Wunder nicht, deren ihre Geschichte voll war? Mose erklärt es: Der HERR hat euch bis auf diesen heutigen Tag noch nicht gegeben ein Herz, das verständig wäre, und Augen, die da sehen, und Ohren, die da hören. (5. Mose 29,3) An den natürlichen Sinnen und Verstand gebrach es ihnen nicht; aber sie waren noch unwiedergeborene Menschen. Wunder ohne göttliche Gnade vermögen nicht die Augen zu öffnen; wohl aber Gnade ohne Wunder. - Wenn aber, laut Davids Bitte, die Wunder am Gesetz nicht geschaut werden können, ehe Gott die Augen dazu öffnet, wieviel weniger die Wunder am Evangelium. Das natürliche Licht lässt uns doch einiges am Gesetze schauen, aber nichts am Evangelium. Und viele, die einen Blick hatten für die Vorzüge des Gesetzes, haben für die Vorzüge des Evangeliums kein Auge gehabt, und sie deshalb verachtet und geleugnet, so lange bis Gott ihre Herzen öffnete, dass sie verstanden. Joseph Caryl † 1673.
Nicht das Fernrohr ist es, was das Funkeln und Schimmern der Sterne, die dem bloßen Auge nur als ferne Lichtpunkte erscheinen, in den fernen Himmelsräumen hervorruft; es ist nicht das Vergrößerungsglas, das eine ganze Welt von geschäftigen Kleinwesen in den engen Raum eines Wassertropfens einschließt oder den kaum sichtbaren Flügel eines zarten Kleinfalters mit leuchtenden Farben bemalt. Die Sterne leuchten seit Jahrtausenden in gleicher Pracht, und die winzigen Geschöpfe, die den Wassertropfen bevölkern, treiben ihr altgewohntes Wesen, und der reichste Schmuck leuchtet nach wie vor auf dem winzigen Schmetterlingsflügel, ob wir nun die Werkzeuge besitzen oder nicht, die unser Auge befähigen, den Weltraum zu durchdringen oder das Kleinste im kleinsten Raum zu erkennen. Ebenso ist es mit unserer Bibel, in ihr sind alle Wunder eingeschlossen, und der Geist, der sie zuerst verfasste, bringt sie dem einzelnen nicht als neue Offenbarungen entgegen, sondern indem er die Nebel menschlicher Vorurteile zerstreut, die Schuppen des Stolzes und der Selbstgerechtigkeit von den Augen fallen lässt, indem er den Willen zurechtbringt, der so oft dem Urteil verzerrte Bilder der Wahrheit vorgaukelt, indem er auch auf das Herz einwirkt, so dass seine Neigungen und Begierden nicht mehr das Verständnis trüben und blenden, - so und noch auf mancherlei Weise befähigt der Heilige Geist die Menschen, zu erkennen, was verborgen ist, leuchtende Schönheit, strahlende Herrlichkeit da zu schauen, wo vorher alles ohne Gestalt und Schöne erschienen war: die Augen sind geöffnet, dass sie sehen die Wunder an Gottes Gesetz. Henry Melvill † 1871.
Der Zweck der Heiligen Schrift ist in erster Linie ein hervorragend praktischer. Aber wie wir hier sehen, kommt sie dem angeborenen Sinn des Menschen für das Wunderbare, unserer Fähigkeit, uns zu wundern, entgegen, die wir schon bei unseren Kindern und bei allen Menschen, deren Empfinden noch frisch und ungekünstelt ist, wahrnehmen und die die Vorstufe der Wissbegierde ist. Es ist ein Beweis für die Göttlichkeit des Ursprungs der Heiligen Schrift, dass unser Schöpfer sie allen Seiten unserer Natur so genau angepasst hat. John Ker 1877.
V. 19. Ich bin ein Gast auf Erden. David hatte viel erfahren und erlebt, Krieg und Frieden, Reichtum und Armut, Freude und Leid. Er war ein einfacher Hirtenknabe gewesen und ein Krieger und Höfling und schließlich selbst ein mächtiger König; ein friedliches Gewerbe, ein blutiger Beruf, eine ehrenvolle, aber zugleich sehr, sehr abhängige Stellung, und zum Schlusse Ruhm und Macht unter den Völkern, aber welche Sorgen, welche Last und Unruhe! Dies alles hatte er durchgemacht, und wenn er auf sein Leben zurückblickte, so musste er gestehen, dass es am friedlichsten, am sorgenfreiesten gewesen war, als er noch mit dem Schäferstab seiner Herde voranschritt. Und aus diesen Erfahrungen heraus kommt er zu dem Bekenntnisse: Ich bin hienieden nicht zu Hause, bin auf Erden nur ein Gast, ein Fremdling. Mit diesen Worten gibt er ein Bild seines Lebenslaufes. Was er gesehen und erfahren, an Freudigem und Trübem, das alles hatte ihn nur in der Gewissheit immer mehr befestigen können, dass es hienieden nichts Gewisses, nichts Bleibendes gibt. Dies Bekenntnis aus dem Munde eines Mannes, der im Besitze alles dessen war, was das Leben nach den Begriffen der Menschen lebenswert macht, welch beredtes Zeugnis legt es ab von der Eitelkeit alles Irdischen, aber auch von dem Zug nach oben, der den Grundton aller biblischen Frömmigkeit bildet! Anth. Farindon † 1658.
Auf Erden. Der Psalmist spricht hier ganz allgemein. Die ganze Erde ist ihm die Fremde, die Stätte seiner Pilgerschaft. Nicht nur in den Tagen seiner Verbannung unter den Moabitern und Philistern fühlte David sich als Gast und Fremdling, sondern selbst dann, da er friedlich in der Heimat, in Kanaan, lebte. Ihn erfüllte dasselbe Empfinden wie Basilius, der den Gesandten des Kaisers Valens, die ihm mit Landesverweisung drohten, erwiderte: "Furcht vor Verbannung habe ich keine, denn ich kenne nur ein Vaterland des Menschen, das Paradies; die ganze Erde ist nur ein großer Verbannungsort für uns." Und das Bewusstsein, dass wir hier nur Gäste und Fremdlinge sind und binnen kurzem unseren Platz in unserem Hause, an unseren Tische, in unserem Bette anderen überlassen müssen, muss uns zu besonnenem Maßhalten in unseren Freuden mahnen. William Cowper † 1619.
V. 20. Meine Seele ist zermalmt usw. Es ist dies eine Beteuerung seines aufrichtigen Verlangens, dem Worte Gottes gehorsam zu sein. Was den Psalmisten bewegt, ist einmal kein leichtes, oberflächliches Gefühl; es wurzelt so tief in seinem Herzen, dass das Bewusstsein seines Unvermögens, sein Vollbringen mit seinem Wollen in Einklang zu bringen, ihm "die Seele zermalmt". Weiter aber ist es auch kein vorübergehendes, nur flüchtiges Gefühl, nicht wie ein Tau, der frühmorgens vergeht (Hos. 6,4), sondern ein dauerndes: allezeit. William Cowper † 1619.
Das Verlangen, die verborgenen Wunder am Gesetze zu erkennen, den Rechten des HERRN zu folgen, war fast bis zur Unerträglichkeit gestiegen, und es erfüllt ihn Tag und Nacht, allezeit, in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, in frohen und in traurigen Stunden, im Kreise der Freunde, im Drang der Berufsgeschäfte oder in stiller Einsamkeit, nichts vermochte es zu ersticken oder zu übertäuben. Wer mit rechtem Eifer die Wunder am Gesetze des HERRN verfolgt, wird nie in seinem Verlangen befriedigt werden, solange er ein Gast auf Erden ist. Erst wenn wir Ihm gleich sind und ihn sehen, wie er ist, wenn wir schauen sein Angesicht in Gerechtigkeit, werden wir ausrufen dürfen: Es ist genug, HERR. Wir werden erst satt werden, wenn wir erwachen, an deinem Bilde (Ps. 17,15). F. G. Marchant 1882.
Allezeit. Auch schlechte Menschen haben ihre frommen Augenblicke und Stimmungen, wie gute ihre schlimmen Augenblicke haben. Ein Gottloser mag auch einmal, wenn er die Gedanken nicht los werden kann, die sich untereinander anklagen und verfolgen, wenn er sich unter der göttlichen Zuchtrute krümmt, wenn er die Schrecken des Todes und der Hölle vor Augen hat, zum HERRN schreien um Gnade; aber nur der ist der wahrhaft Fromme, vom HERRN Gesegnete, nur dem gilt die Seligpreisung, der da allezeit hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit. Thomas Brooks † 1680.
Manche lernen das Wort erst lieb haben und schätzen, wenn sie im Unglück sind, wenn sie keinen anderen Trost haben, auf den sie sich verlassen können. Dann sind sie froh, dass sie das Wort haben, um sie in ihrer Not zu trösten. Wenn es ihnen aber gut geht, so missachten sie es. David aber hielt sich daran allezeit, im Glücke, um demütig zu bleiben, im Unglück, um den Mut nicht zu verlieren, dort, um ihn vor Übermut, hier, um ihn vor Verzweiflung zu bewahren. In den Zeiten der Anfechtung diente das Wort ihm als Herzstärkung, in Zeiten des irdischen Wohlbefindens als Beruhigungsmittel, und so wurde sein Herz um des einen oder anderen Bedürfnisses willen stets wieder zum Worte hingeführt. Thomas Manton † 1677.
Wie gering ist, selbst unter den aufrichtigen Knechten des HERRN, die Zahl derjenigen, die den vollen Umfang, die ganze Stärke der Inbrunst kennen, wie sie hier ihren Ausdruck findet. O HERR, mache du doch die toten, trägen Geister lebensvoll, zünde an die heilige Flamme deiner Gnade, damit wir erfasst und verzehrt werden von Sehnsucht und Verlangen nach deinen Rechten allezeit. Wie unbeständig, wie stoßweise treten selbst unsere besten Gefühle auf. Heute stehen wir, allem Irdischen entrückt, auf dem Berge der Verklärung in innigster Gemeinschaft mit unserem Herrn und Heiland, morgen sind wir in Gefahr, durch die Sorgen dieser Welt und den Betrug des Reichtums erstickt zu werden. Selig sind die, deren Herzen allezeit von Verlangen nach Vereinigung mit dem hohen, herrlichen Gegenstande der Liebe erfüllt sind. J. Morison 1829.
V. 21. Du schiltst die Stolzen; verflucht sind, die von deinen Geboten abirren. Schon die Heiden kannten eine Sage von den übermütigen Riesen, die Gottes Blitz vom Himmel zurück schleuderte. Und wenn Gott die Engel nicht verschonte, die er doch bis in den Himmel erhoben hatte, sondern sie um ihres Stolzes willen bis in die Hölle hinab stieß, wieviel weniger wird er die Hoffart des Staubgeborenen, den Stolz der Menschenkinder schonen, sondern sie von der Höhe ihrer eingebildeten Größe hinabschleudern in den tiefsten Pfuhl jenes Abgrundes. Demut macht die Menschen zu Engeln, aber Stolz macht Engel zu Teufeln.
)Alazonei/aj ou}tij e)kfeu/gei dikhn, sagt ein heidnischer Dichter (Keiner entgeht der Strafe des Stolzes).1 So gewiss es einen gerechten Gott gibt, so gewiss wird der Stolz nicht ungestraft bleiben. Ich weiß ja, dass wir alle jetzt am liebsten uns ein Becken kommen ließen, um uns die Hände zu waschen, und so unsere Schuldlosigkeit hinsichtlich dieser argen Sünde darzutun. Aber, meine Brüder, die Hoffart ist ein gar zähes Laster, sie bleibt fest an euch haften, so fest, dass ihr sie kaum werdet von eurem eigentlichsten Wesen trennen können, und dies eben macht sie so besonders gefährlich. Sehr treffend sagt Thomas von Aquino: Einige Sünden sind gefährlicher wegen der Heftigkeit ihrer Anfälle, wie die Sünde des Jähzorns, andere, weil sie unserer Natur so ganz besonders entsprechen, wie die Sünden der Lüste; andere wegen der Heimlichkeit ihres Auftretens in unseren Herzen, so die Sünde des Stolzes. Blicken wir doch einmal recht genau und gewissenhaft in alle Winkel und Falten unseres Herzens, das sich nur allzu gerne allerlei Täuschung und Betrug hingibt, durchleuchten wir es mit dem Lichte des göttlichen Gesetzes, und wir werden sicher diesen heimlichen bösen Geist entdecken; dann wollen wir aber auch nicht ruhen, bis wir ihn hinausgeworfen haben. Fort mit eurem stolzen Gefieder, ihr prahlerischen Pfauen, seht doch eure hässlichen schwarzen Füße und euer schlangenähnliches Haupt an, schämt euch eurer vielen Mängel und Schwachheiten, eurer nutzlosen Flügel, eurer hässlichen Stimme; sonst wird Gott euch demütigen mit schrecklicher Heimsuchung. Und auch der Heiligste ist nicht frei vom Stolz; demütigen wir uns selbst in ernstlicher Reue und Buße, damit wir nicht der ewigen Verdammnis anheimfallen, werfen wir uns auf unsere Knie, damit wir nicht ganz in den Staub geworfen werden, denn noch immer hat Gott sein Wort wahr gemacht: Die Hoffart des Menschen wird ihn stürzen. (Spr. 29,23). Bischof J. Hall † 1656.
Fußnote
1. Menander. Und welche Rolle spielt nicht die gottlose u{brij, die im Grunde nichts anderes als Übermut, Selbstüberhebung ist, bei den alten griechischen Dichtern. Es hätte vielleicht noch näher gelegen, diese statt des weniger bekannten Wortes und Namens anzuführen. E. R.
V. 18. Wunder. Das hebräische Wort wird häufig von den Wundertaten Gottes gebraucht. Warum begriffen die Israeliten die Wunder nicht, deren ihre Geschichte voll war? Mose erklärt es: Der HERR hat euch bis auf diesen heutigen Tag noch nicht gegeben ein Herz, das verständig wäre, und Augen, die da sehen, und Ohren, die da hören. (5. Mose 29,3) An den natürlichen Sinnen und Verstand gebrach es ihnen nicht; aber sie waren noch unwiedergeborene Menschen. Wunder ohne göttliche Gnade vermögen nicht die Augen zu öffnen; wohl aber Gnade ohne Wunder. - Wenn aber, laut Davids Bitte, die Wunder am Gesetz nicht geschaut werden können, ehe Gott die Augen dazu öffnet, wieviel weniger die Wunder am Evangelium. Das natürliche Licht lässt uns doch einiges am Gesetze schauen, aber nichts am Evangelium. Und viele, die einen Blick hatten für die Vorzüge des Gesetzes, haben für die Vorzüge des Evangeliums kein Auge gehabt, und sie deshalb verachtet und geleugnet, so lange bis Gott ihre Herzen öffnete, dass sie verstanden. Joseph Caryl † 1673.
Nicht das Fernrohr ist es, was das Funkeln und Schimmern der Sterne, die dem bloßen Auge nur als ferne Lichtpunkte erscheinen, in den fernen Himmelsräumen hervorruft; es ist nicht das Vergrößerungsglas, das eine ganze Welt von geschäftigen Kleinwesen in den engen Raum eines Wassertropfens einschließt oder den kaum sichtbaren Flügel eines zarten Kleinfalters mit leuchtenden Farben bemalt. Die Sterne leuchten seit Jahrtausenden in gleicher Pracht, und die winzigen Geschöpfe, die den Wassertropfen bevölkern, treiben ihr altgewohntes Wesen, und der reichste Schmuck leuchtet nach wie vor auf dem winzigen Schmetterlingsflügel, ob wir nun die Werkzeuge besitzen oder nicht, die unser Auge befähigen, den Weltraum zu durchdringen oder das Kleinste im kleinsten Raum zu erkennen. Ebenso ist es mit unserer Bibel, in ihr sind alle Wunder eingeschlossen, und der Geist, der sie zuerst verfasste, bringt sie dem einzelnen nicht als neue Offenbarungen entgegen, sondern indem er die Nebel menschlicher Vorurteile zerstreut, die Schuppen des Stolzes und der Selbstgerechtigkeit von den Augen fallen lässt, indem er den Willen zurechtbringt, der so oft dem Urteil verzerrte Bilder der Wahrheit vorgaukelt, indem er auch auf das Herz einwirkt, so dass seine Neigungen und Begierden nicht mehr das Verständnis trüben und blenden, - so und noch auf mancherlei Weise befähigt der Heilige Geist die Menschen, zu erkennen, was verborgen ist, leuchtende Schönheit, strahlende Herrlichkeit da zu schauen, wo vorher alles ohne Gestalt und Schöne erschienen war: die Augen sind geöffnet, dass sie sehen die Wunder an Gottes Gesetz. Henry Melvill † 1871.
Der Zweck der Heiligen Schrift ist in erster Linie ein hervorragend praktischer. Aber wie wir hier sehen, kommt sie dem angeborenen Sinn des Menschen für das Wunderbare, unserer Fähigkeit, uns zu wundern, entgegen, die wir schon bei unseren Kindern und bei allen Menschen, deren Empfinden noch frisch und ungekünstelt ist, wahrnehmen und die die Vorstufe der Wissbegierde ist. Es ist ein Beweis für die Göttlichkeit des Ursprungs der Heiligen Schrift, dass unser Schöpfer sie allen Seiten unserer Natur so genau angepasst hat. John Ker 1877.
V. 19. Ich bin ein Gast auf Erden. David hatte viel erfahren und erlebt, Krieg und Frieden, Reichtum und Armut, Freude und Leid. Er war ein einfacher Hirtenknabe gewesen und ein Krieger und Höfling und schließlich selbst ein mächtiger König; ein friedliches Gewerbe, ein blutiger Beruf, eine ehrenvolle, aber zugleich sehr, sehr abhängige Stellung, und zum Schlusse Ruhm und Macht unter den Völkern, aber welche Sorgen, welche Last und Unruhe! Dies alles hatte er durchgemacht, und wenn er auf sein Leben zurückblickte, so musste er gestehen, dass es am friedlichsten, am sorgenfreiesten gewesen war, als er noch mit dem Schäferstab seiner Herde voranschritt. Und aus diesen Erfahrungen heraus kommt er zu dem Bekenntnisse: Ich bin hienieden nicht zu Hause, bin auf Erden nur ein Gast, ein Fremdling. Mit diesen Worten gibt er ein Bild seines Lebenslaufes. Was er gesehen und erfahren, an Freudigem und Trübem, das alles hatte ihn nur in der Gewissheit immer mehr befestigen können, dass es hienieden nichts Gewisses, nichts Bleibendes gibt. Dies Bekenntnis aus dem Munde eines Mannes, der im Besitze alles dessen war, was das Leben nach den Begriffen der Menschen lebenswert macht, welch beredtes Zeugnis legt es ab von der Eitelkeit alles Irdischen, aber auch von dem Zug nach oben, der den Grundton aller biblischen Frömmigkeit bildet! Anth. Farindon † 1658.
Auf Erden. Der Psalmist spricht hier ganz allgemein. Die ganze Erde ist ihm die Fremde, die Stätte seiner Pilgerschaft. Nicht nur in den Tagen seiner Verbannung unter den Moabitern und Philistern fühlte David sich als Gast und Fremdling, sondern selbst dann, da er friedlich in der Heimat, in Kanaan, lebte. Ihn erfüllte dasselbe Empfinden wie Basilius, der den Gesandten des Kaisers Valens, die ihm mit Landesverweisung drohten, erwiderte: "Furcht vor Verbannung habe ich keine, denn ich kenne nur ein Vaterland des Menschen, das Paradies; die ganze Erde ist nur ein großer Verbannungsort für uns." Und das Bewusstsein, dass wir hier nur Gäste und Fremdlinge sind und binnen kurzem unseren Platz in unserem Hause, an unseren Tische, in unserem Bette anderen überlassen müssen, muss uns zu besonnenem Maßhalten in unseren Freuden mahnen. William Cowper † 1619.
V. 20. Meine Seele ist zermalmt usw. Es ist dies eine Beteuerung seines aufrichtigen Verlangens, dem Worte Gottes gehorsam zu sein. Was den Psalmisten bewegt, ist einmal kein leichtes, oberflächliches Gefühl; es wurzelt so tief in seinem Herzen, dass das Bewusstsein seines Unvermögens, sein Vollbringen mit seinem Wollen in Einklang zu bringen, ihm "die Seele zermalmt". Weiter aber ist es auch kein vorübergehendes, nur flüchtiges Gefühl, nicht wie ein Tau, der frühmorgens vergeht (Hos. 6,4), sondern ein dauerndes: allezeit. William Cowper † 1619.
Das Verlangen, die verborgenen Wunder am Gesetze zu erkennen, den Rechten des HERRN zu folgen, war fast bis zur Unerträglichkeit gestiegen, und es erfüllt ihn Tag und Nacht, allezeit, in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, in frohen und in traurigen Stunden, im Kreise der Freunde, im Drang der Berufsgeschäfte oder in stiller Einsamkeit, nichts vermochte es zu ersticken oder zu übertäuben. Wer mit rechtem Eifer die Wunder am Gesetze des HERRN verfolgt, wird nie in seinem Verlangen befriedigt werden, solange er ein Gast auf Erden ist. Erst wenn wir Ihm gleich sind und ihn sehen, wie er ist, wenn wir schauen sein Angesicht in Gerechtigkeit, werden wir ausrufen dürfen: Es ist genug, HERR. Wir werden erst satt werden, wenn wir erwachen, an deinem Bilde (Ps. 17,15). F. G. Marchant 1882.
Allezeit. Auch schlechte Menschen haben ihre frommen Augenblicke und Stimmungen, wie gute ihre schlimmen Augenblicke haben. Ein Gottloser mag auch einmal, wenn er die Gedanken nicht los werden kann, die sich untereinander anklagen und verfolgen, wenn er sich unter der göttlichen Zuchtrute krümmt, wenn er die Schrecken des Todes und der Hölle vor Augen hat, zum HERRN schreien um Gnade; aber nur der ist der wahrhaft Fromme, vom HERRN Gesegnete, nur dem gilt die Seligpreisung, der da allezeit hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit. Thomas Brooks † 1680.
Manche lernen das Wort erst lieb haben und schätzen, wenn sie im Unglück sind, wenn sie keinen anderen Trost haben, auf den sie sich verlassen können. Dann sind sie froh, dass sie das Wort haben, um sie in ihrer Not zu trösten. Wenn es ihnen aber gut geht, so missachten sie es. David aber hielt sich daran allezeit, im Glücke, um demütig zu bleiben, im Unglück, um den Mut nicht zu verlieren, dort, um ihn vor Übermut, hier, um ihn vor Verzweiflung zu bewahren. In den Zeiten der Anfechtung diente das Wort ihm als Herzstärkung, in Zeiten des irdischen Wohlbefindens als Beruhigungsmittel, und so wurde sein Herz um des einen oder anderen Bedürfnisses willen stets wieder zum Worte hingeführt. Thomas Manton † 1677.
Wie gering ist, selbst unter den aufrichtigen Knechten des HERRN, die Zahl derjenigen, die den vollen Umfang, die ganze Stärke der Inbrunst kennen, wie sie hier ihren Ausdruck findet. O HERR, mache du doch die toten, trägen Geister lebensvoll, zünde an die heilige Flamme deiner Gnade, damit wir erfasst und verzehrt werden von Sehnsucht und Verlangen nach deinen Rechten allezeit. Wie unbeständig, wie stoßweise treten selbst unsere besten Gefühle auf. Heute stehen wir, allem Irdischen entrückt, auf dem Berge der Verklärung in innigster Gemeinschaft mit unserem Herrn und Heiland, morgen sind wir in Gefahr, durch die Sorgen dieser Welt und den Betrug des Reichtums erstickt zu werden. Selig sind die, deren Herzen allezeit von Verlangen nach Vereinigung mit dem hohen, herrlichen Gegenstande der Liebe erfüllt sind. J. Morison 1829.
V. 21. Du schiltst die Stolzen; verflucht sind, die von deinen Geboten abirren. Schon die Heiden kannten eine Sage von den übermütigen Riesen, die Gottes Blitz vom Himmel zurück schleuderte. Und wenn Gott die Engel nicht verschonte, die er doch bis in den Himmel erhoben hatte, sondern sie um ihres Stolzes willen bis in die Hölle hinab stieß, wieviel weniger wird er die Hoffart des Staubgeborenen, den Stolz der Menschenkinder schonen, sondern sie von der Höhe ihrer eingebildeten Größe hinabschleudern in den tiefsten Pfuhl jenes Abgrundes. Demut macht die Menschen zu Engeln, aber Stolz macht Engel zu Teufeln.
)Alazonei/aj ou}tij e)kfeu/gei dikhn, sagt ein heidnischer Dichter (Keiner entgeht der Strafe des Stolzes).1 So gewiss es einen gerechten Gott gibt, so gewiss wird der Stolz nicht ungestraft bleiben. Ich weiß ja, dass wir alle jetzt am liebsten uns ein Becken kommen ließen, um uns die Hände zu waschen, und so unsere Schuldlosigkeit hinsichtlich dieser argen Sünde darzutun. Aber, meine Brüder, die Hoffart ist ein gar zähes Laster, sie bleibt fest an euch haften, so fest, dass ihr sie kaum werdet von eurem eigentlichsten Wesen trennen können, und dies eben macht sie so besonders gefährlich. Sehr treffend sagt Thomas von Aquino: Einige Sünden sind gefährlicher wegen der Heftigkeit ihrer Anfälle, wie die Sünde des Jähzorns, andere, weil sie unserer Natur so ganz besonders entsprechen, wie die Sünden der Lüste; andere wegen der Heimlichkeit ihres Auftretens in unseren Herzen, so die Sünde des Stolzes. Blicken wir doch einmal recht genau und gewissenhaft in alle Winkel und Falten unseres Herzens, das sich nur allzu gerne allerlei Täuschung und Betrug hingibt, durchleuchten wir es mit dem Lichte des göttlichen Gesetzes, und wir werden sicher diesen heimlichen bösen Geist entdecken; dann wollen wir aber auch nicht ruhen, bis wir ihn hinausgeworfen haben. Fort mit eurem stolzen Gefieder, ihr prahlerischen Pfauen, seht doch eure hässlichen schwarzen Füße und euer schlangenähnliches Haupt an, schämt euch eurer vielen Mängel und Schwachheiten, eurer nutzlosen Flügel, eurer hässlichen Stimme; sonst wird Gott euch demütigen mit schrecklicher Heimsuchung. Und auch der Heiligste ist nicht frei vom Stolz; demütigen wir uns selbst in ernstlicher Reue und Buße, damit wir nicht der ewigen Verdammnis anheimfallen, werfen wir uns auf unsere Knie, damit wir nicht ganz in den Staub geworfen werden, denn noch immer hat Gott sein Wort wahr gemacht: Die Hoffart des Menschen wird ihn stürzen. (Spr. 29,23). Bischof J. Hall † 1656.
Fußnote
1. Menander. Und welche Rolle spielt nicht die gottlose u{brij, die im Grunde nichts anderes als Übermut, Selbstüberhebung ist, bei den alten griechischen Dichtern. Es hätte vielleicht noch näher gelegen, diese statt des weniger bekannten Wortes und Namens anzuführen. E. R.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
Erläuterungen und Kernworte
V. 21. Das Schicksal Kains, Pharaos, Hamans, Nebukadnezars, Herodes’ zeigt uns, wie der HERR mit den Stolzen verfährt, wie er sie schilt, sie verflucht. Ihre Personen, ihre Opfer sind ihm verhasst, er kennt sie von ferne (Ps. 138,6), er widersteht ihnen (Jak. 4,6), er zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn (Lk. 1,51). Ganz besonders aber sind sie ein Gräuel in seinen Augen, wenn sie im Gewande der Frömmigkeit auftreten, wenn sie sprechen: Halte dich fern und rühre mich nicht an, denn ich bin heilig (d. h. unnahbar) für dich. Solche sollen ein Rauch werden in meinem Zorn, ein Feuer, das den ganzen Tag brenne. (Jes. 65,5) David und Hiskia sind lehrreiche Beispiele der Geschichte, dass selbst Gottes Knechte, wenn sie den Regungen ihres stolzen Herzens nachgeben, nicht meinen dürfen, dem Zorne des HERRN zu entrinnen. Du, Gott, vergabst ihnen, doch du straftest ihr Tun (Ps. 99,8). Charles Bridges † 1869.
David gibt hier noch einen anderen Grund an, weshalb er mehr entbrannt ist, Gott zu suchen und sich an ihn zu wenden, um in seinem Worte unterwiesen zu werden, nämlich wenn er sieht, wie er die Stolzen gescholten hat; denn die Züchtigungen, die Gott über die Ungläubigen und Widerspenstigen verhängt, sollen uns als ebenso viele Unterweisungen und Lehren dienen, wie geschrieben steht: Wo des HERRN Gerichte im Lande gehen, da lernen die Bewohner des Erdbodens Gerechtigkeit (Jes. 26,9). Der Prophet hat nicht ohne guten Grund so geredet, denn er will uns damit bedeuten, dass Gott uns durch viele Mittel zu sich zieht, besonders wenn er uns lehrt, seine Majestät zu fürchten. Denn ohne dies, ach, würden wir alsbald zu wilden Tieren werden, wenn Gott uns die Zügel auf dem Halse liegen ließe. Welche Ungebundenheit würde jeder von uns für sich in Anspruch nehmen, wie wir es in unserer Erfahrung sehen. Nun aber, da Gott sieht, dass die Menschen so leicht zu verführen sind, so schickt er ihnen Beispiele, damit sie veranlasst werden, in Furcht und sorgfältig zu wandeln. Jean Calvin † 1564.
Petrus entwirft von den Stolzen ein Bild als von Aufrührern, die wider Gott streiten, ihn zum Kampfe herausfordern und ihn seiner Herrschaft berauben möchten, wie Korah, Dathan und Abiram sich wider Mose auflehnten. Denn so gedachtest du in deinem Herzen: Ich will in den Himmel steigen und meinen Stuhl über die Sterne Gottes erhöhen, ich will gleich sein dem Allerhöchsten (Jes. 14,13.14), ja, wenn es möglich wäre, noch über dem Allerhöchsten. Das ist das aus Staub und Erde gebildete Geschöpf, das, sobald es geschaffen war, sich gegen die Majestät Gottes auflehnte, vor der doch die Engel anbetend im Staube liegen, die die Throne und Fürstentümer verehren, vor dem die Teufel zittern, dem die Himmel gehorsam sind. Vom Stolze kann man sagen: Viele Sünden halten sich schändlich, aber du übertriffst sie alle. Der seinen Bruder hasst, der Verschwender, der Wollüstige, der Schlemmer und Prasser, der Faule, diese alle sind vielmehr ihre eigenen Feinde, der Stolze aber lehnt sich wider den HERRN auf, er setzt sich Gott gleich, denn er tut alles ohne ihn, er bittet ihn nicht um seinen Beistand; er erhebt sich über Gott, indem er seinen eigenen Willen, auch wenn er mit dem Willen Gottes in Widerspruch steht, durchsetzen will. Der Stolze spricht: Nicht deinem Namen, sondern uns gib Ehre. Und es geht ihm wie dem Herodes, der sich einen Gott nennen ließ und dem göttliche Ehren von allen erwiesen wurden, von allen, nur von den Würmern nicht; diese zeigten, dass er eben doch kein Gott, sondern nur ein armseliges Menschenkind war. Darum können die Stolzen in ganz besonderem Sinne Gottes Feinde genannt werden; denn wie der Habgierige die Menschen ihrer Güter beraubt, so der Stolze Gott seiner Ehre. Die anderen Sünder haben wenigstens noch einen Grund für ihre Sünde; beim Habgierigen sind es die Reichtümer, beim Ehrgeizigen sind es die irdischen Ehren, beim Lüsternen die Freuden aller Art, beim Trägen die Bequemlichkeit. Der Stolze aber hat keine solche Ursache, die außer ihm liegt, es ist eben einfach sein Stolz, der da spricht, wie Pharao sprach: Ich will nichts vom HERRN wissen und will nicht gehorchen. Henry Smith † 1591.
Die Stolzen haben unter besonderem Fluche zu leiden, dem Fluche, ganz ohne Freunde zu sein, sowohl im Glück, denn dann kennen sie niemand, als im Unglück, denn dann kennt niemand sie. J. Whitecroß 1858.
V. 23. Es sitzen auch Fürsten und reden wider mich. Das war eine harte Prüfung für David, dass man ihn nicht nur in Schenken verspottete und verhöhnte, dass er nicht nur dort durch die schlechten Scherze von Wüstlingen lächerlich gemacht wurde und man auf den Märkten und in den Gassen davon sprach, sondern dass er noch dazu am Sitze der Gerechtigkeit, der doch heilig sein sollte, von Grund auf verunehrt wurde, dass man ihn wie einen bösartigen und verfluchten Menschen verdammte. Da nun David sieht, dass er so ungerecht behandelt wird, bringt er seine Klage vor den HERRN, indem er sagt: HERR, selbst die Fürsten und Obersten haben sich zusammengesetzt, um gegen mich Pläne zu schmieden; aber doch habe ich nicht nachgelassen, mich mit deinen Rechten zu beschäftigen. So haben wir in Summa aus dieser Stelle zu lernen, dass wir, wenn wir auf geradem Wege, in gutem Gewissen gewandelt sind und wir fälschlich verleumdet werden, wenn wir dieser oder jener Sache beschuldigt werden, an die wir niemals gedacht haben, dann das alles geduldig ertragen sollen; denn wir sind nicht besser als David, wir mögen noch so sehr unsere Unschuld beteuern. Jean Calvin † 1564.
Es ist schon schwer genug, wenn der Gottesfürchtige von Gottlosen geplagt wird, aber noch viel schwerer, wenn er von angesehenen, vornehmen Leuten bedrängt ist. Einmal so wegen ihrer Stellung. Je einflussreicher sie sind, desto größere Gefahr bringt es, ihr Missvergnügen zu erregen. Darum sagt auch Salomo: Des Königs Grimm ist ein Bote des Todes (Spr. 16,14). Dann, weil Obrigkeiten und Gewaltige von Gott verordnet sind, nicht den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten (Röm. 13,3), darum bereitet es den Frommen keinen geringen Schmerz, wenn sie sehen müssen, wie deren Macht zu bösem Zwecke missbraucht wird dass, wo ein Gewalthaber für die Guten sein sollte, wie der Regen auf die Aue, wie die Tropfen, die das Land feuchten (Ps. 72,6), er zu einem Gönner der Bösen, zu einem Verfolger der Frommen wird. Dann wird da Recht in Wermut verkehrt, und das, was den Gottesfürchtigen ein Trost sein soll, wird dazu missbraucht, sie zu bedrücken. Darum muss es als eine besondere Gnade von Gott angesehen werden, wenn er einem Volke gute und fromme Obrigkeit gibt. William Cowper † 1619.
Aber dein Knecht redet von deinen Rechten. Wie der Landmann, dessen Land überflutet wird, Gräben zieht, Teiche gräbt, um das Wasser abzuleiten, so ist es, wenn unser Gemüt von Anfechtungen und Trübsalen überwältigt wird, gut, ihm Ablenkung zu anderen Gegenständen zu verschaffen. Aber nicht jede Ablenkung ziemt Gottes Heiligen, es muss eine heilige Ablenkung sein. Ich hatte viel Kümmernisse in meinem Herzen, aber deine Tröstungen ergötzten meine Seele (Ps. 94,19). Das ist ganz derselbe Fall wie in unserem Texte, wo der schädliche Stuhl das Gesetz übel deutet (Ps. 94,20), da hatte er viel Bekümmernisse wegen des Missbrauchs der Gewalt gegen sich. Wo aber fand er Trost? Hätte jede Ablenkung seinen Zwecken entsprochen? Nein. Deine Tröstungen, Tröstungen mit göttlicher Genehmigung, aus göttlicher Veranlassung, das sind die rechten Tröstungen für Gottesfürchtige. Thomas Manton † 1677.
Die Waffen, mit denen David seinen Feind bekämpft, die einzigen Waffen des Frommen, mit denen er alle Anläufe des Widersachers abwehrt, sind das Wort und das Gebet. Er gibt nicht Vorwurf gegen Vorwurf, Scheltwort gegen Scheltwort. Es ist sehr gefährlich, Satan und seine Helfer mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, denn da werden sie uns leicht überwinden. Lasst uns mit den Waffen Gottes kämpfen, Wort und Gebet fleißig handhaben; denn man kann getrost in seinem Kämmerlein bleiben und im Vertrauen auf diese beiden den kläglichen Ausgang aller derer erwarten, welche um des HERRN willen Widersacher seiner Kinder sind. William Cowper † 1619.
V. 24. Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen, die sind meine Ratsleute. Wir alle wissen, wie herrlich es ist, in den verschiedenen Verlegenheiten und Schwierigkeiten, die das Leben bringt, den Segen eines treuen Ratgebers genießen zu dürfen. Das Herz freut sich an Salbe und Räucherwerk, aber ein Freund ist lieblich um Rats willen der Seele, sagt Salomo
(Spr. 27,9). Hier aber ist noch mehr, hier ist die Süßigkeit der Freundschaft, der Gemeinschaft mit Gott, der Versenkung in sein Wort. Hier findet der Mensch stets den jeder Lage angemessenen Rat, und das ist eine große Erquickung für uns. Th. Horton † 1673.
Meine Ratsleute, buchstäblich: Die Männer meines Rates. Eine sehr passende Bezeichnung, da er vorher von Fürsten gesprochen, die zusammen saßen im Rate wider ihn. Fürsten unternehmen nichts, ohne vorher die Ansicht ihres geheimen Rates gehört zu haben. Ein Kind Gottes aber hat auch seinen geheimen Rat, nämlich Gottes Zeugnisse. Auf der einen Seite stand Saul mit seinen Vornehmen und Räten, auf der anderen Seite David und Gottes Zeugnisse. Wer, meint ihr, war wohl besser beraten, jene zum Verfolgen und Beunruhigen oder David, um ihren Anschlägen zu begegnen? Der König Alphons von Arragonien meinte, die besten Ratgeber seien die Toten (damit meinte er die Bücher), da sie nicht schmeichelten, sondern unparteiisch die Wahrheit sagten. Ein Gottesfürchtiger, mag er noch so arm, noch so verlassen sein, ohne menschlichen Beistand in seinen Bedrängnissen, hat doch sein Ratskollegium, seinen Staatsrat um sich, die Propheten und Apostel und die anderen heiligen Männer Gottes, die da geredet haben, getrieben von dem Heiligen Geiste. Ein so ausgerüsteter Mensch ist niemals weniger verlassen als wenn er allein ist, denn dann vernimmt er die Stimmen seiner Ratsleute, die ihm sagen, was er glauben, was er tun soll. Und sie sind unfehlbare Ratsleute, unerbittlich aufrichtig, sie schmeicheln nicht, wo er im Unrecht ist, sie entmutigen nicht, machen nicht bedenklich, wo er auf rechtem Wege ist, auch wenn dabei allerlei Gefahren drohen. Wahrlich, wenn wir klug sein wollen, so wählen wir uns die Ratsleute, von denen in unserem Vers gesagt ist. Thomas Manton † 1677.
V. 21. Das Schicksal Kains, Pharaos, Hamans, Nebukadnezars, Herodes’ zeigt uns, wie der HERR mit den Stolzen verfährt, wie er sie schilt, sie verflucht. Ihre Personen, ihre Opfer sind ihm verhasst, er kennt sie von ferne (Ps. 138,6), er widersteht ihnen (Jak. 4,6), er zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn (Lk. 1,51). Ganz besonders aber sind sie ein Gräuel in seinen Augen, wenn sie im Gewande der Frömmigkeit auftreten, wenn sie sprechen: Halte dich fern und rühre mich nicht an, denn ich bin heilig (d. h. unnahbar) für dich. Solche sollen ein Rauch werden in meinem Zorn, ein Feuer, das den ganzen Tag brenne. (Jes. 65,5) David und Hiskia sind lehrreiche Beispiele der Geschichte, dass selbst Gottes Knechte, wenn sie den Regungen ihres stolzen Herzens nachgeben, nicht meinen dürfen, dem Zorne des HERRN zu entrinnen. Du, Gott, vergabst ihnen, doch du straftest ihr Tun (Ps. 99,8). Charles Bridges † 1869.
David gibt hier noch einen anderen Grund an, weshalb er mehr entbrannt ist, Gott zu suchen und sich an ihn zu wenden, um in seinem Worte unterwiesen zu werden, nämlich wenn er sieht, wie er die Stolzen gescholten hat; denn die Züchtigungen, die Gott über die Ungläubigen und Widerspenstigen verhängt, sollen uns als ebenso viele Unterweisungen und Lehren dienen, wie geschrieben steht: Wo des HERRN Gerichte im Lande gehen, da lernen die Bewohner des Erdbodens Gerechtigkeit (Jes. 26,9). Der Prophet hat nicht ohne guten Grund so geredet, denn er will uns damit bedeuten, dass Gott uns durch viele Mittel zu sich zieht, besonders wenn er uns lehrt, seine Majestät zu fürchten. Denn ohne dies, ach, würden wir alsbald zu wilden Tieren werden, wenn Gott uns die Zügel auf dem Halse liegen ließe. Welche Ungebundenheit würde jeder von uns für sich in Anspruch nehmen, wie wir es in unserer Erfahrung sehen. Nun aber, da Gott sieht, dass die Menschen so leicht zu verführen sind, so schickt er ihnen Beispiele, damit sie veranlasst werden, in Furcht und sorgfältig zu wandeln. Jean Calvin † 1564.
Petrus entwirft von den Stolzen ein Bild als von Aufrührern, die wider Gott streiten, ihn zum Kampfe herausfordern und ihn seiner Herrschaft berauben möchten, wie Korah, Dathan und Abiram sich wider Mose auflehnten. Denn so gedachtest du in deinem Herzen: Ich will in den Himmel steigen und meinen Stuhl über die Sterne Gottes erhöhen, ich will gleich sein dem Allerhöchsten (Jes. 14,13.14), ja, wenn es möglich wäre, noch über dem Allerhöchsten. Das ist das aus Staub und Erde gebildete Geschöpf, das, sobald es geschaffen war, sich gegen die Majestät Gottes auflehnte, vor der doch die Engel anbetend im Staube liegen, die die Throne und Fürstentümer verehren, vor dem die Teufel zittern, dem die Himmel gehorsam sind. Vom Stolze kann man sagen: Viele Sünden halten sich schändlich, aber du übertriffst sie alle. Der seinen Bruder hasst, der Verschwender, der Wollüstige, der Schlemmer und Prasser, der Faule, diese alle sind vielmehr ihre eigenen Feinde, der Stolze aber lehnt sich wider den HERRN auf, er setzt sich Gott gleich, denn er tut alles ohne ihn, er bittet ihn nicht um seinen Beistand; er erhebt sich über Gott, indem er seinen eigenen Willen, auch wenn er mit dem Willen Gottes in Widerspruch steht, durchsetzen will. Der Stolze spricht: Nicht deinem Namen, sondern uns gib Ehre. Und es geht ihm wie dem Herodes, der sich einen Gott nennen ließ und dem göttliche Ehren von allen erwiesen wurden, von allen, nur von den Würmern nicht; diese zeigten, dass er eben doch kein Gott, sondern nur ein armseliges Menschenkind war. Darum können die Stolzen in ganz besonderem Sinne Gottes Feinde genannt werden; denn wie der Habgierige die Menschen ihrer Güter beraubt, so der Stolze Gott seiner Ehre. Die anderen Sünder haben wenigstens noch einen Grund für ihre Sünde; beim Habgierigen sind es die Reichtümer, beim Ehrgeizigen sind es die irdischen Ehren, beim Lüsternen die Freuden aller Art, beim Trägen die Bequemlichkeit. Der Stolze aber hat keine solche Ursache, die außer ihm liegt, es ist eben einfach sein Stolz, der da spricht, wie Pharao sprach: Ich will nichts vom HERRN wissen und will nicht gehorchen. Henry Smith † 1591.
Die Stolzen haben unter besonderem Fluche zu leiden, dem Fluche, ganz ohne Freunde zu sein, sowohl im Glück, denn dann kennen sie niemand, als im Unglück, denn dann kennt niemand sie. J. Whitecroß 1858.
V. 23. Es sitzen auch Fürsten und reden wider mich. Das war eine harte Prüfung für David, dass man ihn nicht nur in Schenken verspottete und verhöhnte, dass er nicht nur dort durch die schlechten Scherze von Wüstlingen lächerlich gemacht wurde und man auf den Märkten und in den Gassen davon sprach, sondern dass er noch dazu am Sitze der Gerechtigkeit, der doch heilig sein sollte, von Grund auf verunehrt wurde, dass man ihn wie einen bösartigen und verfluchten Menschen verdammte. Da nun David sieht, dass er so ungerecht behandelt wird, bringt er seine Klage vor den HERRN, indem er sagt: HERR, selbst die Fürsten und Obersten haben sich zusammengesetzt, um gegen mich Pläne zu schmieden; aber doch habe ich nicht nachgelassen, mich mit deinen Rechten zu beschäftigen. So haben wir in Summa aus dieser Stelle zu lernen, dass wir, wenn wir auf geradem Wege, in gutem Gewissen gewandelt sind und wir fälschlich verleumdet werden, wenn wir dieser oder jener Sache beschuldigt werden, an die wir niemals gedacht haben, dann das alles geduldig ertragen sollen; denn wir sind nicht besser als David, wir mögen noch so sehr unsere Unschuld beteuern. Jean Calvin † 1564.
Es ist schon schwer genug, wenn der Gottesfürchtige von Gottlosen geplagt wird, aber noch viel schwerer, wenn er von angesehenen, vornehmen Leuten bedrängt ist. Einmal so wegen ihrer Stellung. Je einflussreicher sie sind, desto größere Gefahr bringt es, ihr Missvergnügen zu erregen. Darum sagt auch Salomo: Des Königs Grimm ist ein Bote des Todes (Spr. 16,14). Dann, weil Obrigkeiten und Gewaltige von Gott verordnet sind, nicht den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten (Röm. 13,3), darum bereitet es den Frommen keinen geringen Schmerz, wenn sie sehen müssen, wie deren Macht zu bösem Zwecke missbraucht wird dass, wo ein Gewalthaber für die Guten sein sollte, wie der Regen auf die Aue, wie die Tropfen, die das Land feuchten (Ps. 72,6), er zu einem Gönner der Bösen, zu einem Verfolger der Frommen wird. Dann wird da Recht in Wermut verkehrt, und das, was den Gottesfürchtigen ein Trost sein soll, wird dazu missbraucht, sie zu bedrücken. Darum muss es als eine besondere Gnade von Gott angesehen werden, wenn er einem Volke gute und fromme Obrigkeit gibt. William Cowper † 1619.
Aber dein Knecht redet von deinen Rechten. Wie der Landmann, dessen Land überflutet wird, Gräben zieht, Teiche gräbt, um das Wasser abzuleiten, so ist es, wenn unser Gemüt von Anfechtungen und Trübsalen überwältigt wird, gut, ihm Ablenkung zu anderen Gegenständen zu verschaffen. Aber nicht jede Ablenkung ziemt Gottes Heiligen, es muss eine heilige Ablenkung sein. Ich hatte viel Kümmernisse in meinem Herzen, aber deine Tröstungen ergötzten meine Seele (Ps. 94,19). Das ist ganz derselbe Fall wie in unserem Texte, wo der schädliche Stuhl das Gesetz übel deutet (Ps. 94,20), da hatte er viel Bekümmernisse wegen des Missbrauchs der Gewalt gegen sich. Wo aber fand er Trost? Hätte jede Ablenkung seinen Zwecken entsprochen? Nein. Deine Tröstungen, Tröstungen mit göttlicher Genehmigung, aus göttlicher Veranlassung, das sind die rechten Tröstungen für Gottesfürchtige. Thomas Manton † 1677.
Die Waffen, mit denen David seinen Feind bekämpft, die einzigen Waffen des Frommen, mit denen er alle Anläufe des Widersachers abwehrt, sind das Wort und das Gebet. Er gibt nicht Vorwurf gegen Vorwurf, Scheltwort gegen Scheltwort. Es ist sehr gefährlich, Satan und seine Helfer mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, denn da werden sie uns leicht überwinden. Lasst uns mit den Waffen Gottes kämpfen, Wort und Gebet fleißig handhaben; denn man kann getrost in seinem Kämmerlein bleiben und im Vertrauen auf diese beiden den kläglichen Ausgang aller derer erwarten, welche um des HERRN willen Widersacher seiner Kinder sind. William Cowper † 1619.
V. 24. Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen, die sind meine Ratsleute. Wir alle wissen, wie herrlich es ist, in den verschiedenen Verlegenheiten und Schwierigkeiten, die das Leben bringt, den Segen eines treuen Ratgebers genießen zu dürfen. Das Herz freut sich an Salbe und Räucherwerk, aber ein Freund ist lieblich um Rats willen der Seele, sagt Salomo
(Spr. 27,9). Hier aber ist noch mehr, hier ist die Süßigkeit der Freundschaft, der Gemeinschaft mit Gott, der Versenkung in sein Wort. Hier findet der Mensch stets den jeder Lage angemessenen Rat, und das ist eine große Erquickung für uns. Th. Horton † 1673.
Meine Ratsleute, buchstäblich: Die Männer meines Rates. Eine sehr passende Bezeichnung, da er vorher von Fürsten gesprochen, die zusammen saßen im Rate wider ihn. Fürsten unternehmen nichts, ohne vorher die Ansicht ihres geheimen Rates gehört zu haben. Ein Kind Gottes aber hat auch seinen geheimen Rat, nämlich Gottes Zeugnisse. Auf der einen Seite stand Saul mit seinen Vornehmen und Räten, auf der anderen Seite David und Gottes Zeugnisse. Wer, meint ihr, war wohl besser beraten, jene zum Verfolgen und Beunruhigen oder David, um ihren Anschlägen zu begegnen? Der König Alphons von Arragonien meinte, die besten Ratgeber seien die Toten (damit meinte er die Bücher), da sie nicht schmeichelten, sondern unparteiisch die Wahrheit sagten. Ein Gottesfürchtiger, mag er noch so arm, noch so verlassen sein, ohne menschlichen Beistand in seinen Bedrängnissen, hat doch sein Ratskollegium, seinen Staatsrat um sich, die Propheten und Apostel und die anderen heiligen Männer Gottes, die da geredet haben, getrieben von dem Heiligen Geiste. Ein so ausgerüsteter Mensch ist niemals weniger verlassen als wenn er allein ist, denn dann vernimmt er die Stimmen seiner Ratsleute, die ihm sagen, was er glauben, was er tun soll. Und sie sind unfehlbare Ratsleute, unerbittlich aufrichtig, sie schmeicheln nicht, wo er im Unrecht ist, sie entmutigen nicht, machen nicht bedenklich, wo er auf rechtem Wege ist, auch wenn dabei allerlei Gefahren drohen. Wahrlich, wenn wir klug sein wollen, so wählen wir uns die Ratsleute, von denen in unserem Vers gesagt ist. Thomas Manton † 1677.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
25.
Meine Seele liegt im Staube;
erquicke mich nach deinem Wort.
26.
Ich erzähle meine Wege, und du erhörst mich;
lehre mich deine Rechte.
27.
Unterweise mich den Weg deiner Befehle,
so will ich reden von deinen Wundern.
28.
Ich gräme mich, da mir das Herz verschmachtet;
stärke mich nach deinem Wort.
29.
Wende von mir den falschen Weg
und gönne mir dein Gesetz.
30.
Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt;
deine Rechte hab ich vor mich gestellt.
31.
Ich hange an deinen Zeugnissen;
HERR, lass mich nicht zu Schanden werden!
32.
Wenn du mein Herz tröstest,
so laufe ich den Weg deiner Gebote.
In diesen Versen finden wir den Psalmisten in tiefer Bekümmernis. Was er beklagt, ist, so dünkt uns, sein Gebundensein an die Dinge dieser Erde, die sein Gemüt gefangen halten. Seine Seele liegt im Staube, sie verschmachtet vor Kummer und schreit nach Befreiung aus ihrem geistlichen Gefängnis. Wir werden in diesen Versen aber auch wahrnehmen, welchen Einfluss das göttliche Wort auf ein Herz ausübt, das seine Neigung, am Niederen zu haften, beklagt und von Trauer erfüllt ist über die abstumpfende, ertötende Wirkung der Erdenwelt, von der es umgeben ist. Das Wort des HERRN erweckt den Psalmisten zu ernstem Flehen (V. 25-29), bestärkt ihn in der entscheidenden Wahl, die er getroffen (V. 30) und haucht ihm freudigen Mut ein zu erneuertem Entschluss (V. 32). Es bewährt sich in allen Nöten, des Leibes wie der Seele, als die sicherste Hilfe.
25. Meine Seele liegt im Staube, wörtlich (Luther 1524) klebt am Staube. Zum Teil will er damit wohl sagen, dass er voll Kummers sei; im Morgenlande pflegten die Trauernden ja Asche auf ihr Haupt zu streuen und im Staub und Schutt zu sitzen. Der Psalmist hatte die Empfindung, als hingen diese Stoffe, die Zeichen des Leides, ihm unlöslich an, als müsste seine Seele immer am Staube kleben bleiben, weil er sich ganz ohnmächtig fühlte, sich über seinen Kummer zu erheben. Liegt in den Worten nicht auch, dass er sich sterbensmatt fühlte, ganz dem Tode nahe? War ihm nicht, als werde sein Leben schon von dem Grabe angezogen und festgehalten, als sei er schon halb erstickt in des Todes Staub? Vielleicht tun wir den Worten nicht Gewalt an, wenn uns dünkt, dass er auch seine irdische Gesinnung und seine geistliche an Erstorbenheit grenzende Stumpfheit hier beklage. Er spürte in seiner Seele einen fast unwiderstehlichen Zug nach unten, zur Erde und ihrem Staube, und das ist ihm ein schweres Leid. Was immer die Veranlassung zu seinen Klagen gewesen sein mag, es war jedenfalls kein oberflächliches, geringfügiges Übel, sondern etwas, das sein Innerstes schwer angriff - seine Seele lag im Staube; und es handelte sich nicht um ein zufälliges, gelegentliches Straucheln und Fallen, von dem man alsbald wieder aufsteht, sondern um eine beständige und mächtige Neigung, um ein Kleben am irdischen Staube. Doch wie gut, dass der hier Redende das Böse, das in solchem Hang zum Niederen liegt, so tief empfinden und aufrichtig beklagen konnte. Der Same der Schlange mag im Staube seine Nahrung finden, nie aber wird des Weibes Same sich so tief erniedrigen. Viele sind von der Erde und irdisch (1. Kor. 15,47), ohne dass es ihnen je in den Sinn kommt, darüber zu klagen; nur der himmlisch Geborene und darum auch himmelan Strebende seufzt unter dem niederdrückenden Bewusstsein, an diese Erdenwelt gefesselt zu sein und gleich einem armen Vögelein an den Leimruten irdischer Sorgen oder Lüste zu kleben.
Erquicke mich nach deinem Wort. Erquicken bedeutet ursprünglich neu beleben, und in diesem noch nicht abgeschwächten Sinne gebraucht Luther das Wort. Neue Lebenskraft ist die beste Arznei für alles, was uns fehlt und quält; diese Arznei aber vermag der HERR allein zu geben. Doch er kann es, kann es jetzt, sofort, und er braucht dazu nicht von dem gewöhnlichen Wege seiner Gnadenerweisungen abzuweichen, den wir in der Heiligen Schrift vorgezeichnet finden, sondern braucht nur nach seinem Wort zu handeln. Es ist gut, wenn wir wissen, worum wir zu beten haben. Man könnte meinen, David würde vor allem um Trost oder um Aufrichtung gefleht haben; aber er wusste, dass die ganz von selbst aus erfrischter Lebenskraft kommen würden, darum suchte er diejenige Segnung, die die Wurzel aller anderen ist. Ist jemand im Gemüt gedrückt, schwach und tief zum Erdboden niedergebeugt, so ist die Hauptsache, dass ihm das Lebensmark gestärkt werde; sobald vermehrte Lebenskraft ihn durchströmt, wird auch sein Mut wieder angefacht und seine Körperhaltung aufrecht. Durch Neubelebung wird der ganze Mensch alsbald ein anderer. Den Staub von sich abschütteln, das ist an sich eine geringfügige Sache; geschieht es aber von einem, der vordem wie tot am Boden lag, nun aber neu belebt sich aus dem Staub erhebt, so ist es etwas unschätzbar Großes.
Wer achtete es nicht schon als eine kostbare Wohltat, wenn als Folge der Genesung nach schwerem Siechtum eine fröhliche, heitere Stimmung über ihn kommt? Wenn der Psalmdichter bittet: Belebe mich nach deinem Wort, so will er damit wohl sagen: nach der in deinem Wort geoffenbarten Weise, wie du deine Auserwählten mit neuem Lebensgeiste zu erfüllen pflegst. Das Wort Gottes zeigt uns, dass der, der uns geschaffen hat, uns auch am Leben erhalten muss, und es redet uns von dem Geiste Gottes, der durch die Gnadenmittel neues Leben in unsere Seelen einströmen lässt. So bitten wir denn den HERRN, dass er nach dieser seiner gewohnten Weise, seine Gnade zu erzeigen, an uns handle. Vielleicht dachte der Psalmdichter auch an des HERRN Wort 5. Mose 32,39, wo Jehovah für sich allein die Macht in Anspruch nimmt, sowohl zu töten als lebendig zu machen, und fleht er darum zu Gott, seine Leben spendende Kraft an ihm, seinem fast in den letzten Zügen liegenden Knechte, zu erweisen.
Gewiss ist, dass der Mann Gottes, der hier redet, lange nicht so viele reiche Verheißungen hatte, auf die er sich berufen konnte, wie wir sie haben; aber schon ein einziges Wort genügte ihm, mit ganzer Inbrunst in den HERRN zu dringen: Tue nach deinem Wort! Wahrlich, es ist etwas Großes, was wir hier sehen - ein Gläubiger, der im Staube liegt und dennoch dem HERRN seine Verheißungen vorhält, ein Mann, der schon fast im Rachen des Grabes ist und doch ruft: "HERR, mache mich lebendig!" und fest glaubt, dass es geschehen werde!
Beachten wir, wie dieser erste Vers der vierten Gruppe zu dem ersten der dritten Gruppe passt. "Tue wohl deinem Knechte, dass ich lebe", bat er dort, und hier: "Belebe mich." In jenem Abschnitt befand er sich in froherer Stimmung, in glücklicheren Umständen; doch wusste er sein Leben ganz von Gottes freigebiger Güte abhängig. Hier, wo er tief am Boden liegt, fleht er um Erquickung, um Neubelebung. Leben aber ist in beiden Lagen sein Begehren, Leben überhaupt und neue Lebenskraft und Lebensfreudigkeit.
26. Ich erzählte (Grundtext) meine Wege. Ein offenes Bekenntnis ist der Seele heilsam. Nichts gibt einem Menschen größere Erleichterung und ist so geeignet, zu neuem Lebensmut und frischer Kraft zu führen, als das freimütige Anerkennen des Bösen, das die Ursache des Kummers und der todesähnlichen Betäubung ist, in die wir geraten waren. Solche offene Darlegung beweist, dass der Betreffende seinen wahren Zustand kennt und nicht mehr vom Hochmut verblendet ist. Unsere Geständnisse haben nicht den Zweck, Gott, sondern uns selbst über unsere Sünden aufzuklären. Und du erhörtest mich.(Grundtext) Sein Bekenntnis ward gnädig angenommen. Es war, so viel Schmerz es ihm bereitet haben mochte, nicht vergeblich; Gott war ihm dadurch nahe gekommen. Wir sollten uns nie von unseren Knien erheben, bis wir die Gewissheit haben, dass unser Flehen zu Gottes Ohr gedrungen ist. Auf bußfertiges Bekennen folgt Vergebung, und der Psalmist wusste, dass sie ihm zuteil geworden.
Lehre mich deine Rechte. Da ihm seine Vergehungen aufrichtig Leid tun und er volle Vergebung erhalten hat, liegt es ihm nun am Herzen, ferneres Übertreten zu vermeiden; darum bittet er, dass Gott ihn Gehorsam lehre. Er scheute davor zurück, aus Unwissenheit zu sündigen; er begehrte in allen Stücken Gottes Sinn und Willen zu wissen, und wünschte darin von dem besten Lehrmeister unterwiesen zu werden. Er sehnte sich nach Heiligkeit. Wer wirklich die Rechtfertigung aus Gnaden erlangt hat, der hat auch das Verlangen, geheiligt zu werden. Wenn Gott uns unsere Sünden vergibt, so fürchten wir uns umso mehr davor, aufs Neue zu sündigen. Die vergebende Gnade, die unsere Schuld tilgt, wirkt in uns das Begehren nach der bewahrenden Gnade, die vor neuer Schuld behütet. Hat Gott uns so viel gegeben, so dürfen wir kühn um mehr bitten; der die vorigen Befleckungen abgewaschen hat, wird die größere Gnade nicht verweigern, die uns vor gegenwärtiger und zukünftiger Verunreinigung schützt. Diese Bitte um Belehrung ist in unserem Psalm häufig. In V. 12 war sie durch den Blick auf Gott veranlasst, hier geht sie aus dem Blick auf das eigene Selbst hervor. So können und sollen gar verschiedenerlei Erfahrungen zu einer und derselben Bitte führen.
27. Unterweise mich den Weg deiner Befehle. Verleihe mir eine tiefe Einsicht in die Lebensordnung, die dein Wort mir vorschreibt, ein klares Verständnis für den Sinn und den wesentlichen Inhalt deines Gesetzes. Ein blinder Gehorsam hat wenig sittliche Schönheit; Gottes Wille ist, dass wir mit offenen Augen ihm nachfolgen. Dem Buchstaben des Gesetzes Genüge zu leisten ist das Höchste, was der Unwissende fertig zu bringen hoffen kann; ist es unser Wunsch, die Aussagen der Schrift über des Menschen Obliegenheiten auch ihrem Geiste nach zu erfüllen, so müssen wir vor allem zum Verständnis derselben gelangen, und dieses können wir nur durch Gottes Gnade empfangen. Unser Verstand bedarf der Erleuchtung und der Leitung. Derselbe, der uns den Verstand gegeben hat, muss uns auch lehren, ihn richtig zu gebrauchen. Die vor uns liegende Bitte um Unterweisung ist eine lehrreiche Erweiterung und Erläuterung der unmittelbar vorhergehenden: "Lehre mich deine Rechte"; wir müssen auf solche Art unterwiesen werden, dass wir auch verstehen, was wir lernen. Es ist beachtenswert, dass des Psalmdichters vornehmste Sorge nicht ist, die Weissagungen, sondern die Befehle der Heiligen Schrift zu verstehen, und dass das, worin unterwiesen zu werden ihm vor allem am Herzen liegt, nicht die Feinheiten des Gesetzes sind, von menschlichen Spitzfindigkeiten ganz zu schweigen, sondern die ganz gewöhnlichen Alltagswahrheiten desselben; denn diese sind doch mit dem Ausdruck "der Weg, den deine Befehle gebieten" gemeint.
So will ich reden von deinen Wundern. Es ist eine missliche Sache, von solchem zu reden, was man nicht versteht. Erst müssen wir uns von Gott lehren lassen, bis wir selber recht verstehen; dann dürfen wir hoffen, unser Wissen andern so mitteilen zu können, dass sie Nutzen davon haben. Reden ohne Verstand sind nur fruchtloses Geschwätz; aber die Worte eines Wohlunterrichteten sind wie Perlen, die die Ohren des Hörenden schmücken. Ist unser Herz dem Verständnisse aufgeschlossen worden, dann sollen auch unsere Lippen sich auftun, um andern das empfangene Wissen kundzutun. Und wir dürfen hoffen, selber vom HERRN unterwiesen zu werden, wenn wir in unseren Herzen eine Willigkeit spüren, diejenigen, die um uns her sind, in den Wegen des HERRN zu unterweisen.
Von den Wundern des HERRN will der Psalmist reden. Beachten wir, dass demnach auch die klarste Einsicht uns nicht darüber erhebt, über die Wege und Werke Gottes zu staunen. Tatsache ist vielmehr, dass wir Gottes Walten umso mehr bewundern, je mehr wir davon kennen und wissen, und umso stärkeren Drang fühlen wir dann in uns, von diesen Wundern zu reden. Wohl ist es wahr, dass die Hälfte all des Wunderglaubens der Leute in der Welt aus der Unwissenheit entspringt; aber ebenso wahr ist, dass es eine heilige Verwunderung gibt, die ein Kind des Wissens ist. Gilt es schon von der Natur, dass sie, je mehr wir in sie eindringen, desto mehr uns eine Welt der Wunder wird - denn alles Dasein ist ein Wunder und unser gesamtes Wissen ruht auf lauter Wundern1 - so ist dies in noch höherem Grad bei der sittlichen Weltordnung Gottes der Fall. Da tun sich dem heiligen Wissen heilige Wunder ohne Zahl auf. - Wenn ein Mensch die Wege verstehen lernt, die Gottes Vorschriften uns weisen, so spricht er nicht mehr von seinen eigenen Werken, und seine Zunge, die doch etwas haben muss, wovon sie redet, hebt nun an, die Werke und Taten des allein vollkommenen Gottes zu preisen.
preisen.
Die meisten Ausleger übersetzen jedoch hier: so will ich sinnen über deine Befehle. (Vergl. V. 15.23 sowie V. 48.78 und endlich V. 148, wo Luther selber so übersetzt hat.) Mag es uns zunächst eigentümlich erscheinen, dass die Begriffe reden und sinnen so verwandt sein sollen, so ist das doch ganz in der Ordnung. Nur Toren reden ohne zu denken; das Nachsinnen ist ein innerliches Sprechen. Lesen wir die Stelle in diesem Sinn, so verstehen wir sie so, dass der Psalmdichter eben in dem Maße, wie er das Wort Gottes besser verstand, mehr und mehr darüber nachzusinnen begehrte. So geht es gewöhnlich: Die Gedankenlosen mögen nicht über den tieferen Sinn der Schrift nachdenken, während die Leute, die Gottes in seinem Wort geoffenbarte Gedanken am besten kennen, gerade auch diejenigen sind, die immer völliger in sie einzudringen, immer besser mit ihnen vertraut zu werden streben und sich deshalb immer mehr darein sinnend versenken.
Schauen wir auf den entsprechenden dritten Vers des vorigen Abschnittes zurück, so wird uns die Verwandtschaft des Sinnes beider nicht entgehen. Dort (V. 19) nannte der Dichter sich einen Fremdling; hier bittet er, dass ihm sein Weg gezeigt werde. Flehte er dort, dass Gott seine Gebote nicht vor ihm verbergen möge, so verspricht er hier, dass er sie nicht vor andern verbergen wolle.
Fußnote
1. "Kein vorurteilsfreier Forscher", schreibt selbst der an Gott zweifelnde große Physiker Tyndall, "wird die Augen dagegen verschließen, dass die lange Kette seiner Untersuchungen in Wirklichkeit eine Kette von Wundern ist, während es so genannte Freigeister gibt, die sich einbilden, mit ihrem Garnknäuel die unermesslichen Tiefen des Weltalls ergründen zu können." F. Bettex: Das Wunder, 1899.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
28. Ich gräme mich, dass mir das Herz verschmachtet. Seine Seele zerschmolz in Tränen vor Kummer. (Wörtl.) Wie selbst Erz im Schmelzofen flüssig wird, so löste sich alle seine Kraft auf vor der Gluthitze seiner Leiden. Der Gram ist ein tödliches Übel. Wo er die Überhand gewinnt, da vermag er wohl auch das frischeste Leben in ein langes langsames Sterben zu verwandeln. Tropfen um Tropfen zerrinnt alle Lebenskraft und Lebensfreudigkeit bei dem beständigen Triefen der Kummertränen, wie Luther 1521 übersetzt: Meine Seele hat sich vertröpfelt vor Gram. Ja, Tränen sind Herzwasser; wenn ein starker Mann weint, so zergeht ihm das Herz. Manche von uns wissen aus Erfahrung, was es heißt, sich zu grämen, dass einem das Herz verschmachtet, denn wir sind mehr als einmal unter der furchtbaren Macht des Kummers gewesen, und haben oft das Gefühl gehabt, als würde unser Inneres ausgegossen wie Wasser, ja als wären wir schon fast wie Wasser, das am Boden verschüttet ist und nie wieder zusammengebracht werden kann. Aber ein Gutes kann doch noch an diesem Zustand tiefster Niedergeschlagenheit sein: es ist besser, vor Kummer zu zerschmelzen, als in Unbußfertigkeit versteinert zu werden.
Stärke mich oder richte mich auf (L. 1521) nach deinem Wort. Der Psalmdichter hatte eine alte Verheißung entdeckt, dass die, welche dem HERRN angehören, gestärkt werden sollen, und er beruft sich nun darauf. Seine Hoffnung in seinem Zustande tiefster Niedergeschlagenheit ruht nicht auf irgendetwas in ihm selber, sondern allein auf seinem Gott. Soll er Stärkung von oben erfahren, dann mag er doch noch die Last seines Kummers von sich abschütteln und fröhlich wieder aufstehen können. Beachten wir, wie er sich auf die Verheißung des Wortes stützt und nichts weiter begehrt, als dass mit ihm verfahren werde nach der alten Weise des HERRN, von der schon die Väter rühmen konnten. Ist David der Beter, so mochte er sich des Wortes der Hanna erinnern: Der HERR wird Stärke verleihen seinem König und erhöhen das Horn seines Gesalbten. (1. Samuel 2,10) Ist’s ein anderer, späterer Beter, so mochte das Wort des HERRN durch Jesaia in seinem Herzen erklingen: Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. (Jes. 41,10.) Gott stärkt uns, indem er durch sein Wort seine Gnade in uns einströmen lässt; das Wort, das schafft, kann sicher auch erhalten. Die Gnade vermag uns instand zu setzen, das Nagen und Zehren eines andauernden Kummers zu ertragen; sie kann dem Kräfteverfall siegreich entgegenwirken, den das beständige Rinnen der Tränen bewirkt, ja sie gibt den Traurigen zu Zion Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit. Lasst uns, wenn wir in unseren Kummernächten am Verzagen sind, stets zum Gebet unsre Zuflucht nehmen; es ist der sicherste und kürzeste Weg, aus den Tiefen der Verzweiflung herauszukommen. Lasst uns dann aber auf nichts als auf das Wort Gottes uns stützen bei unserem Flehen; denn wahrlich, es geht nichts über die Kraft einer Gottesverheißung, und von diesem Schwert des Wortes mögen wir wohl sagen: Es ist seinesgleichen nicht! (1. Samuel 21,10.)
Welche Blicke lässt uns der Psalmist in sein innerstes Seelenleben tun! In V. 20 sagt er: Meine Seele ist zermalmt, sie reibt sich auf vor Verlangen, in V. 25: Meine Seele klebt am Staube, und hier: Meine Seele schmilzt hin vor Kummer. Und weiterhin, V. 81, ruft er aus: Meine Seele schmachtet nach deinem Heil, in V. 109: Ich trage meine Seele immer in meinen Händen, in V. 167: Meine Seele hält deine Zeugnisse, und endlich in V. 175: Lass meine Seele leben. Manche Menschen wissen kaum, dass sie eine Seele haben, der Psalmist hier ist, wie wir so sagen, ganz Seele! Welch ein Unterschied ist doch zwischen den geistlich Lebendigen und den geistlich Toten!
29. Wende von mir den falschen Weg, oder: Halte fern von mir den Weg der Lüge, des Treubruchs. Das ist der Weg der Sünde, die ein Treubruch an Gott ist, der Weg des Irrtums, der Abgötterei, der Torheit, der Selbstgerechtigkeit, des Lippen- und Augendienstes, der Heuchelei. David bittet aber nicht nur, dass er von diesem Wege, sondern auch, dass dieser Weg von ihm fern gehalten werde. Weit weg soll er von ihm sein, ganz aus seinen Augen wünscht er ihn. Er begehrt von Herzen, rechtschaffen und gerade, wahr und treu zu sein; doch fürchtet er, es möchte ihm noch ein gewisses Maß von Falschheit anhaften, wenn der HERR es nicht ganz wegnähme. Darum bittet er den HERRN dringend: Rotte es alles aus. Es können zu Zeiten unlautere Beweggründe in uns wirksam sein, und wir mögen zu falschen Urteilen über unseren Stand gegenüber Gott kommen, worin wir durch unsere Voreingenommenheit für unser Ich bestärkt werden, und auf diese Weise können wir in der heillosen Selbsttäuschung befestigt und von der Macht des Irrtums ganz gefangen genommen werden, wenn nicht die Gnade sich zu unserer Rettung aufmacht. Kein aufrichtiges Herz kann bei einer falschen Selbstbeurteilung Ruhe finden; es findet da keinen Ankergrund, sondern wird hin und her geworfen, bis es in die Wahrheit und die Wahrheit in das Herz kommt. Das echte Kind der himmlischen Wahrheit wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Lüge, es seufzt und fleht wider alles falsche, treulose Wesen und begehrt, dass es fern von ihm weggetan werde, gerade wie ein Mensch eine giftige Schlange fürchtet und flieht.
Und gönne mir dein Gesetz, begnade mich damit. Der ist fürwahr im Gnadenstande, wer das Gesetz als ein Gnadengeschenk ansieht. Vergegenwärtigen wir uns hierbei, dass das hebräische Wort für Gesetz ursprünglich die Unterweisung bedeutet. Der Dichter wünscht, dass das Gesetz seinem Verständnisse erschlossen, seinem Herzen eingegraben und in seinem Leben zur Erfüllung gebracht werde; darum wendet er sich an den HERRN und erfleht dies von ihm als eine Gnade. Ohne Zweifel sah er das als die einzige Weise an, von der Macht der Lüge frei zu werden. Wo das Gesetz nicht im Herzen wohnt, wird die Lüge Eingang finden. Vielleicht gedachte David dabei auch an die früheren Zeiten, da er, in den Anschauungen der Zeit und der Volkssitte befangen, zu Lüge und Verstellung gegriffen, um sein Leben zu retten, und erkannte, dass er in diesem Stücke schwach gewesen und gefehlt hatte, was ihn beugte und zu der Bitte führte, dass der HERR ihn vor solcher Übertretung in Zukunft bewahren wolle. Die Gottesfürchtigen können an ihre Sünden nicht ohne Tränen zurückdenken, können aber auch nicht fruchtlos über sie weinen, sondern werden getrieben, zugleich zum HERRN zu flehen, dass er sie vor ferneren Fehltritten behüte.
Augenscheinlich sind hier die Lüge und die gnadenreiche Macht des Gesetzes Gottes in Gegensatz gestellt. Das einzige Mittel, die Lüge auszutreiben, ist, dass wir die Wahrheit aufnehmen. Andererseits besteht eine offenbare Verwandtschaft zwischen der Gnade und der Wahrheit: kaum haben wir den Ton von der Gnade vernommen in der Bitte: "Begnademich mit deinem Gesetz", so hören wir auch schon den Fußtritt der Wahrheit: Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Gnade und Wahrheit sind stets unzertrennlich verbunden, und der Herzensglaube an die Lehre von der freien Gnade ist ein vorzügliches Schutzmittel gegen verderblichen Irrtum.
In dem entsprechenden Vers der vorhergehenden Gruppe (V. 21) fleht der Psalmist wider den Stolz, hier wider die Lüge. Ist der Hochmut nicht die größte aller Lügen?
30. Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Wie er den Weg der Lüge verabscheute, so erkor er den Weg der Wahrheit; für einen von beiden muss sich der Mensch ja entscheiden, denn einen Mittelweg zwischen beiden gibt es nicht. Auch gerät man nicht durch Zufall auf den rechten Weg; es gilt ihn zu wählen und immer wieder diese Wahl festzuhalten, heute und morgen und alle Tage, sonst ist man, ehe man sich’s versieht, auf Abwegen. Diejenigen, welche Gott erwählt hat, erwählen auch im entscheidenden Augenblicke seinen Weg. Es gibt einen Weg der Wahrheit in Bezug auf die Lehre; den müssen wir erwählen und jede Menschensatzung und -lehre verwerfen. Es gibt einen Weg der Wahrheit in Bezug auf die Weise, wie wir Gott verehren sollen; diesen sollen wir einhalten und alle gottesdienstlichen Formen, die mit den Verordnungen des HERRN nicht im Einklang sind, abweisen. Und es gibt endlich einen Weg der Wahrheit in Bezug auf das tägliche Leben; auf diesem heiligen Wege sollen wir bleiben, sosehr wir versucht werden mögen, ihn zu verlassen. Unsere Wahl sei eine entschiedene und unwiderrufliche. Lasst uns allen Verführungen gegenüber nur die eine Antwort haben: "Ich habe gewählt, und bei dem, was ich gewählt habe, bleibe ich." O HERR, leite du uns durch deine Gnade dazu, dass wir aus freier Herzensentschließung erwählen, deinen Willen zu tun; so wird deine ewige Erwählung uns zu dem Ziele führen, das du bei ihr im Auge gehabt hast.
Deine Rechte hab ich vor mich gestellt. Was er erkoren hatte, das behielt er fest im Sinn, indem er es immerdar vor das Auge seines Geistes stellte. Zu heiligem Wesen und Wandel gelangt man nicht durch einen oberflächlichen Wunsch; es gehört dazu emsiges Streben, ein fester Wille, ernstliches Erwägen und Fragen, sonst verfehlt man den Weg der Wahrheit. Die Anordnungen Gottes müssen uns allezeit vor Augen stehen als Ziel unseres Strebens, als Vorbild unseres Tuns, als Wegweiser für unseren Wandel. Lassen wir Gottes Rechte in den Hintergrund treten, so werden wir uns bald auf Irrwegen finden.
Der sechste Vers des vorigen und dieses Absatzes klingen in einem ähnlichen Gedanken aus: Ich halte deine Zeugnisse (V. 22), und: Deine Rechte hab ich vor mich gestellt (V. 30). Glücklich, wer solches von sich sagen darf; es wundert uns nicht, dass der Psalmist dies fröhliche Bekenntnis wiederholt.
31. Ich hange an deinen Zeugnissen. Im Grundtext steht hier dasselbe Zeitwort wie V. 25, wie denn auch Luther 1521 übersetzt hat: An deinen Zeugnissen klebe ich. Wiewohl seine Seele am Staube klebte, unfähig, sich aus ihrem Kummer aufzurichten, so hielt er dennoch unverbrüchlich fest an Gottes Wort. Dies war sein Trost, darum klammerte sich sein Glaube daran, seine ganze Liebe hing an ihm, sein Gehorsam wich nicht davon und sein Geist ließ nicht ab, darüber nachzusinnen. Er hatte seine Wahl (V. 30) so entschieden, so von ganzem Herzen und wohlbedacht getroffen, dass er für sein ganzes Leben daran festhielt und keine Schmähungen von denen, die den Weg des HERRN verachteten, ihn davon abbringen konnten. Was für einen Gewinn hätte es ihm auch bringen können, wenn er die heiligen Zeugnisse des HERRN verlassen hätte? Sagen wir lieber: Was hätte er nicht alles verloren, wenn er aufgehört hätte, an dem Worte Gottes zu hangen! Es ist eine Freude, wenn das Gewissen einem Zeugnis gibt, dass man in frohen und in trüben Tagen treu an Gottes Wort festgehalten hat, und der Glaube gewiss sein darf, dass wir in der Kraft der Gnade mit gleicher zäher Beharrlichkeit in Zukunft an ihm haften werden.
HERR, lass mich nicht zu Schanden werden. Das würde geschehen, wenn Gott seine Verheißungen nicht hielte und demnach der Glaube seines Knechtes in Enttäuschung enden müsste. Aber das haben wir nicht zu befürchten, der HERR steht zu seinem Worte. Doch könnte es auf andere Weise eintreten, dass wir zu Schanden würden, wenn wir nämlich nicht fest an Gottes Ordnungen hielten, sondern uns zu einem mit seinem Wort unvereinbaren Handeln fortreißen ließen, wie David selbst es einst getan, da er auf den Weg der Lüge geriet und sich unsinnig stellte (1. Samuel 21,13-16). Wenn wir unserem Bekenntnis nicht treu sind, so kann es uns wohl widerfahren, dass wir die Frucht unserer Torheit zu ernten haben, und das wird eben die bittere Erfahrung sein, die sich beschämt oder zu Schanden werden nennt. Der Gläubige sollte nie Grund haben, sich zu schämen. Seines Glaubens braucht er sich jedenfalls nicht zu schämen, sondern er darf als ein Mann auftreten, der keine Furcht kennt und nicht gesinnt ist, den Feinden seines Gottes gegenüber einen furchtsamen, gedämpften Ton anzunehmen. Bitten wir den HERRN, uns nicht beschämt werden zu lassen, so sollten wir wahrlich selber nicht uns schämen ohne Ursache.
Die Bitte dieses Verses findet ihr Seitenstück in dem entsprechenden Vers der nächsten Gruppe, V. 39: Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Es ist das offenbar eine Bitte, die sich dem Psalmisten oft aufdrängte. Ein wackeres Herz wird durch Schmach tiefer verwundet als durch irgendeine stählerne Waffe, die die Hand eines Kriegers schwingen kann.
Stärke mich oder richte mich auf (L. 1521) nach deinem Wort. Der Psalmdichter hatte eine alte Verheißung entdeckt, dass die, welche dem HERRN angehören, gestärkt werden sollen, und er beruft sich nun darauf. Seine Hoffnung in seinem Zustande tiefster Niedergeschlagenheit ruht nicht auf irgendetwas in ihm selber, sondern allein auf seinem Gott. Soll er Stärkung von oben erfahren, dann mag er doch noch die Last seines Kummers von sich abschütteln und fröhlich wieder aufstehen können. Beachten wir, wie er sich auf die Verheißung des Wortes stützt und nichts weiter begehrt, als dass mit ihm verfahren werde nach der alten Weise des HERRN, von der schon die Väter rühmen konnten. Ist David der Beter, so mochte er sich des Wortes der Hanna erinnern: Der HERR wird Stärke verleihen seinem König und erhöhen das Horn seines Gesalbten. (1. Samuel 2,10) Ist’s ein anderer, späterer Beter, so mochte das Wort des HERRN durch Jesaia in seinem Herzen erklingen: Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. (Jes. 41,10.) Gott stärkt uns, indem er durch sein Wort seine Gnade in uns einströmen lässt; das Wort, das schafft, kann sicher auch erhalten. Die Gnade vermag uns instand zu setzen, das Nagen und Zehren eines andauernden Kummers zu ertragen; sie kann dem Kräfteverfall siegreich entgegenwirken, den das beständige Rinnen der Tränen bewirkt, ja sie gibt den Traurigen zu Zion Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit. Lasst uns, wenn wir in unseren Kummernächten am Verzagen sind, stets zum Gebet unsre Zuflucht nehmen; es ist der sicherste und kürzeste Weg, aus den Tiefen der Verzweiflung herauszukommen. Lasst uns dann aber auf nichts als auf das Wort Gottes uns stützen bei unserem Flehen; denn wahrlich, es geht nichts über die Kraft einer Gottesverheißung, und von diesem Schwert des Wortes mögen wir wohl sagen: Es ist seinesgleichen nicht! (1. Samuel 21,10.)
Welche Blicke lässt uns der Psalmist in sein innerstes Seelenleben tun! In V. 20 sagt er: Meine Seele ist zermalmt, sie reibt sich auf vor Verlangen, in V. 25: Meine Seele klebt am Staube, und hier: Meine Seele schmilzt hin vor Kummer. Und weiterhin, V. 81, ruft er aus: Meine Seele schmachtet nach deinem Heil, in V. 109: Ich trage meine Seele immer in meinen Händen, in V. 167: Meine Seele hält deine Zeugnisse, und endlich in V. 175: Lass meine Seele leben. Manche Menschen wissen kaum, dass sie eine Seele haben, der Psalmist hier ist, wie wir so sagen, ganz Seele! Welch ein Unterschied ist doch zwischen den geistlich Lebendigen und den geistlich Toten!
29. Wende von mir den falschen Weg, oder: Halte fern von mir den Weg der Lüge, des Treubruchs. Das ist der Weg der Sünde, die ein Treubruch an Gott ist, der Weg des Irrtums, der Abgötterei, der Torheit, der Selbstgerechtigkeit, des Lippen- und Augendienstes, der Heuchelei. David bittet aber nicht nur, dass er von diesem Wege, sondern auch, dass dieser Weg von ihm fern gehalten werde. Weit weg soll er von ihm sein, ganz aus seinen Augen wünscht er ihn. Er begehrt von Herzen, rechtschaffen und gerade, wahr und treu zu sein; doch fürchtet er, es möchte ihm noch ein gewisses Maß von Falschheit anhaften, wenn der HERR es nicht ganz wegnähme. Darum bittet er den HERRN dringend: Rotte es alles aus. Es können zu Zeiten unlautere Beweggründe in uns wirksam sein, und wir mögen zu falschen Urteilen über unseren Stand gegenüber Gott kommen, worin wir durch unsere Voreingenommenheit für unser Ich bestärkt werden, und auf diese Weise können wir in der heillosen Selbsttäuschung befestigt und von der Macht des Irrtums ganz gefangen genommen werden, wenn nicht die Gnade sich zu unserer Rettung aufmacht. Kein aufrichtiges Herz kann bei einer falschen Selbstbeurteilung Ruhe finden; es findet da keinen Ankergrund, sondern wird hin und her geworfen, bis es in die Wahrheit und die Wahrheit in das Herz kommt. Das echte Kind der himmlischen Wahrheit wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Lüge, es seufzt und fleht wider alles falsche, treulose Wesen und begehrt, dass es fern von ihm weggetan werde, gerade wie ein Mensch eine giftige Schlange fürchtet und flieht.
Und gönne mir dein Gesetz, begnade mich damit. Der ist fürwahr im Gnadenstande, wer das Gesetz als ein Gnadengeschenk ansieht. Vergegenwärtigen wir uns hierbei, dass das hebräische Wort für Gesetz ursprünglich die Unterweisung bedeutet. Der Dichter wünscht, dass das Gesetz seinem Verständnisse erschlossen, seinem Herzen eingegraben und in seinem Leben zur Erfüllung gebracht werde; darum wendet er sich an den HERRN und erfleht dies von ihm als eine Gnade. Ohne Zweifel sah er das als die einzige Weise an, von der Macht der Lüge frei zu werden. Wo das Gesetz nicht im Herzen wohnt, wird die Lüge Eingang finden. Vielleicht gedachte David dabei auch an die früheren Zeiten, da er, in den Anschauungen der Zeit und der Volkssitte befangen, zu Lüge und Verstellung gegriffen, um sein Leben zu retten, und erkannte, dass er in diesem Stücke schwach gewesen und gefehlt hatte, was ihn beugte und zu der Bitte führte, dass der HERR ihn vor solcher Übertretung in Zukunft bewahren wolle. Die Gottesfürchtigen können an ihre Sünden nicht ohne Tränen zurückdenken, können aber auch nicht fruchtlos über sie weinen, sondern werden getrieben, zugleich zum HERRN zu flehen, dass er sie vor ferneren Fehltritten behüte.
Augenscheinlich sind hier die Lüge und die gnadenreiche Macht des Gesetzes Gottes in Gegensatz gestellt. Das einzige Mittel, die Lüge auszutreiben, ist, dass wir die Wahrheit aufnehmen. Andererseits besteht eine offenbare Verwandtschaft zwischen der Gnade und der Wahrheit: kaum haben wir den Ton von der Gnade vernommen in der Bitte: "Begnademich mit deinem Gesetz", so hören wir auch schon den Fußtritt der Wahrheit: Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Gnade und Wahrheit sind stets unzertrennlich verbunden, und der Herzensglaube an die Lehre von der freien Gnade ist ein vorzügliches Schutzmittel gegen verderblichen Irrtum.
In dem entsprechenden Vers der vorhergehenden Gruppe (V. 21) fleht der Psalmist wider den Stolz, hier wider die Lüge. Ist der Hochmut nicht die größte aller Lügen?
30. Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Wie er den Weg der Lüge verabscheute, so erkor er den Weg der Wahrheit; für einen von beiden muss sich der Mensch ja entscheiden, denn einen Mittelweg zwischen beiden gibt es nicht. Auch gerät man nicht durch Zufall auf den rechten Weg; es gilt ihn zu wählen und immer wieder diese Wahl festzuhalten, heute und morgen und alle Tage, sonst ist man, ehe man sich’s versieht, auf Abwegen. Diejenigen, welche Gott erwählt hat, erwählen auch im entscheidenden Augenblicke seinen Weg. Es gibt einen Weg der Wahrheit in Bezug auf die Lehre; den müssen wir erwählen und jede Menschensatzung und -lehre verwerfen. Es gibt einen Weg der Wahrheit in Bezug auf die Weise, wie wir Gott verehren sollen; diesen sollen wir einhalten und alle gottesdienstlichen Formen, die mit den Verordnungen des HERRN nicht im Einklang sind, abweisen. Und es gibt endlich einen Weg der Wahrheit in Bezug auf das tägliche Leben; auf diesem heiligen Wege sollen wir bleiben, sosehr wir versucht werden mögen, ihn zu verlassen. Unsere Wahl sei eine entschiedene und unwiderrufliche. Lasst uns allen Verführungen gegenüber nur die eine Antwort haben: "Ich habe gewählt, und bei dem, was ich gewählt habe, bleibe ich." O HERR, leite du uns durch deine Gnade dazu, dass wir aus freier Herzensentschließung erwählen, deinen Willen zu tun; so wird deine ewige Erwählung uns zu dem Ziele führen, das du bei ihr im Auge gehabt hast.
Deine Rechte hab ich vor mich gestellt. Was er erkoren hatte, das behielt er fest im Sinn, indem er es immerdar vor das Auge seines Geistes stellte. Zu heiligem Wesen und Wandel gelangt man nicht durch einen oberflächlichen Wunsch; es gehört dazu emsiges Streben, ein fester Wille, ernstliches Erwägen und Fragen, sonst verfehlt man den Weg der Wahrheit. Die Anordnungen Gottes müssen uns allezeit vor Augen stehen als Ziel unseres Strebens, als Vorbild unseres Tuns, als Wegweiser für unseren Wandel. Lassen wir Gottes Rechte in den Hintergrund treten, so werden wir uns bald auf Irrwegen finden.
Der sechste Vers des vorigen und dieses Absatzes klingen in einem ähnlichen Gedanken aus: Ich halte deine Zeugnisse (V. 22), und: Deine Rechte hab ich vor mich gestellt (V. 30). Glücklich, wer solches von sich sagen darf; es wundert uns nicht, dass der Psalmist dies fröhliche Bekenntnis wiederholt.
31. Ich hange an deinen Zeugnissen. Im Grundtext steht hier dasselbe Zeitwort wie V. 25, wie denn auch Luther 1521 übersetzt hat: An deinen Zeugnissen klebe ich. Wiewohl seine Seele am Staube klebte, unfähig, sich aus ihrem Kummer aufzurichten, so hielt er dennoch unverbrüchlich fest an Gottes Wort. Dies war sein Trost, darum klammerte sich sein Glaube daran, seine ganze Liebe hing an ihm, sein Gehorsam wich nicht davon und sein Geist ließ nicht ab, darüber nachzusinnen. Er hatte seine Wahl (V. 30) so entschieden, so von ganzem Herzen und wohlbedacht getroffen, dass er für sein ganzes Leben daran festhielt und keine Schmähungen von denen, die den Weg des HERRN verachteten, ihn davon abbringen konnten. Was für einen Gewinn hätte es ihm auch bringen können, wenn er die heiligen Zeugnisse des HERRN verlassen hätte? Sagen wir lieber: Was hätte er nicht alles verloren, wenn er aufgehört hätte, an dem Worte Gottes zu hangen! Es ist eine Freude, wenn das Gewissen einem Zeugnis gibt, dass man in frohen und in trüben Tagen treu an Gottes Wort festgehalten hat, und der Glaube gewiss sein darf, dass wir in der Kraft der Gnade mit gleicher zäher Beharrlichkeit in Zukunft an ihm haften werden.
HERR, lass mich nicht zu Schanden werden. Das würde geschehen, wenn Gott seine Verheißungen nicht hielte und demnach der Glaube seines Knechtes in Enttäuschung enden müsste. Aber das haben wir nicht zu befürchten, der HERR steht zu seinem Worte. Doch könnte es auf andere Weise eintreten, dass wir zu Schanden würden, wenn wir nämlich nicht fest an Gottes Ordnungen hielten, sondern uns zu einem mit seinem Wort unvereinbaren Handeln fortreißen ließen, wie David selbst es einst getan, da er auf den Weg der Lüge geriet und sich unsinnig stellte (1. Samuel 21,13-16). Wenn wir unserem Bekenntnis nicht treu sind, so kann es uns wohl widerfahren, dass wir die Frucht unserer Torheit zu ernten haben, und das wird eben die bittere Erfahrung sein, die sich beschämt oder zu Schanden werden nennt. Der Gläubige sollte nie Grund haben, sich zu schämen. Seines Glaubens braucht er sich jedenfalls nicht zu schämen, sondern er darf als ein Mann auftreten, der keine Furcht kennt und nicht gesinnt ist, den Feinden seines Gottes gegenüber einen furchtsamen, gedämpften Ton anzunehmen. Bitten wir den HERRN, uns nicht beschämt werden zu lassen, so sollten wir wahrlich selber nicht uns schämen ohne Ursache.
Die Bitte dieses Verses findet ihr Seitenstück in dem entsprechenden Vers der nächsten Gruppe, V. 39: Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Es ist das offenbar eine Bitte, die sich dem Psalmisten oft aufdrängte. Ein wackeres Herz wird durch Schmach tiefer verwundet als durch irgendeine stählerne Waffe, die die Hand eines Kriegers schwingen kann.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
32. Wenn du mein Herz tröstest, so laufe ich den Weg deiner Gebote. Er möchte den Willen Gottes mit Tatkraft, mit ganzem Eifer und ohne Zögern erfüllen; das kann er aber nur, wenn und weil Gott ihn mit Kraft und Freudigkeit dazu ausrüstet. Wörtlich heißt der Vers: Ich will laufen, d. h. frisch und fröhlich wandeln, den Weg deiner Gebote, denn du machst mir das Herz weit, d. h. wie Luther es erklärt, du machst es lustig, tröstlich und fröhlich. Zum Ausdruck vergleiche man Jes. 60,5 und 2. Kor. 6,11.13. Ja, das Herz ist der Meister, das hat die Führung; die Füße werden schon laufen, wenn das Herz freudig und tatkräftig ist. Ist’s uns im Herzen erst warm geworden, brennt es da für heilige Dinge, für das, was Gott gefällt, dann wird auch unser Tun voll Kraft, Feuer und heiliger Freude sein. Erst muss Gott in uns wirken, dann wollen und vollbringen wir das Gute nach seinem Wohlgefallen. (Phil. 2,13.) Er muss das Herz ändern, es auf eins richten, mutig, stark und weit machen, dann wird auch unser Leben ein begnadetes, wahrhaftiges, glückliches und zielbewusstes sein, und wir werden mit Lobpreisen bekennen müssen: von den ersten schwachen Anfängen bis zu den höchsten Stufen des geistlichen Lebens verdanken wir alles der freien Gnade Gottes. Freilich, wir müssen laufen; die Gnade ist nicht eine unwiderstehliche Gewalt, die auch den Widerstrebenden zwingt, sich in der seinem Willen entgegengesetzten Richtung fortzubewegen. Unser Laufen ist vielmehr das fröhliche Vorwärtseilen eines Herzens, das durch Gottes Gnade von drückendem Zwang befreit ist und nun keine größere Wonne kennt, als diese seine Freiheit anzuwenden, indem es mit fliegender Eile dem herrlichen ihm vorgesteckten Ziele zustrebt.
Welch ein Wechsel von dem ersten zu dem letzten Vers dieser Gruppe! Dort lag die Seele des Psalmisten im Staube, unfähig, sich aus ihrem Kummer zu erheben; hier läuft er frei und fröhlich seinen Weg. Das ist die segensreiche Wirkung der göttlichen Traurigkeit, dass sie zu der Neubelebung führt, nach der wir schmachten (V. 25 b), und ist dies Wunder der Gnade an uns geschehen, dann beweisen wir die Aufrichtigkeit unserer Trauer und zugleich die Wirklichkeit unserer Neubelebung durch den Eifer, mit dem wir auf des HERRN Wegen wandeln.
Beachten wir, wieviel der Psalmist in den bisher betrachteten Versen vom Herzen spricht: V. 2 von ganzem Herzen, V. 7 von rechtem Herzen, V. 11 ich behalte im Herzen, V. 32 du machst mir das Herz weit. Und auch weiterhin ist noch oft von dem Herzen die Rede. Wir sehen daraus, wie sehr dem Psalmisten die Religion Herzenssache war. Unser Zeitalter leidet schwer unter der Tatsache, dass dem Kopfe viel größere Rechte und größerer Einfluss eingeräumt werden als dem Herzen. Die Menschen geben heutzutage mehr auf das Wissen als auf die Liebe, womit noch nicht gesagt sein soll, dass sie in jenem so erstaunlich viel leisten.
Erläuterungen und Kernworte
V. 25-32. Das achtfache d (D): Er ist in tiefer Bekümmernis und bittet um Tröstung und Befestigung durch Gottes Wort, dem er sich ergeben. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
25. Dem Staube klebt meine Seele an;
Belebe mich nach deinem Wort!
26. Die Wege mein erzählte ich, und du erhörtest mich;
Lehre mich deine Satzungen!
27. Den Weg deiner Ordnungen lass mich verstehen,
So will ich sinnen über deine Wunder.
28. Dahinschmilzt meine Seele vor Kummer,
Richte mich auf nach deinem Wort!
29. Den Weg der Lüge halte fern von mir
Und begnade mich mit deiner Unterweisung.
30. Den Weg der Wahrheit habe ich erwählt,
Deine Richtsprüche zum Augenmerk gemacht.
31. Deinen Zeugnissen hange ich an;
Jahve, lass mich nicht zu Schanden werden!
32. Den Weg deiner Gebote will ich laufen,
Denn du machst mir das Herz weit. - James Millard
V. 25. Meine Seele liegt im Staube oder klebt am Staube. Es handelt sich hier schwerlich, wie manche gemeint haben, um leibliches Siechtum, sondern um schweren seelischen Druck. Statt dass seine Seele sich zum Himmel erhob, ward sie in den Staub niedergedrückt; sie war so belastet mit irdischen Gedanken, Neigungen und Sorgen, dass sie am Boden klebte. Worin gerade seine besondere Anfechtung bestand, sagt der Psalmist nicht. Gottes Kinder sind oft in einem solchen Zustande, dass sie von ihrem Kummer nicht genau Rechenschaft geben können, und manchmal in solcher Verwirrung, dass es nicht einmal gut wäre, selbst wenn sie es vermöchten, zu andern davon zu sprechen. - Wir lernen daraus auch, wie das, was die Weltmenschen für Klugheit achten, dem Christen Torheit ist; was dem einen eine Freude, das ist dem anderen ein Kummer. Dem Weltkind ist es Freude, am Irdischen zu hangen; wenn er das recht fest gefasst hat, so fühlt er sich glücklich, denn es ist sein Teil und Erbe. Sich um seine irdischen Angelegenheiten kümmern, auf sie all seine Sinne und Gedanken richten, ist nach seiner Ansicht die einzige Weisheit. Ach, der Schlange Fluch liegt auf ihm, er kriecht auf der Erde dahin und isst Erde sein Leben lang. Seine Seele selber wird irdisch. Aber der Christ, dessen Seele durch den Geist von oben her bewegt wird, richtet seine Wünsche und Neigungen auf das, was droben ist; seine Lust ist es, seinen Wandel im Himmel zu haben, und er empfindet bitteren Schmerz, wenn er merkt, dass sein Herz herabgezogen und sein Sinnen und Trachten dem Irdischen zugekehrt wird. Für ihn bedeutet es Leben, am HERRN zu hangen, und Tod, wenn seine Seele unter das Joch des Irdischen gebeugt wird. William Cowper † 1619.
Man vergleiche das Lied "O Jesu, sieh darein" von Joh. Konrad Dippel † 1734.
"Siehe gen Himmel", sprach einst der HERR zu Abraham (1. Mose 15,5) und spricht er noch heute zu uns. Aber ach, warum muss es stets der Fall sein, dass wir, wenn wir ein wenig zur Erkenntnis unser selbst gekommen sind, auf jene Aufforderung mit einem Seufzer antworten: Meine Seele klebt am Staube! Ja fürwahr, das ist der tiefste Schmerz für eine Seele, die schon geschmeckt und gesehen hat, wie freundlich der HERR ist, wenn sie bei all ihrem Sehnen, sich hinauf zu schwingen, immer wieder empfinden muss, wie unmöglich es ist, sich zu erheben. Es gibt vielen verborgenen Kummer im Menschenherzen, auch im geistlichen Leben; aber nichts kann uns tiefer schmerzen als die Wahrnehmung, dass wir wie mit Bleigewichten an Dinge gekettet sind, von denen wir genau wissen, dass sie uns nur ermüden, nimmer befriedigen können. Wir wären, als wir zum ersten Male den 23. Psalm vom guten Hirten lasen, nie auf den Gedanken gekommen, dass der aus einem Herzen stamme, das so oft mit so sehnsüchtigen Schmerzen nach Gott seufzte. Wir hätten es nie für möglich gehalten, dass es so kalt und dürr und dunkel in einem Herzen werden könne, das schon so viel von den Kräften des zukünftigen Lebens hatte schmecken dürfen. Aber haben wir nicht auch mit diesem 119. Psalm rühmen dürfen: Ich freue mich des Weges deiner Zeugnisse als über allerlei Reichtum? Jawohl, aber hernach, wie war es da? Oder jetzt vielleicht? O die schweren Trübsalsstunden, wenn die Sonne in unserem Inneren erloschen scheint und nur eine trübe rote Scheibe am Himmel sichtbar ist. Das Feuer der ersten Liebe ist niedergebrannt, irdische Sorgen und Sünden haben sich wie ein Bleigewicht an die Schwingen der Seele gehängt, die doch, Gott weiß es, wie gerne auswärts fliegen möchte. Wir möchten lobpreisen und können kaum beten, wir möchten beten und können kaum seufzen.
Unser Schatz ist im Himmel, aber unsere Seele liegt im Staube der Erde und klebt daran, wenigstens klebt ihr auf allen Seiten der irdische Staub an, und das zieht sie herab, so dass das Auge statt des klaren Himmels nur Wolken sieht, die Zunge nur schmerzliche Klagen hervorbringt. Ja, so vollständig vermag uns die Erde in ihre Fesseln zu schlagen, dass uns selbst Himmel und Ewigkeit in Frage stehen; und unser alter Mensch ist wie der Riese der alten Sage, der im heißen Ringen zu Boden geworfen durch die Berührung mit der Mutter Erde stets neue Kräfte erhält. Ach, wird das nicht endlich, endlich einmal anders werden? Begehrst du das wirklich, der du so schmerzliche Klagen aus der Tiefe deiner Seele aufsteigen lässest und kaum noch Tränen findest für den Schmerz und Kummer deines Herzens? Wohl dir, wenn deine Leiden dich lehren, zu Gott zu schreien: Erquicke, belebe mich nach deinem Wort! Ja, das ist der beste Trost für den, der erfahren hat, was das heißt, tief hinab in Gram und Leid getaucht zu sein; das ist die einzige Hoffnung für ein Herz, das in seinem Inneren der Verzweiflung nahe ist. Über dem erstickenden Staube weht frische reine Lebensluft, die uns von allen Seiten her zuströmt und selbst in unser dunkelstes Gefängnis dringt. Da ist eine lebendige Quelle, an der sich die ermattete, verschmachtende Seele erquicken kann, und der Zugang zu dieser Quelle steht jedem offen, trotz aller Staubwolken, die dieses Tal der Schatten verdüstern. Da ist eine Lebenskraft, die unserem inneren Tode so vollständig ein Ende machen kann, dass wir wieder vor dem HERRN im Lande der Lebendigen wandeln, und dass unser Mund, anstatt von Wehklagen, von Lobgesängen erklingt. Lebt er denn nicht noch, der Fürst des Lebens, um uns wieder und wieder zu sagen: Ich lebe, und ihr sollt auch leben? Und der Geist, der da bläst, wo er will, kann, will, wird er nicht auch zu seiner Zeit mit seinem lebendigen Odem von unseren Flügeln den Staub abblasen, der ihnen anklebt?
Aber selbst der nagende Schmerz der Seele über solch ungeistlichen, toten Seelenzustand ist doch ein gutes, tröstliches Zeichen, dass das gute Werk in uns angefangen ist; was wirklich ganz erstorben ist, das schauert doch nicht zusammen über seine eigene Kälte. Meine Seele liegt im Staube, so sprichst du tränenden Auges. So würdest du aber nicht reden, wenn nicht bereits eine höhere Hand, dir unbemerkt, eine Kluft befestigt hätte zwischen deiner Seele und diesem Staube. Und niemand hat weniger Grund zu verzweifeln als der, der alle Hoffnung auf sich selbst aufgegeben hat und nun erst wirklich lernt, das beim HERRN zu suchen, was er, das fühlt er nur zu wohl, sich selbst am allerwenigsten geben kann. Ja, dies ist der Weg, der von dem tiefsten Grame zum besten Troste führt: das demütige, ernstliche, anhaltende Gebet, dass der, der selbst lebt, auch unserer Seele Leben geben möge, fort und fort, bis wir befreit von aller Starrheit und Dürre unseres Geistes, losgelöst vom Irdischen, zu dem ewigen Berge des Lichtes emporsteigen und alle Wolken tief unter uns liegen sehen. Aber das vermag allein der HERR des Lebens zu wirken; doch er will es tun, wir haben sein eigenes Wort als Unterpfand, dass er uns wahres Leben verleihen wird. Nur lasset uns nicht vergessen, dass, der uns nach seinem Worte erquicken will, dies auch durch sein Wort vollbringt. Darum so lasst uns aus dieser unversiegbaren Quelle schöpfen und es ihm bedingungslos überlassen, wie er unser Rufen erhören will, selbst wenn er uns auf dunklem Pfade führt. Selbst des Todes kann er sich als Mittel bedienen, um uns lebendig zu machen und zu erhalten. Siehe, hier sind wir, o HERR, tue mit uns, wie es dir gefällt. Nur lass unsere Seelen leben, damit sie dich preisen mögen hier und in alle Ewigkeit. Prof. J. J. von Osterzee 1874.
Welch ein Wechsel von dem ersten zu dem letzten Vers dieser Gruppe! Dort lag die Seele des Psalmisten im Staube, unfähig, sich aus ihrem Kummer zu erheben; hier läuft er frei und fröhlich seinen Weg. Das ist die segensreiche Wirkung der göttlichen Traurigkeit, dass sie zu der Neubelebung führt, nach der wir schmachten (V. 25 b), und ist dies Wunder der Gnade an uns geschehen, dann beweisen wir die Aufrichtigkeit unserer Trauer und zugleich die Wirklichkeit unserer Neubelebung durch den Eifer, mit dem wir auf des HERRN Wegen wandeln.
Beachten wir, wieviel der Psalmist in den bisher betrachteten Versen vom Herzen spricht: V. 2 von ganzem Herzen, V. 7 von rechtem Herzen, V. 11 ich behalte im Herzen, V. 32 du machst mir das Herz weit. Und auch weiterhin ist noch oft von dem Herzen die Rede. Wir sehen daraus, wie sehr dem Psalmisten die Religion Herzenssache war. Unser Zeitalter leidet schwer unter der Tatsache, dass dem Kopfe viel größere Rechte und größerer Einfluss eingeräumt werden als dem Herzen. Die Menschen geben heutzutage mehr auf das Wissen als auf die Liebe, womit noch nicht gesagt sein soll, dass sie in jenem so erstaunlich viel leisten.
Erläuterungen und Kernworte
V. 25-32. Das achtfache d (D): Er ist in tiefer Bekümmernis und bittet um Tröstung und Befestigung durch Gottes Wort, dem er sich ergeben. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
25. Dem Staube klebt meine Seele an;
Belebe mich nach deinem Wort!
26. Die Wege mein erzählte ich, und du erhörtest mich;
Lehre mich deine Satzungen!
27. Den Weg deiner Ordnungen lass mich verstehen,
So will ich sinnen über deine Wunder.
28. Dahinschmilzt meine Seele vor Kummer,
Richte mich auf nach deinem Wort!
29. Den Weg der Lüge halte fern von mir
Und begnade mich mit deiner Unterweisung.
30. Den Weg der Wahrheit habe ich erwählt,
Deine Richtsprüche zum Augenmerk gemacht.
31. Deinen Zeugnissen hange ich an;
Jahve, lass mich nicht zu Schanden werden!
32. Den Weg deiner Gebote will ich laufen,
Denn du machst mir das Herz weit. - James Millard
V. 25. Meine Seele liegt im Staube oder klebt am Staube. Es handelt sich hier schwerlich, wie manche gemeint haben, um leibliches Siechtum, sondern um schweren seelischen Druck. Statt dass seine Seele sich zum Himmel erhob, ward sie in den Staub niedergedrückt; sie war so belastet mit irdischen Gedanken, Neigungen und Sorgen, dass sie am Boden klebte. Worin gerade seine besondere Anfechtung bestand, sagt der Psalmist nicht. Gottes Kinder sind oft in einem solchen Zustande, dass sie von ihrem Kummer nicht genau Rechenschaft geben können, und manchmal in solcher Verwirrung, dass es nicht einmal gut wäre, selbst wenn sie es vermöchten, zu andern davon zu sprechen. - Wir lernen daraus auch, wie das, was die Weltmenschen für Klugheit achten, dem Christen Torheit ist; was dem einen eine Freude, das ist dem anderen ein Kummer. Dem Weltkind ist es Freude, am Irdischen zu hangen; wenn er das recht fest gefasst hat, so fühlt er sich glücklich, denn es ist sein Teil und Erbe. Sich um seine irdischen Angelegenheiten kümmern, auf sie all seine Sinne und Gedanken richten, ist nach seiner Ansicht die einzige Weisheit. Ach, der Schlange Fluch liegt auf ihm, er kriecht auf der Erde dahin und isst Erde sein Leben lang. Seine Seele selber wird irdisch. Aber der Christ, dessen Seele durch den Geist von oben her bewegt wird, richtet seine Wünsche und Neigungen auf das, was droben ist; seine Lust ist es, seinen Wandel im Himmel zu haben, und er empfindet bitteren Schmerz, wenn er merkt, dass sein Herz herabgezogen und sein Sinnen und Trachten dem Irdischen zugekehrt wird. Für ihn bedeutet es Leben, am HERRN zu hangen, und Tod, wenn seine Seele unter das Joch des Irdischen gebeugt wird. William Cowper † 1619.
Man vergleiche das Lied "O Jesu, sieh darein" von Joh. Konrad Dippel † 1734.
"Siehe gen Himmel", sprach einst der HERR zu Abraham (1. Mose 15,5) und spricht er noch heute zu uns. Aber ach, warum muss es stets der Fall sein, dass wir, wenn wir ein wenig zur Erkenntnis unser selbst gekommen sind, auf jene Aufforderung mit einem Seufzer antworten: Meine Seele klebt am Staube! Ja fürwahr, das ist der tiefste Schmerz für eine Seele, die schon geschmeckt und gesehen hat, wie freundlich der HERR ist, wenn sie bei all ihrem Sehnen, sich hinauf zu schwingen, immer wieder empfinden muss, wie unmöglich es ist, sich zu erheben. Es gibt vielen verborgenen Kummer im Menschenherzen, auch im geistlichen Leben; aber nichts kann uns tiefer schmerzen als die Wahrnehmung, dass wir wie mit Bleigewichten an Dinge gekettet sind, von denen wir genau wissen, dass sie uns nur ermüden, nimmer befriedigen können. Wir wären, als wir zum ersten Male den 23. Psalm vom guten Hirten lasen, nie auf den Gedanken gekommen, dass der aus einem Herzen stamme, das so oft mit so sehnsüchtigen Schmerzen nach Gott seufzte. Wir hätten es nie für möglich gehalten, dass es so kalt und dürr und dunkel in einem Herzen werden könne, das schon so viel von den Kräften des zukünftigen Lebens hatte schmecken dürfen. Aber haben wir nicht auch mit diesem 119. Psalm rühmen dürfen: Ich freue mich des Weges deiner Zeugnisse als über allerlei Reichtum? Jawohl, aber hernach, wie war es da? Oder jetzt vielleicht? O die schweren Trübsalsstunden, wenn die Sonne in unserem Inneren erloschen scheint und nur eine trübe rote Scheibe am Himmel sichtbar ist. Das Feuer der ersten Liebe ist niedergebrannt, irdische Sorgen und Sünden haben sich wie ein Bleigewicht an die Schwingen der Seele gehängt, die doch, Gott weiß es, wie gerne auswärts fliegen möchte. Wir möchten lobpreisen und können kaum beten, wir möchten beten und können kaum seufzen.
Unser Schatz ist im Himmel, aber unsere Seele liegt im Staube der Erde und klebt daran, wenigstens klebt ihr auf allen Seiten der irdische Staub an, und das zieht sie herab, so dass das Auge statt des klaren Himmels nur Wolken sieht, die Zunge nur schmerzliche Klagen hervorbringt. Ja, so vollständig vermag uns die Erde in ihre Fesseln zu schlagen, dass uns selbst Himmel und Ewigkeit in Frage stehen; und unser alter Mensch ist wie der Riese der alten Sage, der im heißen Ringen zu Boden geworfen durch die Berührung mit der Mutter Erde stets neue Kräfte erhält. Ach, wird das nicht endlich, endlich einmal anders werden? Begehrst du das wirklich, der du so schmerzliche Klagen aus der Tiefe deiner Seele aufsteigen lässest und kaum noch Tränen findest für den Schmerz und Kummer deines Herzens? Wohl dir, wenn deine Leiden dich lehren, zu Gott zu schreien: Erquicke, belebe mich nach deinem Wort! Ja, das ist der beste Trost für den, der erfahren hat, was das heißt, tief hinab in Gram und Leid getaucht zu sein; das ist die einzige Hoffnung für ein Herz, das in seinem Inneren der Verzweiflung nahe ist. Über dem erstickenden Staube weht frische reine Lebensluft, die uns von allen Seiten her zuströmt und selbst in unser dunkelstes Gefängnis dringt. Da ist eine lebendige Quelle, an der sich die ermattete, verschmachtende Seele erquicken kann, und der Zugang zu dieser Quelle steht jedem offen, trotz aller Staubwolken, die dieses Tal der Schatten verdüstern. Da ist eine Lebenskraft, die unserem inneren Tode so vollständig ein Ende machen kann, dass wir wieder vor dem HERRN im Lande der Lebendigen wandeln, und dass unser Mund, anstatt von Wehklagen, von Lobgesängen erklingt. Lebt er denn nicht noch, der Fürst des Lebens, um uns wieder und wieder zu sagen: Ich lebe, und ihr sollt auch leben? Und der Geist, der da bläst, wo er will, kann, will, wird er nicht auch zu seiner Zeit mit seinem lebendigen Odem von unseren Flügeln den Staub abblasen, der ihnen anklebt?
Aber selbst der nagende Schmerz der Seele über solch ungeistlichen, toten Seelenzustand ist doch ein gutes, tröstliches Zeichen, dass das gute Werk in uns angefangen ist; was wirklich ganz erstorben ist, das schauert doch nicht zusammen über seine eigene Kälte. Meine Seele liegt im Staube, so sprichst du tränenden Auges. So würdest du aber nicht reden, wenn nicht bereits eine höhere Hand, dir unbemerkt, eine Kluft befestigt hätte zwischen deiner Seele und diesem Staube. Und niemand hat weniger Grund zu verzweifeln als der, der alle Hoffnung auf sich selbst aufgegeben hat und nun erst wirklich lernt, das beim HERRN zu suchen, was er, das fühlt er nur zu wohl, sich selbst am allerwenigsten geben kann. Ja, dies ist der Weg, der von dem tiefsten Grame zum besten Troste führt: das demütige, ernstliche, anhaltende Gebet, dass der, der selbst lebt, auch unserer Seele Leben geben möge, fort und fort, bis wir befreit von aller Starrheit und Dürre unseres Geistes, losgelöst vom Irdischen, zu dem ewigen Berge des Lichtes emporsteigen und alle Wolken tief unter uns liegen sehen. Aber das vermag allein der HERR des Lebens zu wirken; doch er will es tun, wir haben sein eigenes Wort als Unterpfand, dass er uns wahres Leben verleihen wird. Nur lasset uns nicht vergessen, dass, der uns nach seinem Worte erquicken will, dies auch durch sein Wort vollbringt. Darum so lasst uns aus dieser unversiegbaren Quelle schöpfen und es ihm bedingungslos überlassen, wie er unser Rufen erhören will, selbst wenn er uns auf dunklem Pfade führt. Selbst des Todes kann er sich als Mittel bedienen, um uns lebendig zu machen und zu erhalten. Siehe, hier sind wir, o HERR, tue mit uns, wie es dir gefällt. Nur lass unsere Seelen leben, damit sie dich preisen mögen hier und in alle Ewigkeit. Prof. J. J. von Osterzee 1874.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
Erläuterungen und Kernworte
V. 25. Erquicke mich, belebe mich. Aber, wenn er doch lebendig ist, was bittet er, dass Gott ihn lebendig machen möge? Darauf antworte ich: Der Gottesfürchtige schätzt sein Leben nicht nach dem, was er in seinem Fleische, sondern nach dem, was er in seiner Seele davon spürt. Wenn seiner Seele das Bewusstsein der Gnade und der Sinn für himmlische Dinge abhanden gekommen ist, so klagt er darüber als über eine erstorbene Seele; denn sich von Gott, wenn auch nur eine Zeit lang, verlassen zu fühlen, ist für ihn schwerer zu ertragen als der zeitliche Tod. Nach deinem Worte. Das beweist einen großen Glauben, dass er trotz seines augenblicklichen Seelenzustandes, in dem er sich für erstorben hält, neues Leben von Gott nach seinem Worte erhofft. Solcher Art war der Glaube Abrahams, der wider Hoffnung auf Hoffnung hin glaubte (Röm. 4,18). Und in der Tat, oft widerfährt es den Kindern Gottes, dass sie in einen solchen Zustand kommen, in welchem sie nichts haben, woran sie sich aufrichten können, als Gottes Wort; alles andere ist ihnen geschwunden, das Bewusstsein der Gnade, die Freude am Himmlischen, da ist nur schwarze Finsternis, Angst und Schrecken. Was sie aufrecht erhält ist allein der Blick auf Gottes Verheißungen und eine ferne Hoffnung, dass er sie wieder zum Leben erwecken werde, weil es sein Ruhm ist, das angefangene Werk zu vollenden. William Cowper † 1619.
Wohin anders sollen die Gottesfürchtigen fliehen, wenn das Leben in ihnen zu versiegen droht, als zu dem Brunnquell alles Lebens? Wie der kürzeste Weg, sich die Kälte zu vertreiben, der ist, dass man ans Kaminfeuer tritt, so ist das beste Mittel, um den Tod zu überwinden, dass wir zu dem uns wenden, der der Urquell alles unseres Lebens, des natürlichen wie des geistlichen, ist. Alle Kräftigungs- und Heilmittel sind nichts im Vergleich zu ihm selber. Er kann sie benutzen, aber die Kraft ist von ihm. Und wie ein Mensch ein Feuer fast verlöschen lassen kann, das er entzündet hatte, und es dann durch Zuführen von Brennstoff zu neuer Glut entfacht, so kann auch Gott die Flamme des Lebens, die er in uns entzündet hat, wieder neu beleben. Paul Bayne † 1617.
Das Wort macht das verhärtete Gewissen weich und erweckt das erstorbene zu neuem Leben. Ist dies Wort nicht ein Hammer, der Felsen zerschlägt, und ist es nicht der unvergängliche Same, durch den wir wiedergeboren sind? Darum bittet der Psalmist, da er sein Gewissen in Todesmacht gebunden fühlt: Meine Seele liegt im (Todes-) Staube; belebe mich nach deinem Wort. Das Wort ist das vornehmste Mittel, wodurch unser Gewissen gereinigt und zurecht gebracht wird. John Sheffield 1650.
Nach deinem Wort, sagt David, und nicht: nach meinem Verdienste. (Augustinus) Unsere Hoffnung ruht einzig auf der Gewissheit, dass Gott seine Verheißungen erfüllen wird. - Obwohl damals noch so wenig von der Heiligen Schrift geschrieben war, konnte David darin doch ein Wort des Trostes für sich finden. Uns aber kommt in unseren Nöten und Anfechtungen oft keine Verheißung in den Sinn! Wie es im äußern Leben so oft geht, dass viele, die weniger besitzen, besser leben als manche, die alles im Überfluss haben, so ist es auch hier. Jetzt, wo die Heilige Schrift in ihrem ganzen Reichtum vor uns liegt, sind wir viel weniger eifrig und aufmerksam in ihrer Benutzung und verzagen darum, trotzdem wir so viele Verheißungen haben, und finden kein Wort, das uns aufrichtet. Aber merke: Das Wort kam David erst zustatten, als er so lange in seinem traurigen Zustand dagelegen hatte, dass er sich dem Tode nahe fühlte. Viele meinen, sie könnten, wenn sie eine Verheißung haben, deren Trost ohne weiteres alsbald genießen. Nein, so geht es nicht, erst muss geharrt, gebangt, geseufzt, gefleht werden. Wir kommen zum vollen Genuss des Trostes der Verheißungen nicht eher, als bis die in der Kreatur sprudelnden Quellen des Trostes uns versiegt sind und wir unser hinreichendes Maß von Prüfung überstanden haben. Gott wird sein Wort halten; dennoch müssen wir uns darauf gefasst machen, dass wir zunächst in Prüfungen geführt werden. - Als Davids Seele im Staube lag, erhielt ihn der Glaube an Gottes Wort am Leben. Wenn wir am wenigsten von Lebenskraft spüren, wenn uns scheinbar nichts mehr geblieben ist, so wird das Wort uns dennoch erhalten und stärken. Vergleiche Abrahams Glauben Röm. 4,19.20. Eine treffliche Weise, Trost zu finden, besteht darin, dass wir wie David Gott seine Verheißung im Glauben vorhalten. Zeige dem HERRN eine eigene Handschrift; er steht dir gut für das, was er verbrieft hat, und ist für seine Ehre sehr empfindlich. Dass du so bei Gott auf Erfüllung seines Wortes dringen sollst, hat nicht den Zweck, Gott zur Treue zu bewegen, sondern dich selbst für den Empfang der Segnungen zuzubereiten. Thomas Manton † 1677.
V. 26. Ich erzählte meine Wege, und du erhörtest mich (Grundtext); lehre mich deine Rechte. O HERR, ich habe dir schon oft den ganzen Zustand und Verlauf meines Lebens bis ins Einzelne dargelegt, meine Irrwege, meine Mängel, meine Zweifel, meine Kümmernisse; ich verberge nichts vor dir, und du hast mich immer erhört, wie ich es bedurfte. So bitte ich dich denn: Lehre mich auch ferner, erleuchte mich mit deinem Lichte, damit ich deine Rechte erkenne, und durch deine Gnade die Kraft finde, in ihnen zu wandeln. Das ist eine treffliche Begründung in unseren Verhandlungen mit dem HERRN: Ich habe schon so viele Gnadenbeweise und günstige Antworten von dir empfangen, darum, o HERR, bitte ich dich, gewähre mir noch mehr davon. Denn wen der HERR liebt, den liebt er bis ans Ende (Joh. 13,1), und wo er einmal angefangen hat, gnädig zu sein, da hört er nicht auf, bis er sein Kind mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt hat. Und so gnädig ist der HERR, dass er es als eine Ehrenbezeugung ansieht, sooft wir ihn dafür preisen, dass wir Trost in ihm gefunden haben, und darum abermals zu ihm kommen, um neue Gnade zu erfahren. Es gibt viele, die nicht rühmen können: "Gott hat mich erhört", und zwar, weil sie Gott nicht einfältig und aufrichtig ihre Wege, d. h. ihre Angelegenheiten, kundtun. William Cowper † 1619.
Wie ein Kranker dem Arzte genau berichtet, wie es ihm geht, so sollten wir es auch mit Gott machen, wenn wir Gnade bei ihm finden wollen. Solches Erzählen seiner Wege kann man betrachten 1) als eine Handlung des Glaubens und Gehorsams; 2) als eine Handlung heiliger Freundschaft; 3) als eine Handlung geistlicher Zerknirschung und Zebrochenheit des Herzens. Diese drei Gesichtspunkte ergeben sich aus dem, was David unter dem Ausdrucke "meine Wege" alles verstanden haben kann. Erstens sein Tun und Treiben, seine Angelegenheiten und Unternehmungen. Die habe ich dir bekannt gegeben und sie den Weisungen, der Leitung deiner Vorsehung unterstellt. So ist es eine Tat des Glaubens und Gehorsams, der sich mit allen seinen Anliegen an Gott wendet und ihn um seinen Rat fragt. Zweitens: Seine Wege, kann auch verstanden werden als alle seine Sorgen, Kümmernisse und Gefahren; und in diesem Sinne ist dieser Ausspruch eine Handlung heiliger Freundschaft, da ein Mensch, wie ein Freund zum anderen, zu Gott kommt und ihm seinen ganzen Zustand offenbart, alles ihm offen darlegt in der Hoffnung, hier Mitgefühl und Erleichterung zu finden. Drittens: Unter den Wegen mögen wir die Versuchungen und Sünden verstehen; dann zeugt der Ausspruch auch von geistlicher Zerknirschung und einem zerbrochenen Herzen. Denn die Sünden, das sind so ganz eigentlich "unsere Wege" (Jes. 53,6). Thomas Manton † 1677.
Du erhörtest mich. (Grundtext) Erfahrene Gebetserhörungen sollen uns ermutigen, desto kühner zum Gnadenthron zu nahen. Jakob hat die Nacht von Bethel nie vergessen. D.William Swan Plumer † 1880.
V. 26.27. Lehre mich, unterweise mich. Wie habgierige Menschen immer meinen, sie hätten noch nicht Geld genug, so sollten Christen denken, sie könnten nie Unterweisung und heilige Erkenntnis genug bekommen. R. Greenham † 1591.
Angeborene Blindheit ist ein schwer zu heilendes Leiden; deshalb haben wir es immer wieder nötig zu bitten: Öffne mir die Augen - lehre mich - unterweise mich. Unsere Unwissenheit ist, selbst wenn sie zum Teil schon gehoben ist, noch immer sehr groß. Die Trübungen, die durch Versuchungen, Zweifel und fleischliche Neigungen bewirkt werden, machen, dass die Unwissenheit immer wieder bei uns einkehrt, so dass wir, selbst was wir wissen, nicht wirklich wissen. Ja, je mehr wir wissen, desto mehr enthüllt sich uns unsere Unwissenheit. "Denn ich bin der Allernärrischste, und Menschenverstand ist nicht bei mir. Ich habe Weisheit nicht gelernt, dass ich den Heiligen erkennte". (Spr. 30,2.3) "Ich hatte von dir mit den Ohren gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche." (Hiob 42,5.6) Ach ja, ein bisschen spärliches Wissen von Hörensagen nützt nichts; man verabscheut sich selbst, wenn man genauere Kenntnis erhält. Niemand ist so selbstbewusst wie ein junger Anfänger auf den Gebieten der Wissenschaft, der einige wenige Wahrheiten, und diese in einem unsicheren, unvollkommenen Grad kennen gelernt hat. Je mehr wir wissen, umso mehr merken wir unsere Unwissenheit und wie sehr wir allerlei Irrtum unterworfen sind, so dass wir nicht eine Stunde unser selbst gewiss sein können. Thomas Manton † 1677.
V. 27. So will ich reden von deinen Wundern. Wer empfänglich ist für die Wunder in Gottes Wort, wird auch davon reden. 1) Das wird so sein. Wenn das Herz tief ergriffen ist, kann die Zunge nicht stille halten, sie wird überfließen von Verkündigung dessen, was das Herz erfüllt; denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Wenn die Heiligen Trost und Erquickung in ihrer Betrübnis erfahren haben, so werden sie ganz hingenommen vom Gedanken an die Vollkommenheit Gottes. "Kommet her, ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat." 2) Es soll so sein, und zwar in dreifacher Hinsicht: zur Ehre Gottes, zur Erbauung der anderen und zu unserem eigenen Nutzen. a) Zur Ehre Gottes, dem wir so vieles schuldig sind; damit wir ihn auch den anderen in unserer Umgebung bekannt machen. Erfahrung verlangt Lobpreisen, und wenn du den Messias gefunden hast, so führe andere zu ihm, wie Andreas den Petrus, Philippus den Nathanael. b) Zur Erbauung der anderen. "Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder." (Lk. 22,32.) c) Zu unserem eigenen Nutzen. Wer von seiner Kenntnis rechten Gebrauch macht, wird mehr empfangen. Die Mutterbrust, an der kein Kind saugt, vertrocknet. Die Brote vermehrten sich, als sie verteilt wurden. Alle Gaben, vorab die geistlichen, welche die köstlichsten sind, vermehren sich durch Übung und Gebrauch. Thomas Manton † 1677.
V. 28. Ich gräme mich, dass mir das Herz verschmachtet. Die ältesten Übersetzungen haben hier schlummern, nusta/zein, dormitare; 2 was eine merkwürdige Übereinstimmung mit Lk. 22,45 ergeben würde. Joseph Addison Alexander † 1860.
Es gibt nichts, was einen natürlichen Menschen erfreuen kann, was David nicht besessen hätte. Aber das alles vermag ihn nicht vor der Traurigkeit zu bewahren, der, wie auch Petrus schreibt (1. Petr. 1,6), alle Kinder Gottes in diesem Leben durch ihre mannigfaltigen Anfechtungen ausgesetzt sind. Die Weltkinder sind ja weit von solcher Gemütsstimmung entfernt; wenn sie nur gesund sind und irdisch Geld und Gut besitzen, so können sie nicht begreifen, was einem Menschen das Herz schwer machen könnte. Sie kennen nicht die Mängel im geistlichen Leben und grämen sich nicht darüber; tot in ihren Sünden, fühlen sie nicht, dass sie Leben bedürfen; alle ihre Sorge ist auf Essen und Trinken und Fröhlichsein gerichtet. Das ist ein jämmerliches Dasein, denn im günstigsten Falle sind sie wie Ochsen, die für den Schlächter gemästet werden. Wehe denen, die jetzt lachen, denn sie sollen wehklagen, selig aber, die jetzt trauern, denn sie sollen getröstet werden. William Cowper † 1619.
Stärke mich nach deinem Wort. Stärke mich, meine Pflichten zu erfüllen, den Versuchungen zu widerstehen, standhaft zu bleiben unter der Last eines bekümmerten Herzens, damit der Geist nicht erliege. Matthew Henry † 1714.
Fußnote
2. Die Lesarten der Hexapla haben, soweit sie erhalten sind, zumeist sta/zein oder katasta/zein träufeln. Das nusta/zein der Septuagintaausgaben, aus dem das dormitareder Vulgata und wohl auch der Itala genommen ist, denn schon Augustin hat dieses Wort, beruht augenscheinlich auf einem Lesefehler eines Septuagintaabschreibers. E. R.
V. 25. Erquicke mich, belebe mich. Aber, wenn er doch lebendig ist, was bittet er, dass Gott ihn lebendig machen möge? Darauf antworte ich: Der Gottesfürchtige schätzt sein Leben nicht nach dem, was er in seinem Fleische, sondern nach dem, was er in seiner Seele davon spürt. Wenn seiner Seele das Bewusstsein der Gnade und der Sinn für himmlische Dinge abhanden gekommen ist, so klagt er darüber als über eine erstorbene Seele; denn sich von Gott, wenn auch nur eine Zeit lang, verlassen zu fühlen, ist für ihn schwerer zu ertragen als der zeitliche Tod. Nach deinem Worte. Das beweist einen großen Glauben, dass er trotz seines augenblicklichen Seelenzustandes, in dem er sich für erstorben hält, neues Leben von Gott nach seinem Worte erhofft. Solcher Art war der Glaube Abrahams, der wider Hoffnung auf Hoffnung hin glaubte (Röm. 4,18). Und in der Tat, oft widerfährt es den Kindern Gottes, dass sie in einen solchen Zustand kommen, in welchem sie nichts haben, woran sie sich aufrichten können, als Gottes Wort; alles andere ist ihnen geschwunden, das Bewusstsein der Gnade, die Freude am Himmlischen, da ist nur schwarze Finsternis, Angst und Schrecken. Was sie aufrecht erhält ist allein der Blick auf Gottes Verheißungen und eine ferne Hoffnung, dass er sie wieder zum Leben erwecken werde, weil es sein Ruhm ist, das angefangene Werk zu vollenden. William Cowper † 1619.
Wohin anders sollen die Gottesfürchtigen fliehen, wenn das Leben in ihnen zu versiegen droht, als zu dem Brunnquell alles Lebens? Wie der kürzeste Weg, sich die Kälte zu vertreiben, der ist, dass man ans Kaminfeuer tritt, so ist das beste Mittel, um den Tod zu überwinden, dass wir zu dem uns wenden, der der Urquell alles unseres Lebens, des natürlichen wie des geistlichen, ist. Alle Kräftigungs- und Heilmittel sind nichts im Vergleich zu ihm selber. Er kann sie benutzen, aber die Kraft ist von ihm. Und wie ein Mensch ein Feuer fast verlöschen lassen kann, das er entzündet hatte, und es dann durch Zuführen von Brennstoff zu neuer Glut entfacht, so kann auch Gott die Flamme des Lebens, die er in uns entzündet hat, wieder neu beleben. Paul Bayne † 1617.
Das Wort macht das verhärtete Gewissen weich und erweckt das erstorbene zu neuem Leben. Ist dies Wort nicht ein Hammer, der Felsen zerschlägt, und ist es nicht der unvergängliche Same, durch den wir wiedergeboren sind? Darum bittet der Psalmist, da er sein Gewissen in Todesmacht gebunden fühlt: Meine Seele liegt im (Todes-) Staube; belebe mich nach deinem Wort. Das Wort ist das vornehmste Mittel, wodurch unser Gewissen gereinigt und zurecht gebracht wird. John Sheffield 1650.
Nach deinem Wort, sagt David, und nicht: nach meinem Verdienste. (Augustinus) Unsere Hoffnung ruht einzig auf der Gewissheit, dass Gott seine Verheißungen erfüllen wird. - Obwohl damals noch so wenig von der Heiligen Schrift geschrieben war, konnte David darin doch ein Wort des Trostes für sich finden. Uns aber kommt in unseren Nöten und Anfechtungen oft keine Verheißung in den Sinn! Wie es im äußern Leben so oft geht, dass viele, die weniger besitzen, besser leben als manche, die alles im Überfluss haben, so ist es auch hier. Jetzt, wo die Heilige Schrift in ihrem ganzen Reichtum vor uns liegt, sind wir viel weniger eifrig und aufmerksam in ihrer Benutzung und verzagen darum, trotzdem wir so viele Verheißungen haben, und finden kein Wort, das uns aufrichtet. Aber merke: Das Wort kam David erst zustatten, als er so lange in seinem traurigen Zustand dagelegen hatte, dass er sich dem Tode nahe fühlte. Viele meinen, sie könnten, wenn sie eine Verheißung haben, deren Trost ohne weiteres alsbald genießen. Nein, so geht es nicht, erst muss geharrt, gebangt, geseufzt, gefleht werden. Wir kommen zum vollen Genuss des Trostes der Verheißungen nicht eher, als bis die in der Kreatur sprudelnden Quellen des Trostes uns versiegt sind und wir unser hinreichendes Maß von Prüfung überstanden haben. Gott wird sein Wort halten; dennoch müssen wir uns darauf gefasst machen, dass wir zunächst in Prüfungen geführt werden. - Als Davids Seele im Staube lag, erhielt ihn der Glaube an Gottes Wort am Leben. Wenn wir am wenigsten von Lebenskraft spüren, wenn uns scheinbar nichts mehr geblieben ist, so wird das Wort uns dennoch erhalten und stärken. Vergleiche Abrahams Glauben Röm. 4,19.20. Eine treffliche Weise, Trost zu finden, besteht darin, dass wir wie David Gott seine Verheißung im Glauben vorhalten. Zeige dem HERRN eine eigene Handschrift; er steht dir gut für das, was er verbrieft hat, und ist für seine Ehre sehr empfindlich. Dass du so bei Gott auf Erfüllung seines Wortes dringen sollst, hat nicht den Zweck, Gott zur Treue zu bewegen, sondern dich selbst für den Empfang der Segnungen zuzubereiten. Thomas Manton † 1677.
V. 26. Ich erzählte meine Wege, und du erhörtest mich (Grundtext); lehre mich deine Rechte. O HERR, ich habe dir schon oft den ganzen Zustand und Verlauf meines Lebens bis ins Einzelne dargelegt, meine Irrwege, meine Mängel, meine Zweifel, meine Kümmernisse; ich verberge nichts vor dir, und du hast mich immer erhört, wie ich es bedurfte. So bitte ich dich denn: Lehre mich auch ferner, erleuchte mich mit deinem Lichte, damit ich deine Rechte erkenne, und durch deine Gnade die Kraft finde, in ihnen zu wandeln. Das ist eine treffliche Begründung in unseren Verhandlungen mit dem HERRN: Ich habe schon so viele Gnadenbeweise und günstige Antworten von dir empfangen, darum, o HERR, bitte ich dich, gewähre mir noch mehr davon. Denn wen der HERR liebt, den liebt er bis ans Ende (Joh. 13,1), und wo er einmal angefangen hat, gnädig zu sein, da hört er nicht auf, bis er sein Kind mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt hat. Und so gnädig ist der HERR, dass er es als eine Ehrenbezeugung ansieht, sooft wir ihn dafür preisen, dass wir Trost in ihm gefunden haben, und darum abermals zu ihm kommen, um neue Gnade zu erfahren. Es gibt viele, die nicht rühmen können: "Gott hat mich erhört", und zwar, weil sie Gott nicht einfältig und aufrichtig ihre Wege, d. h. ihre Angelegenheiten, kundtun. William Cowper † 1619.
Wie ein Kranker dem Arzte genau berichtet, wie es ihm geht, so sollten wir es auch mit Gott machen, wenn wir Gnade bei ihm finden wollen. Solches Erzählen seiner Wege kann man betrachten 1) als eine Handlung des Glaubens und Gehorsams; 2) als eine Handlung heiliger Freundschaft; 3) als eine Handlung geistlicher Zerknirschung und Zebrochenheit des Herzens. Diese drei Gesichtspunkte ergeben sich aus dem, was David unter dem Ausdrucke "meine Wege" alles verstanden haben kann. Erstens sein Tun und Treiben, seine Angelegenheiten und Unternehmungen. Die habe ich dir bekannt gegeben und sie den Weisungen, der Leitung deiner Vorsehung unterstellt. So ist es eine Tat des Glaubens und Gehorsams, der sich mit allen seinen Anliegen an Gott wendet und ihn um seinen Rat fragt. Zweitens: Seine Wege, kann auch verstanden werden als alle seine Sorgen, Kümmernisse und Gefahren; und in diesem Sinne ist dieser Ausspruch eine Handlung heiliger Freundschaft, da ein Mensch, wie ein Freund zum anderen, zu Gott kommt und ihm seinen ganzen Zustand offenbart, alles ihm offen darlegt in der Hoffnung, hier Mitgefühl und Erleichterung zu finden. Drittens: Unter den Wegen mögen wir die Versuchungen und Sünden verstehen; dann zeugt der Ausspruch auch von geistlicher Zerknirschung und einem zerbrochenen Herzen. Denn die Sünden, das sind so ganz eigentlich "unsere Wege" (Jes. 53,6). Thomas Manton † 1677.
Du erhörtest mich. (Grundtext) Erfahrene Gebetserhörungen sollen uns ermutigen, desto kühner zum Gnadenthron zu nahen. Jakob hat die Nacht von Bethel nie vergessen. D.William Swan Plumer † 1880.
V. 26.27. Lehre mich, unterweise mich. Wie habgierige Menschen immer meinen, sie hätten noch nicht Geld genug, so sollten Christen denken, sie könnten nie Unterweisung und heilige Erkenntnis genug bekommen. R. Greenham † 1591.
Angeborene Blindheit ist ein schwer zu heilendes Leiden; deshalb haben wir es immer wieder nötig zu bitten: Öffne mir die Augen - lehre mich - unterweise mich. Unsere Unwissenheit ist, selbst wenn sie zum Teil schon gehoben ist, noch immer sehr groß. Die Trübungen, die durch Versuchungen, Zweifel und fleischliche Neigungen bewirkt werden, machen, dass die Unwissenheit immer wieder bei uns einkehrt, so dass wir, selbst was wir wissen, nicht wirklich wissen. Ja, je mehr wir wissen, desto mehr enthüllt sich uns unsere Unwissenheit. "Denn ich bin der Allernärrischste, und Menschenverstand ist nicht bei mir. Ich habe Weisheit nicht gelernt, dass ich den Heiligen erkennte". (Spr. 30,2.3) "Ich hatte von dir mit den Ohren gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche." (Hiob 42,5.6) Ach ja, ein bisschen spärliches Wissen von Hörensagen nützt nichts; man verabscheut sich selbst, wenn man genauere Kenntnis erhält. Niemand ist so selbstbewusst wie ein junger Anfänger auf den Gebieten der Wissenschaft, der einige wenige Wahrheiten, und diese in einem unsicheren, unvollkommenen Grad kennen gelernt hat. Je mehr wir wissen, umso mehr merken wir unsere Unwissenheit und wie sehr wir allerlei Irrtum unterworfen sind, so dass wir nicht eine Stunde unser selbst gewiss sein können. Thomas Manton † 1677.
V. 27. So will ich reden von deinen Wundern. Wer empfänglich ist für die Wunder in Gottes Wort, wird auch davon reden. 1) Das wird so sein. Wenn das Herz tief ergriffen ist, kann die Zunge nicht stille halten, sie wird überfließen von Verkündigung dessen, was das Herz erfüllt; denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Wenn die Heiligen Trost und Erquickung in ihrer Betrübnis erfahren haben, so werden sie ganz hingenommen vom Gedanken an die Vollkommenheit Gottes. "Kommet her, ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat." 2) Es soll so sein, und zwar in dreifacher Hinsicht: zur Ehre Gottes, zur Erbauung der anderen und zu unserem eigenen Nutzen. a) Zur Ehre Gottes, dem wir so vieles schuldig sind; damit wir ihn auch den anderen in unserer Umgebung bekannt machen. Erfahrung verlangt Lobpreisen, und wenn du den Messias gefunden hast, so führe andere zu ihm, wie Andreas den Petrus, Philippus den Nathanael. b) Zur Erbauung der anderen. "Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder." (Lk. 22,32.) c) Zu unserem eigenen Nutzen. Wer von seiner Kenntnis rechten Gebrauch macht, wird mehr empfangen. Die Mutterbrust, an der kein Kind saugt, vertrocknet. Die Brote vermehrten sich, als sie verteilt wurden. Alle Gaben, vorab die geistlichen, welche die köstlichsten sind, vermehren sich durch Übung und Gebrauch. Thomas Manton † 1677.
V. 28. Ich gräme mich, dass mir das Herz verschmachtet. Die ältesten Übersetzungen haben hier schlummern, nusta/zein, dormitare; 2 was eine merkwürdige Übereinstimmung mit Lk. 22,45 ergeben würde. Joseph Addison Alexander † 1860.
Es gibt nichts, was einen natürlichen Menschen erfreuen kann, was David nicht besessen hätte. Aber das alles vermag ihn nicht vor der Traurigkeit zu bewahren, der, wie auch Petrus schreibt (1. Petr. 1,6), alle Kinder Gottes in diesem Leben durch ihre mannigfaltigen Anfechtungen ausgesetzt sind. Die Weltkinder sind ja weit von solcher Gemütsstimmung entfernt; wenn sie nur gesund sind und irdisch Geld und Gut besitzen, so können sie nicht begreifen, was einem Menschen das Herz schwer machen könnte. Sie kennen nicht die Mängel im geistlichen Leben und grämen sich nicht darüber; tot in ihren Sünden, fühlen sie nicht, dass sie Leben bedürfen; alle ihre Sorge ist auf Essen und Trinken und Fröhlichsein gerichtet. Das ist ein jämmerliches Dasein, denn im günstigsten Falle sind sie wie Ochsen, die für den Schlächter gemästet werden. Wehe denen, die jetzt lachen, denn sie sollen wehklagen, selig aber, die jetzt trauern, denn sie sollen getröstet werden. William Cowper † 1619.
Stärke mich nach deinem Wort. Stärke mich, meine Pflichten zu erfüllen, den Versuchungen zu widerstehen, standhaft zu bleiben unter der Last eines bekümmerten Herzens, damit der Geist nicht erliege. Matthew Henry † 1714.
Fußnote
2. Die Lesarten der Hexapla haben, soweit sie erhalten sind, zumeist sta/zein oder katasta/zein träufeln. Das nusta/zein der Septuagintaausgaben, aus dem das dormitareder Vulgata und wohl auch der Itala genommen ist, denn schon Augustin hat dieses Wort, beruht augenscheinlich auf einem Lesefehler eines Septuagintaabschreibers. E. R.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
Erläuterungen und Kernworte
V. 29. Halte fern von mir den falschen Weg. David erkennt hier an, wie sehr er auch bereits in der Lehre des HERRN und in seiner Erkenntnis erfahren ist, wenngleich er ein Prophet ist, berufen, die anderen zu lehren, dass er trotzdem vielen schlechten Neigungen unterworfen sei, die ihn immerfort vom rechten Weg verführen könnten, wenn ihm nicht Gott seine starke Hand gereicht hätte. Das ist eine Stelle, die wir uns wohl merken müssen, denn wir sehen, wie sehr die Menschen sich über sich selber täuschen. Wenn jemand einen guten Anfang gemacht hat, so meint er, dass er schon am Ziel angelangt sei; wir denken nicht mehr daran, zu Gott zu beten, wenn er uns die Gnade erwiesen hat, uns in seinen Dienst zu nehmen. Wenn wir erst eine Tat vollbracht haben, dann spreizen wir unsere Flügel aus und bespiegeln uns in unseren Tugenden. Kurz, es dünkt uns, dass der Teufel nichts mehr gegen uns ausrichten könne. Diese törichte Selbstüberhebung ist die Ursache, dass Gott uns auf Abwege geraten lässt, dass wir so manchen schweren Fall tun, so schwer, dass wir dabei Arm und Bein brechen, ja sehr in Gefahr stehen, den Hals zu brechen, ich meine nicht leiblich, sondern an der Seele. Sehen wir nur David selbst an, er hat die Erfahrung gemacht. Es ist ihm geschehen, sich auf abscheuliche und hinterlistige Weise zu vergehen, da er Bathseba, das Weib des Uria, seines Untertanen, nahm und mit ihr Unzucht trieb, und da er die Veranlassung zu einem so verdammungswürdigen Morde gewesen war, noch dazu von mehreren Personen, dass es nicht an ihm gelegen hat, dass das Heer Gottes und das ganze Israel keine Niederlage erlitt. Das war die allzu große Sorglosigkeit Davids, und darum sagt er: Ach HERR, führe mich so, dass ich entfernt bleibe vom Wege der Lüge. Jean Calvin † 1564.
Der Prophet begehrt von Gott stark gemacht zu werden gegen alle Verderbnisse in Lehre und Wandel, die Satan mit seinen klugen und verschlagenen Werkzeugen in der Welt zu verbreiten sucht. Diese Verführungen werden der Weg der Lüge genannt, 1) weil sie von Satan, dem Vater der Lüge, erfunden sind; 2) weil sie begünstigt und unterstützt werden von dem menschlichen Verstande, diesem Sammelplatze von Lügen; 3) weil sie zu sein scheinen, was sie nicht sind, was ein Kennzeichen der Lüge ist; 4) weil sie Gott und seiner Wahrheit, den Offenbarern aller Lüge, widerstreiten. R. Greenham † 1591.
V. 30. Hier sehen wir in das innere Leben einer begnadigten Seele. Den Weg der Wahrheit erwählen, das ist mehr, als bloß dasitzen und dem Worte zuhören und keine Einwendungen dagegen machen. Und doch ist dies Letztere alles, was man im besten Fall von der Mehrheit der Hörer des Evangeliums behaupten kann. Wir könnten nur hinzufügen, dass niemand sich so leicht wie diese gewohnheitsmäßigen Hörer durch Verkündigung eines falschen, bequemen Weges des Heils betören lässt; sie stimmen eben unterschiedslos allem zu, was ihnen vorgepredigt wird. Ganz anders, wer von Gott sich lehren lässt. Bei ihm kommt es zu bestimmter Wahl, er entscheidet sich für den Weg der Wahrheit und kann nicht anders, er folgt dem Zuge, der in seiner Seele mächtig ist. John Stephen 1861.
Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Ja, erwählt. Die Gottseligkeit ist nicht eine Sache des Zufalls, sondern wohlüberlegter entschiedener Wahl. Haben wir das Für und Wider genau erwogen und dann nach reiflicher Überlegung die Entscheidung getroffen, dass wir Gott zu unserem Teil erwählen, auf jede Gefahr hin? Haben wir uns hingesetzt und die Kosten überschlagen - was uns die Gottseligkeit kosten muss, das Darangeben der sündlichen Lüste, und was sie uns kosten kann, das Darangeben unseres Lebens? Haben wir uns entschlossen, in Kraft der Gnade uns zu Christo zu bekennen, wenn man mit Schwertern und mit Stangen über uns kommt, und mit ihm als Steuermann zu segeln, nicht nur in der Vergnügungsyacht, sondern auch im Kriegsschiff? Wenn ja, dann dürfen wir auch gewiss sein, dass er unser ist, dass nicht nur wir ihn, sondern er uns erwählt hat. Thomas Watson † 1690.
Als Mose sich vor solche Wahl gestellt sah, die Freuden Ägyptens auf der einen, Gott und sein Volk mit ihren Leiden auf der anderen Seite, da erwählte er viel lieber dieses als jenes (Hebr. 11,25). So sagt David von sich: Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt, deine Rechte habe ich vor mich gestellt; denn das heißt doch wählen, wenn etwas vor dir steht und du es betrachtest und ergreifst. Und so sagt Josua: Ich und mein Haus wollen dem HERRN dienen. John Preston † 1628.
V. 31. Ich hange an deinen Zeugnissen. Es ist beachtenswert, dass der Psalmist hier und in V. 25 (im Grundtext) dasselbe Wort gebraucht: Meine Seele klebt am Staube, ich klebe an deinen Zeugnissen. Dieser scheinbare Widerspruch aber verträgt sich durchaus mit den Erfahrungen des Gläubigen. Im Innern streiten zwei Mächte, die angeborene sündhafte Natur und die unsterbliche Gnade Gottes. Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch.
(Gal. 5,17), und der Mensch bricht in den Klageruf aus: Ich elender Mensch (Röm. 7,24). So liegt die Sache, und alle Gläubigen machen diese Erfahrung. Während die Seele sich nur zu häufig im Staube liegend, am Staube klebend weiß, ringt der Geist danach, an Gottes Zeugnissen zu hangen, und er fleht zum HERRN: Lass mich in diesem Kampfe nicht zu Schanden werden. Und wenn ihr euch nur fest an Christum haltet, meine Brüder, werdet ihr nicht zu Schanden werden. J. Stephen 1861.
V. 32. Wenn du mein Herz weit machst. (Wörtl.) Von Salomo heißt es 1. Kön. 5,9, dass Gott ihm ein weites Herz gab, so weit wie der Sand am Meere (es ist dort dasselbe Wort gebraucht, wie an unserer Psalmstelle); also einen weit umfassenden Geist, der tief in das Wesen der Dinge, der größten wie der kleinsten, einzudringen vermochte. Denn so verstehe ich den Ausdruck vom Weitmachen des Herzens, das eine Erleuchtung des Verstandes mit einbegreift. Dann strahlt dort ein helleres Licht auf, bei dessen Schein man geistliche Dinge geistlicher als zuvor ansieht und richtet und den weiten Unterschied zwischen den Eitelkeiten dieser Welt und der echten, dauernden Freude erkennt, die auf dem Wege der Gebote Gottes zu finden ist. Man erkennt das gleißnerische Lächeln der Sünde und ihrer Freuden und welche Hässlichkeit unter der glänzenden Maske verborgen ist, so dass man sich dadurch nicht mehr verführen lässt. Man dringt immer tiefer in die Erkenntnis Gottes, seiner Größe, Güte und Vollkommenheit ein, und dass er allein würdig ist, dass man ihm gehorche und diene. Das ist ein weites Aufgehen des Herzens und Verstandes, so dass die Reinheit und Schönheit des Gesetzes erkannt wird, seine Gerechtigkeit und Weisheit, ja auch seine Lieblichkeit und Milde, dass seine Gebote nicht einen finsteren, mürrischen Geist atmen, sondern wie lieblich duftende Gewürzgärtlein sind; je länger wir in ihnen umherwandeln, umso mehr werden wir von ihrem süßen Dufte erfreut. Erzbischof Rob. Leighton † 1684.
Mein Herz. Der große Arzt weiß sofort, wo er die Ursache zu suchen hat, wenn er sieht, dass etwas im äußeren Leben der Seinen nicht in Ordnung ist. Er weiß ganz genau, dass jedes geistliche Leiden ein Herzleiden ist und dass er darum Arzneien anwenden muss, die aufs Herz wirken. Das eine Mal beobachtet unser Arzt heftige, stürmische Krankheitserscheinungen, ein andermal solche, die große Schwäche und Hinfälligkeit verraten; aber beides, das weiß er, kommt vom Herzen, darum nimmt er auch das Herz in Angriff, wenn er eine Heilung bewirken will.
Es gibt viele Kinder Gottes, die, weil es ihnen an einem weiten, getrosten Herzen fehlt, zu keiner rechten Stellung in der Kirche Christi kommen können. Sie setzen ihre Hoffnung auf ein zukünftiges Leben in Jesum, und er wird sie auch gewiss nicht enttäuschen; er wird seinem Worte getreu sein, dass wer da glaubt, der selig werden wird. Aber leider sind sie noch in bedauerlichem Grade beschränkt, sie haben enge Herzen, keine weit gemachten, erfüllt mit dem Troste Gottes und darum getrost; ihre Vorstellungen von Gott und seinen Verheißungen, ihren eigenen Rechten und Ansprüchen und der Stellung, die sie in der Welt einnehmen sollen, sind sehr kleinlich und dürftig. Und wenn man ihnen das Zeugnis auch nicht versagen kann, dass sie auf den Wegen der Gebote Gottes stehen oder sitzen oder auch wandeln, dass sie darauf laufen, das kann man nicht von ihnen behaupten. Denn diese starke, kraftvolle Bewegung erfordert Willenskraft und ein gesundes Herz. Wirklich laufende Christen sind etwas so Ungewöhnliches, dass man sie für unsinnig hält. Ph. B. Power 1862.
Laufen bedeutet ein fröhliches, williges, eifriges Befolgen der Gebote Gottes; nicht ein gemächliches Gehen, sondern ein rasches Dahineilen. Wer das Ziel seiner Reise erreichen will, muss auf den Wegen von Gottes Geboten laufen. Es bedeutet einen augenblicklichen freudigen Gehorsam, ohne jedes Zögern. Wir müssen beizeiten mit Gott anfangen. Ach, wie viele von uns, die schon fast am Ziele angelangt sein sollten, haben sich kaum erst auf den Weg gemacht! Es bedeutet auch ein ernstliches Wollen; wenn einer sein Herz auf etwas gerichtet hat, so meint er, nicht früh genug damit anfangen zu können. Das heißt laufen, wenn wir es uns mit stürmischem Eifer angelegen sein lassen, auf dem Pfade des Gehorsams uns unseres Gottes und Jesu Christi zu erfreuen. - Solches Laufen ist die Folge der wirksamen Berufung. "Heiden, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen" (Jes. 55,5), und: "Zieh mich dir nach, so laufen wir" (Hohelied 1,4). Wenn Gott zieht, so kommt es zu einem unverzüglichen und unaufhaltsamen Dahineilen der Seele. - Solches Laufen ist aber auch sehr notwendig. Bewegungen ohne Feuer und Kraft erlahmen bald vor Schwierigkeiten und Versuchungen. Lasset uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist (Hebr. 12,1). Wenn ein Mensch sich fest vorgenommen hat, etwas auszuführen, so wappnet er sich mit Geduld, wenn er gehindert und geärgert wird, er geht seinen Weg weiter und lässt sich nicht auf Verhandlungen ein. Langsame Bewegung wird leicht zum Stillstand gebracht, während rasche, kräftige das Hindernis, das sich in den Weg stellt, leicht überwindet. Ebenso ist es auch mit den Menschen, wenn sie laufen und nicht müde werden im Dienste Gottes. Und schließlich: dem Laufenden winkt ein Preis. Laufet nun also, dass ihr das Kleinod ergreifet. (1. Kor. 9,24). Thomas Manton † 1677.
V. 29. Halte fern von mir den falschen Weg. David erkennt hier an, wie sehr er auch bereits in der Lehre des HERRN und in seiner Erkenntnis erfahren ist, wenngleich er ein Prophet ist, berufen, die anderen zu lehren, dass er trotzdem vielen schlechten Neigungen unterworfen sei, die ihn immerfort vom rechten Weg verführen könnten, wenn ihm nicht Gott seine starke Hand gereicht hätte. Das ist eine Stelle, die wir uns wohl merken müssen, denn wir sehen, wie sehr die Menschen sich über sich selber täuschen. Wenn jemand einen guten Anfang gemacht hat, so meint er, dass er schon am Ziel angelangt sei; wir denken nicht mehr daran, zu Gott zu beten, wenn er uns die Gnade erwiesen hat, uns in seinen Dienst zu nehmen. Wenn wir erst eine Tat vollbracht haben, dann spreizen wir unsere Flügel aus und bespiegeln uns in unseren Tugenden. Kurz, es dünkt uns, dass der Teufel nichts mehr gegen uns ausrichten könne. Diese törichte Selbstüberhebung ist die Ursache, dass Gott uns auf Abwege geraten lässt, dass wir so manchen schweren Fall tun, so schwer, dass wir dabei Arm und Bein brechen, ja sehr in Gefahr stehen, den Hals zu brechen, ich meine nicht leiblich, sondern an der Seele. Sehen wir nur David selbst an, er hat die Erfahrung gemacht. Es ist ihm geschehen, sich auf abscheuliche und hinterlistige Weise zu vergehen, da er Bathseba, das Weib des Uria, seines Untertanen, nahm und mit ihr Unzucht trieb, und da er die Veranlassung zu einem so verdammungswürdigen Morde gewesen war, noch dazu von mehreren Personen, dass es nicht an ihm gelegen hat, dass das Heer Gottes und das ganze Israel keine Niederlage erlitt. Das war die allzu große Sorglosigkeit Davids, und darum sagt er: Ach HERR, führe mich so, dass ich entfernt bleibe vom Wege der Lüge. Jean Calvin † 1564.
Der Prophet begehrt von Gott stark gemacht zu werden gegen alle Verderbnisse in Lehre und Wandel, die Satan mit seinen klugen und verschlagenen Werkzeugen in der Welt zu verbreiten sucht. Diese Verführungen werden der Weg der Lüge genannt, 1) weil sie von Satan, dem Vater der Lüge, erfunden sind; 2) weil sie begünstigt und unterstützt werden von dem menschlichen Verstande, diesem Sammelplatze von Lügen; 3) weil sie zu sein scheinen, was sie nicht sind, was ein Kennzeichen der Lüge ist; 4) weil sie Gott und seiner Wahrheit, den Offenbarern aller Lüge, widerstreiten. R. Greenham † 1591.
V. 30. Hier sehen wir in das innere Leben einer begnadigten Seele. Den Weg der Wahrheit erwählen, das ist mehr, als bloß dasitzen und dem Worte zuhören und keine Einwendungen dagegen machen. Und doch ist dies Letztere alles, was man im besten Fall von der Mehrheit der Hörer des Evangeliums behaupten kann. Wir könnten nur hinzufügen, dass niemand sich so leicht wie diese gewohnheitsmäßigen Hörer durch Verkündigung eines falschen, bequemen Weges des Heils betören lässt; sie stimmen eben unterschiedslos allem zu, was ihnen vorgepredigt wird. Ganz anders, wer von Gott sich lehren lässt. Bei ihm kommt es zu bestimmter Wahl, er entscheidet sich für den Weg der Wahrheit und kann nicht anders, er folgt dem Zuge, der in seiner Seele mächtig ist. John Stephen 1861.
Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Ja, erwählt. Die Gottseligkeit ist nicht eine Sache des Zufalls, sondern wohlüberlegter entschiedener Wahl. Haben wir das Für und Wider genau erwogen und dann nach reiflicher Überlegung die Entscheidung getroffen, dass wir Gott zu unserem Teil erwählen, auf jede Gefahr hin? Haben wir uns hingesetzt und die Kosten überschlagen - was uns die Gottseligkeit kosten muss, das Darangeben der sündlichen Lüste, und was sie uns kosten kann, das Darangeben unseres Lebens? Haben wir uns entschlossen, in Kraft der Gnade uns zu Christo zu bekennen, wenn man mit Schwertern und mit Stangen über uns kommt, und mit ihm als Steuermann zu segeln, nicht nur in der Vergnügungsyacht, sondern auch im Kriegsschiff? Wenn ja, dann dürfen wir auch gewiss sein, dass er unser ist, dass nicht nur wir ihn, sondern er uns erwählt hat. Thomas Watson † 1690.
Als Mose sich vor solche Wahl gestellt sah, die Freuden Ägyptens auf der einen, Gott und sein Volk mit ihren Leiden auf der anderen Seite, da erwählte er viel lieber dieses als jenes (Hebr. 11,25). So sagt David von sich: Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt, deine Rechte habe ich vor mich gestellt; denn das heißt doch wählen, wenn etwas vor dir steht und du es betrachtest und ergreifst. Und so sagt Josua: Ich und mein Haus wollen dem HERRN dienen. John Preston † 1628.
V. 31. Ich hange an deinen Zeugnissen. Es ist beachtenswert, dass der Psalmist hier und in V. 25 (im Grundtext) dasselbe Wort gebraucht: Meine Seele klebt am Staube, ich klebe an deinen Zeugnissen. Dieser scheinbare Widerspruch aber verträgt sich durchaus mit den Erfahrungen des Gläubigen. Im Innern streiten zwei Mächte, die angeborene sündhafte Natur und die unsterbliche Gnade Gottes. Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch.
(Gal. 5,17), und der Mensch bricht in den Klageruf aus: Ich elender Mensch (Röm. 7,24). So liegt die Sache, und alle Gläubigen machen diese Erfahrung. Während die Seele sich nur zu häufig im Staube liegend, am Staube klebend weiß, ringt der Geist danach, an Gottes Zeugnissen zu hangen, und er fleht zum HERRN: Lass mich in diesem Kampfe nicht zu Schanden werden. Und wenn ihr euch nur fest an Christum haltet, meine Brüder, werdet ihr nicht zu Schanden werden. J. Stephen 1861.
V. 32. Wenn du mein Herz weit machst. (Wörtl.) Von Salomo heißt es 1. Kön. 5,9, dass Gott ihm ein weites Herz gab, so weit wie der Sand am Meere (es ist dort dasselbe Wort gebraucht, wie an unserer Psalmstelle); also einen weit umfassenden Geist, der tief in das Wesen der Dinge, der größten wie der kleinsten, einzudringen vermochte. Denn so verstehe ich den Ausdruck vom Weitmachen des Herzens, das eine Erleuchtung des Verstandes mit einbegreift. Dann strahlt dort ein helleres Licht auf, bei dessen Schein man geistliche Dinge geistlicher als zuvor ansieht und richtet und den weiten Unterschied zwischen den Eitelkeiten dieser Welt und der echten, dauernden Freude erkennt, die auf dem Wege der Gebote Gottes zu finden ist. Man erkennt das gleißnerische Lächeln der Sünde und ihrer Freuden und welche Hässlichkeit unter der glänzenden Maske verborgen ist, so dass man sich dadurch nicht mehr verführen lässt. Man dringt immer tiefer in die Erkenntnis Gottes, seiner Größe, Güte und Vollkommenheit ein, und dass er allein würdig ist, dass man ihm gehorche und diene. Das ist ein weites Aufgehen des Herzens und Verstandes, so dass die Reinheit und Schönheit des Gesetzes erkannt wird, seine Gerechtigkeit und Weisheit, ja auch seine Lieblichkeit und Milde, dass seine Gebote nicht einen finsteren, mürrischen Geist atmen, sondern wie lieblich duftende Gewürzgärtlein sind; je länger wir in ihnen umherwandeln, umso mehr werden wir von ihrem süßen Dufte erfreut. Erzbischof Rob. Leighton † 1684.
Mein Herz. Der große Arzt weiß sofort, wo er die Ursache zu suchen hat, wenn er sieht, dass etwas im äußeren Leben der Seinen nicht in Ordnung ist. Er weiß ganz genau, dass jedes geistliche Leiden ein Herzleiden ist und dass er darum Arzneien anwenden muss, die aufs Herz wirken. Das eine Mal beobachtet unser Arzt heftige, stürmische Krankheitserscheinungen, ein andermal solche, die große Schwäche und Hinfälligkeit verraten; aber beides, das weiß er, kommt vom Herzen, darum nimmt er auch das Herz in Angriff, wenn er eine Heilung bewirken will.
Es gibt viele Kinder Gottes, die, weil es ihnen an einem weiten, getrosten Herzen fehlt, zu keiner rechten Stellung in der Kirche Christi kommen können. Sie setzen ihre Hoffnung auf ein zukünftiges Leben in Jesum, und er wird sie auch gewiss nicht enttäuschen; er wird seinem Worte getreu sein, dass wer da glaubt, der selig werden wird. Aber leider sind sie noch in bedauerlichem Grade beschränkt, sie haben enge Herzen, keine weit gemachten, erfüllt mit dem Troste Gottes und darum getrost; ihre Vorstellungen von Gott und seinen Verheißungen, ihren eigenen Rechten und Ansprüchen und der Stellung, die sie in der Welt einnehmen sollen, sind sehr kleinlich und dürftig. Und wenn man ihnen das Zeugnis auch nicht versagen kann, dass sie auf den Wegen der Gebote Gottes stehen oder sitzen oder auch wandeln, dass sie darauf laufen, das kann man nicht von ihnen behaupten. Denn diese starke, kraftvolle Bewegung erfordert Willenskraft und ein gesundes Herz. Wirklich laufende Christen sind etwas so Ungewöhnliches, dass man sie für unsinnig hält. Ph. B. Power 1862.
Laufen bedeutet ein fröhliches, williges, eifriges Befolgen der Gebote Gottes; nicht ein gemächliches Gehen, sondern ein rasches Dahineilen. Wer das Ziel seiner Reise erreichen will, muss auf den Wegen von Gottes Geboten laufen. Es bedeutet einen augenblicklichen freudigen Gehorsam, ohne jedes Zögern. Wir müssen beizeiten mit Gott anfangen. Ach, wie viele von uns, die schon fast am Ziele angelangt sein sollten, haben sich kaum erst auf den Weg gemacht! Es bedeutet auch ein ernstliches Wollen; wenn einer sein Herz auf etwas gerichtet hat, so meint er, nicht früh genug damit anfangen zu können. Das heißt laufen, wenn wir es uns mit stürmischem Eifer angelegen sein lassen, auf dem Pfade des Gehorsams uns unseres Gottes und Jesu Christi zu erfreuen. - Solches Laufen ist die Folge der wirksamen Berufung. "Heiden, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen" (Jes. 55,5), und: "Zieh mich dir nach, so laufen wir" (Hohelied 1,4). Wenn Gott zieht, so kommt es zu einem unverzüglichen und unaufhaltsamen Dahineilen der Seele. - Solches Laufen ist aber auch sehr notwendig. Bewegungen ohne Feuer und Kraft erlahmen bald vor Schwierigkeiten und Versuchungen. Lasset uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist (Hebr. 12,1). Wenn ein Mensch sich fest vorgenommen hat, etwas auszuführen, so wappnet er sich mit Geduld, wenn er gehindert und geärgert wird, er geht seinen Weg weiter und lässt sich nicht auf Verhandlungen ein. Langsame Bewegung wird leicht zum Stillstand gebracht, während rasche, kräftige das Hindernis, das sich in den Weg stellt, leicht überwindet. Ebenso ist es auch mit den Menschen, wenn sie laufen und nicht müde werden im Dienste Gottes. Und schließlich: dem Laufenden winkt ein Preis. Laufet nun also, dass ihr das Kleinod ergreifet. (1. Kor. 9,24). Thomas Manton † 1677.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
33.
Zeige mir, HERR, den Weg deiner Rechte,
dass ich sie bewahre bis ans Ende.
34.
Unterweise mich, dass ich bewahre dein Gesetz
und halte es von ganzem Herzen.
35.
Führe mich auf dem Steige deiner Gebote;
denn ich habe Lust dazu.
36.
Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen
und nicht zum Geiz.
37.
Wende meine Augen ab, dass sie nicht sehen nach unnützer Lehre,
sondern erquicke mich auf deinen Wegen.
38.
Lass deinen Knecht dein Gebot fest für dein Wort halten,
dass ich dich fürchte.
39.
Wende von mir die Schmach, die ich scheue;
denn deine Rechte sind lieblich.
40.
Siehe, ich begehre deiner Befehle;
erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit.
Ein tiefes Gefühl der Abhängigkeit von Gott und das Bewusstsein äußerster Hilfsbedürftigkeit macht sich in diesem Abschnitt geltend, der ganz aus Bitten und deren Begründungen besteht. In den vorhergehenden acht Versen fanden wir den Psalmdichter von dem Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit bewegt, er erzitterte unter einem kindlichen Gefühl der Schwäche und Unerfahrenheit. Dies veranlasste den Mann Gottes, sich Hilfe suchend an den zu wenden, der allein seine Seele vor dem Rückfallen in die Sünde bewahren konnte.
33. Zeige mir (oder unterweise mich, Luther 1521), HERR, den Weg deiner Rechte. Welch kindlich einfältige, selige Worte aus dem Munde eines alten, erfahrenen Gläubigen, der dazu ein König und ein vom Heiligen Geiste erfüllter Gottesmann war. O über die Unglücklichen, die sich nie wollen lehren lassen! Sie sind vernarrt in ihre eigene Weisheit; aber ihre Torheit ist offenkundig für alle, die ein richtiges Urteil haben. Der Psalmist wünscht vom HERRN selbst unterwiesen zu werden; er fühlt, dass sein Herz sich von einem weniger erfolgreichen Lehrer nicht werde belehren lassen. Das Bewusstsein, dass wir so schwerfällig und ungelehrig sind, treibt uns an, den besten Lehrer zu suchen. Welche Güte von unserem großen Gott, dass er sich herablässt, die zu unterweisen, die sich Erleuchtung suchend an ihn wenden. Der Unterricht, der hier begehrt wird, ist durchaus praktischer Art; der Gottesmann will nicht bloß die Rechte oder Gebote des HERRN lernen, sondern den Weg derselben, ihre Richtung und Absicht, den Sinn, worauf sie zielen, und die Weise, wie er sie im täglichen Leben erfüllen soll. Er begehrt den heiligen Weg zu wissen, der durch das göttliche Gesetz eingezäunt ist und an dessen Rand die Gebote des HERRN stehen, sowohl als Merksteine der Richtung, die uns zeigen, wie wir weiterkommen können, wie auch als Meilensteine, an denen wir sehen können, ob und wie weit wir vorangeschritten. Das ernstliche Begehren, auf diesem Wege geleitet zu werden, bietet uns in sich schon die Gewähr, dass uns Unterweisung zuteilwerden wird; denn der in uns das Verlangen nach Belehrung gewirkt hat, wird es sicher auch befriedigen.
Und ich will ihn (den Weg, Grundtext) bewahren bis ans Ende. Wer von Gott gelehrt wird, vergisst das Gelernte nicht wieder. Wenn die Gnade Gottes einen Menschen auf den rechten Weg gebracht hat, wird er diesem Wege auch treu bleiben. Menschenwitz und Menschenwille freilich haben keinen solchen ausdauernden Einfluss. Von allem irdischen Vollkommenen gibt es ein Ende (V. 96 Grundtext), eine Grenze, auf die es beschränkt ist, die himmlische Gnade aber hat kein Ende außer dem Endziel, das sie sich selbst gesteckt hat, nämlich die Vollendung der Heiligung in der Furcht Gottes (2. Kor. 7,1). Dass sie bis ans Ende in der Gnade beharren werden, darf man denen mit voller Gewissheit voraussagen, deren Anfang in Gott, mit Gott und durch Gott ist. Die aber ohne göttliche Belehrung beginnen, vergessen bald wieder, was sie lernen, und weichen von dem Wege ab, den eingeschlagen zu haben sie einst bekannten. Keiner darf sich rühmen, dass er aus eigener Kraft auf dem rechten Wege bleiben werde, denn wir sind darin ganz von dem fortwährenden Lehren des HERRN abhängig. Wir werden fallen wie Petrus, wenn wir gleich ihm uns auf unsere Festigkeit verlassen. Wenn Gott uns hält, dann werden wir auch seinen Weg einhalten können, und es ist ein großer Trost, zu wissen, dass es unseres Gottes Lust und Ehre ist, die Füße seiner Heiligen zu behüten (1. Samuel 2,9). Dennoch gilt es für uns, achtsam zu sein, als ob es ganz von uns abhinge, dass wir den Weg einhalten; denn nach dem vorliegenden Vers beruht unser Beharren nicht auf zwingender Gewalt, sondern auf der Unterweisung des HERRN. Zur Unterweisung aber gehört auf der anderen Seite das Lernen, mag der Lehrer sein, wer er wolle; niemand kann einen belehren, der sich weigert zu lernen. Darum so lasst uns die göttliche Unterweisung mit Begier ins Herz aufnehmen, damit wir festhalten an unserer Frömmigkeit
(Hiob 2,3) und bis zum letzten Augenblicke unseres Lebens auf dem Pfad der Gerechtigkeit wandeln! Nehmen wir den lebendigen und unvergänglichen Samen des Wortes Gottes in uns auf, so kann es nicht anders sein, wir werden leben; ohne dieses aber haben wir kein ewiges Leben, höchstens den Namen, dass wir leben.
Bis ans Ende, bis zuletzt, also immerdar möchte der Psalmist gehorsam sein. Er vertraut der Gnade, dass sie ihn ganz getreu machen werde, so dass er niemals dem Gehorsam eine Schranke ziehen und sprechen werde: Bis dahin und nicht weiter! Erst mit unserem letzten Atemzuge soll unser Bewahren des Gesetzes ein Ende haben; kein gottesfürchtiger Mensch wird auf den Gedanken kommen, eines Tages zu sagen: "Nun ist’s genug, jetzt kann ich in meiner Wachsamkeit nachlassen und leben wie andere Leute!" Wie Christus uns liebt bis ans Ende (Joh. 13,1), so müssen wir ihm dienen bis ans Ende. Das ist das Endziel der göttlichen Unterweisung, dass wir beharren bis ans Ende.
Die Abschnitte des Psalms zeigen noch immer einen gewissen inneren Zusammenhang. Die dritte Gruppe begann mit der Bitte des Knechtes Gottes um Leben, damit er Gottes Wort halte (V. 17), in der vierten flehte er im Anfangsverse um Neubelebung nach dem Wort des HERRN (V. 25), und die vorliegende hebt an mit der Bitte um Unterweisung, damit er den Weg der Gebote Gottes bis ans Ende bewahre. Wer mit scharfem Auge diese Verse betrachtet, dem wird die innige Zusammengehörigkeit nicht entgehen.
34. Unterweise mich (oder, wie L. 1521 übersetzt, verständige mich, d. h., wie Delitzsch es frei umschreibt, gib mir hellen Verstand), dass ich bewahre dein Gesetz. Das ist die nämliche Bitte wie im vorigen Vers, nur vertieft. Er bedarf nicht nur eines Lehrers, sondern auch der Fähigkeit zu lernen. Es ist weit mit uns gekommen unter dem Fluch der Sünde; wir sind ganz unfähig, geistliche Dinge zu erfassen, bis uns das Vermögen dazu von oben her verliehen wird. Will Gott uns wirklich geistlich gesunden Verstand geben? Das ist ein Wunder der Gnade. Dieses Wunder wird aber nicht eher an uns gewirkt werden, als wenn uns selbst zum Bewusstsein gekommen ist, wie sehr wir desselben bedürfen. Und nicht einmal diese Bedürftigkeit entdecken wir aus uns selbst, Gott muss uns erst wieder ein gewisses Maß von Verständnis dafür aufgehen lassen. Unser Naturverderben ist ein ganz verwickelter Krankheitszustand, aus dem nur die Gnade mit der Mannigfaltigkeit ihrer heilenden Kräfte uns retten kann. Alle, die ihre Unverständigkeit fühlen, dürfen aus dem Beispiel des Psalmisten Mut fassen, um Erleuchtung zu bitten. Möge ein jeder im Glauben bitten: Hellen Verstand gib mir! Haben doch andere diese geistliche Gabe bekommen, warum sollte nicht auch ich sie empfangen von dem HERRN, der so gerne gibt?
Diese Gnadengabe sollen wir nicht suchen, um an Weisheit berühmt zu werden, sondern damit unsere Liebe zu Gottes Gesetz reichlich wachse und zunehme. Wer geistliches Verständnis hat, der wird die Gebote des HERRN lernen, sie sich einprägen und als einen Schatz bewahren und ihnen gehorchen. Das Evangelium verleiht uns die Kraft, das Gesetz zu halten; die freie Gnade wirbt uns zu heiligem Dienst. Es gibt kein Mittel, zur Heiligkeit zu gelangen, als indem wir die Gabe Gottes annehmen. Wenn Gott uns Gnade gibt, dann halten wir das Gesetz, nicht aber halten wir das Gesetz, um Gnade zu erlangen. Die Wiedergeburt, in der auch die Erneuerung unseres Verständnisses eingeschlossen ist, hat zur sicheren Folge, dass wir mit Ehrfurcht vor dem Gesetz des HERRN erfüllt werden und es mit ganzer Entschlossenheit im Herzen bewahren. Der Geist Gottes lehrt uns den HERRN erkennen, dass wir wenigstens etwas von seiner Liebe, seiner Weisheit, seiner Heiligkeit und Herrlichkeit begreifen, und da können wir nicht anders, als seinen Willen in Ehren halten und unsere Herzen dem Gehorsam des Glaubens hingeben.
Und halte es von ganzem Herzen. Die Einsicht wirkt auf den Willen, auf die Neigungen. Das erleuchtete geistliche Verständnis überführt das Herz von der Schönheit des Gesetzes und erfüllt die Seele mit brennender Liebe zu demselben; sodann enthüllt es die Hoheit und Herrlichkeit des Gesetzgebers, so dass unser ganzes Wesen sich vor seinem erhabenen Willen neigt. Ein erleuchtetes Urteil heilt das Herz von seiner Zwiespältigkeit und richtet die Kräfte des Gemütes alle miteinander in die eine Bahn der gewissenhaften Beobachtung der einen Lebensregel. Der allein ist Gott gehorsam, der sagen kann: "Mein Herr und Gott, dir will ich dienen, und das von ganzem Herzen." Niemand aber vermag dies in Wahrheit zu sagen, es sei denn, er habe als freie Gabe die innere Erleuchtung durch den Heiligen Geist empfangen. Gottes Gesetz von ganzem Herzen und zu allen Zeiten zu halten ist eine große Gnade, und wenige sind ihrer, die sie finden; doch ist sie zu haben, wenn wir darein willigen, uns von dem HERRN unterweisen zu lassen.
Beachten wir, dass schon V. 2 und V. 10 der Ausdruck "von ganzem Herzen" gebraucht ist, und zwar in Beziehung auf das Suchen des HERRN, und ebenso wieder V. 58 in Beziehung auf das Flehen um Gnade. Diese Verse sind, wie unser V. 34, jeweils der zweite in ihrer Gruppe. Die Wiederholung des Ausdrucks mag uns zeigen, welch ein wichtig Ding es um ungeteilte Liebe ist. Es gibt keine Heiligkeit, wo das Herz noch geteilt ist. Unser Herz kann nicht mit Gott eins sein, solange es in sich selber noch nicht eins ist.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
35. Führe mich auf dem Steige (oder: lass mich treten auf den Steig) deiner Gebote; denn ich habe Lust dazu. "Wollen habe ich wohl; aber vollbringen das Gute finde ich nicht." (Röm. 7,18.) Du hast mich dahin gebracht, dass ich an dem Wege, den deine Gebote vorschreiben, Gefallen habe; nun mach auch, dass ich darauf wandele. Der Weg ist gut, andere wandeln ihn durch deine Gnade, ich sehe ihn vor mir liegen und habe Lust dazu; so lass auch mich darauf einherschreiten dem Ziele zu. Das ist der Ruf eines Kindes, das so gerne gehen möchte, aber zu schwach dazu ist, eines Pilgers, der sich ganz erschöpft fühlt und doch danach brennt, vorwärts zu eilen, eines Lahmen, der sich sehnt, laufen zu können. Wohl dem, der zu der Heiligkeit Lust hat; gewiss wird der, der in uns dies Wohlgefallen am Göttlichen gewirkt hat, uns auch die noch höhere Freude geben, diese Heiligkeit zu erlangen und zu betätigen. Das ist unsere einzige Hoffnung; denn wir werden nie auf dem schmalen Wege wandeln, es sei denn, dass die Kraft unseres Schöpfers selbst uns dahin bringt. O HERR, der du mich einst geschaffen hast, ich bitte dich, schaffe du mich neu; du hast mir den Weg zu wissen gegeben, nun mache mich auch darauf wandeln! Ich werde ja nie glücklich sein, ehe ich soweit bin; ist doch das einzige, was mein Herz wirklich erfreuen kann, dass ich wandele nach deinem Willen.
Der Psalmdichter bittet den HERRN nicht, für ihn zu tun, was er selber tun soll. Er verlangt nicht, getragen zu werden, wobei er selber in bequemer Untätigkeit verharren würde, sondern er bittet: Bewirke du, dass ich gehe. Gehen will er selber. Die Gnade behandelt uns nicht als Holzklötze oder Blöcke von Stein, die mit Pferden oder Dampfmaschinen fortgeschleppt werden müssen, sondern als lebendige, mit Vernunft, Willen und Kraft des Handelns begabte Geschöpfe, die bereit und fähig sind, selber zu gehen, wenn nur die in ihnen vorhandenen Kräfte entbunden sind. Gott wirkt in uns, jawohl, aber er wirkt in uns das Wollen und das Vollbringen zu seinem Wohlgefallen. Die Heiligkeit, nach der wir trachten, ist nicht ein erzwungenes Halten des Gebotes, sondern die Befriedigung einer leidenschaftlichen, das ganze Herz erfüllenden Sehnsucht nach dem Guten, deren Ziel ist, dass unser Leben in allen Stücken nach dem Willen des HERRN gestaltet wird.
Kannst du, lieber Leser, sagen: Ich habe Lust dazu? Ist tatsächlich in Gesinnung und Wandel ausgeübte Gottseligkeit das Kleinod, nach dem deine Seele trachtet, der Kampfpreis, dem all dein Dichten und Trachten gilt? Wenn ja, dann wird dein Lebensweg, so rauh er sein mag, dennoch unsträflich sein und dich aufwärts führen zu unaussprechlichen Freuden. Wer am Gesetz des HERRN seine Lust hat, der zweifle nicht, dass er auch in den Stand gesetzt werden wird, auf dessen Wegen zu wandeln; denn wo das Herz schon seine Freude findet, da werden die Füße bald folgen.
In dem entsprechenden dritten Vers der vorigen Gruppe (V. 27) bat der Dichter: "Lehre mich den Weg deiner Befehle verstehen", und hier heißt es: "Lass mich gehen auf dem Steig deiner Gebote." Beachten wir die Ordnung: erst verstehen, dann gehen. Klare Einsicht ist von großem Wert für das praktische Handeln.
Der vierte Vers, zu dem wir nun kommen, erinnert an die vorhergehenden vierten durch seine Innigkeit.
36. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen. Erscheint diese Bitte nicht überflüssig, da es dem Psalmisten doch augenscheinlich schon sehr um Gehorsam zu tun war? Wir sind aber gewiss, dass niemals in der Schrift ein Wort zu viel ist. Nachdem der Gottesmann gebeten, dass Gott ihm einen frommen Wandel geben möge, ist es ganz angemessen, dass er nun auch darum bittet, dass in allem seinem Tun sein Herz dabei sei. Wie würde sich sein Gang gestalten, wenn sein Herz nicht mitginge? Es mag sein, dass David in sich eine Neigung verspürte, vom schmalen Steige auf allerlei Abwege abzuweichen, vor allem auch einen ungeziemenden Hang zu irdischen Gütern; vielleicht drängten sich solche Gelüste selbst in den heiligsten Stunden der Andacht in seine Seele ein. Da fleht er sofort um mehr Gnade. Das einzige Mittel, eine falsche Neigung des Herzens zu heilen, ist, dass man die Seele nach der entgegengesetzten Richtung wendet. Heiligkeit des Herzens ist die beste Kur gegen die Habsucht und alle Lüsternheit. Wie gut, dass wir den HERRN selbst um die Neigung zu etwas bitten dürfen!
Unser Wille ist frei; doch vermag die Gnade es, ohne diese Freiheit zu vergewaltigen, uns in die rechte Richtung zu bringen. Dies kann geschehen, indem sie unser Verständnis erleuchtet, dass es die Vortrefflichkeit des Gehorsams erkennt, ferner indem sie uns in der Gewöhnung zur Tugend kräftigt, dadurch dass wir zu erfahren bekommen, wie lieblich die Gottseligkeit ist, und auf vielerlei andere Weise. Wenn wir je fühlen, dass eine Pflicht uns eine Last ist, ziemt es uns, diese Bitte mit besonderer Beziehung darauf an den HERRN zu richten. Wir sollen alle Zeugnisse des HERRN lieb haben, und wenn wir in irgendeinem Stück zurückbleiben, so müssen wir darauf unsere besondere Aufmerksamkeit und Mühe wenden. Wohin sich unser Herz neigt, dahin wird auch die Richtung unseres Lebens gehen; daher die Wichtigkeit der Bitte: Neige mein Herz. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir uns von einer ständigen Neigung zu allem Guten beseelt fühlen! Das ist nicht die Richtung, in der je ein fleischliches Herz geneigt ist; seine Neigungen laufen vielmehr alle den Zeugnissen Gottes zuwider.
Und nicht zum Geiz, zur Gewinnsucht. Dahin geht die Neigung des Herzens von Natur, und die Gnade muss mit ganzer Kraft ihr entgegenwirken. Das Laster der Habsucht ist ebenso verderblich, wie es allgemein verbreitet ist, ebenso niederträchtig, wie es armselig ist. Der Geiz ist Götzendienst, er setzt den Mammon an Stelle Gottes auf den Thron; die Habsucht ist ein Stück der Selbstsucht und ist daher grausam gegen jedermann, wo sie die Macht dazu hat; es ist eine schmutzige Gier, die schließlich selbst den Herrn um etliche Silberlinge verkauft. Der Geiz ist eine entwürdigende, niederträchtig einherschleichende, das Herz verhärtende, mörderische Sünde, unter deren Hauch alles, was lieblich und christusähnlich ist, verwelkt und erstirbt. Der Habsüchtige ist von dem Geschlecht des Judas und wird höchst wahrscheinlich selber auch sich schließlich als ein Kind des Verderbens (Joh. 17,12) erweisen. Das Laster des Geizes ist ungemein häufig, aber sehr wenige nur gestehen es von sich ein; denn wenn jemand in seinem Herzen Gold aufhäuft, so fliegt ihm der Staub davon in die Augen, dass er seinen eigenen Fehler nicht sehen kann. Unser Herz muss etwas haben, woran es hängt, und das einzige Mittel, zu verhindern, dass die irdische Gewinnsucht eindringe, ist, dass wir die Zeugnisse des HERRN an die Stelle setzen. Sind wir nach einer Richtung hingeneigt, so sind wir der anderen abgeneigt; das sicherste Mittel, einer Untugend zu entgehen und sie zu überwinden, ist, dass wir uns der Gnade hingeben, die die jener entgegengesetzte Tugend unfehlbar in uns wirken wird.
37. Wende meine Augen ab, dass sie nicht sehen nach dem Eitlen. (Grundtext) Der Psalmist hatte in Betreff seines Herzens zu Gott gebetet, und man sollte meinen, seine Augen hätten doch gewiss so unter dem Einfluss seines Herzens gestanden, dass keine Veranlassung vorlag, sie noch besonders zu einem Gebetsgegenstand zu machen. Aber der Psalmist will ganz sicher gehen und darum lieber doppelte Gewissheit haben. Wenn die Augen das Eitle nicht sehen, dann kommt auch in dem Herzen vielleicht kein Begehren auf; auf jeden Fall ist der Versuchung eine Haupttür verschlossen, wenn wir nach dem bunten Tand nicht einmal hinblicken. Durch das Auge fand die Sünde zuerst ihren Eingang in das Menschenherz, und bis heute noch ist das Auge des Satans Lieblingstür, durch die er sich mit seinen Verlockungen einschleicht; daher die Notwendigkeit, an diesem Tor die Wache zu verdoppeln.
Unser Vers bittet aber nicht so sehr um geschlossene als vielmehr um abgewendete Augen; denn offene Augen müssen wir haben, nur müssen sie auf die richtigen Gegenstände gerichtet sein. Vielleicht blicken wir eben jetzt auf Törichtes und bedürfen einer energischen Abkehr; und auch wenn wir himmlische Dinge betrachten, werden wir gut tun, zu bitten, dass unsere Augen vom Eitlen abgehalten werden mögen. Weshalb sollten wir auch nach dem Eitlen schauen? Es schwindet wie ein Rauch. Warum nicht lieber nach dem Ewigen blicken? Des Fleisches Lust, der Augen Lust, hoffärtiges Leben, unrecht Gut, Eigendünkel, kurzum alles, was nicht von Gott ist, fällt unter diese Bezeichnung. Von dem allem müssen wir uns abkehren. Es ist ein Beweis, wie schwach der Psalmist sich selber fühlte und wie völlig von Gott abhängig, wenn er sogar darum bittet, dass die Augen ihm abgewendet werden; nicht dass er etwa vorhätte, das in träger Untätigkeit an sich geschehen zu lassen, er will nur hervorheben, wie völlig hilflos er ohne den Beistand der Gnade Gottes ist. Befürchtend, er könnte sich vergessen und mit zögerndem Verlangen nach dem Verbotenen zurückschauen, fleht er zum HERRN, er möge geben, dass er schnell seine Augen abwende, möge eilend ihn von solch gefährlichem Unterhandeln mit der Ungerechtigkeit abbringen. Wenn wir davor bewahrt bleiben, nach dem Unnützen hinzuschauen, so werden wir auch davor behütet werden, das Sündige zu lieben.
Sondern erquicke mich, d. h. belebe mich (siehe zu V. 25), auf deinem Wege. Erfülle mich so mit Leben, dass die tote Eitelkeit keine Macht mehr über mich hat. Gib mir Kraft, so munter und hurtig auf dem Wege zum Himmel voranzuschreiten, dass ich das Eitle nicht lange genug in Sicht behalte, um davon gefesselt zu werden. Die Bitte weist uns hin auf eines unserer größten Bedürfnisse: mehr muntere Beweglichkeit und Tatkraft in unserem Gehorsam. Sie zeigt uns die behütende Macht eines frischeren Geisteslebens gegenüber dem Bösen, das uns umgibt. Sie sagt uns aber auch, woher solche Neubelebung und Kräftigung kommen muss: vom HERRN allein. Eitelkeit ist Tod, und gegen den Tod gibt es kein besseres Mittel als Lebenskraft von oben. Erfüllt die Gnade das Herz, so werden auch die Augen von der Unreinigkeit erlöst. Und wiederum, wollen wir voll Eifer und Tatkraft für das Göttliche sein, so müssen wir uns von aller Sünde und Torheit fernhalten, sonst werden unsere Augen nur zu bald unseren Sinn gefangen nehmen, und gleich Simson, der doch tausend zu schlagen vermochte, können wir selber zu Überwundenen werden durch die Lüste, die durch das Auge ihren Eingang finden.
Dieser Vers steht in naher Beziehung zu V. 29, dem fünften des vorigen Abschnitts.
Der Psalmdichter bittet den HERRN nicht, für ihn zu tun, was er selber tun soll. Er verlangt nicht, getragen zu werden, wobei er selber in bequemer Untätigkeit verharren würde, sondern er bittet: Bewirke du, dass ich gehe. Gehen will er selber. Die Gnade behandelt uns nicht als Holzklötze oder Blöcke von Stein, die mit Pferden oder Dampfmaschinen fortgeschleppt werden müssen, sondern als lebendige, mit Vernunft, Willen und Kraft des Handelns begabte Geschöpfe, die bereit und fähig sind, selber zu gehen, wenn nur die in ihnen vorhandenen Kräfte entbunden sind. Gott wirkt in uns, jawohl, aber er wirkt in uns das Wollen und das Vollbringen zu seinem Wohlgefallen. Die Heiligkeit, nach der wir trachten, ist nicht ein erzwungenes Halten des Gebotes, sondern die Befriedigung einer leidenschaftlichen, das ganze Herz erfüllenden Sehnsucht nach dem Guten, deren Ziel ist, dass unser Leben in allen Stücken nach dem Willen des HERRN gestaltet wird.
Kannst du, lieber Leser, sagen: Ich habe Lust dazu? Ist tatsächlich in Gesinnung und Wandel ausgeübte Gottseligkeit das Kleinod, nach dem deine Seele trachtet, der Kampfpreis, dem all dein Dichten und Trachten gilt? Wenn ja, dann wird dein Lebensweg, so rauh er sein mag, dennoch unsträflich sein und dich aufwärts führen zu unaussprechlichen Freuden. Wer am Gesetz des HERRN seine Lust hat, der zweifle nicht, dass er auch in den Stand gesetzt werden wird, auf dessen Wegen zu wandeln; denn wo das Herz schon seine Freude findet, da werden die Füße bald folgen.
In dem entsprechenden dritten Vers der vorigen Gruppe (V. 27) bat der Dichter: "Lehre mich den Weg deiner Befehle verstehen", und hier heißt es: "Lass mich gehen auf dem Steig deiner Gebote." Beachten wir die Ordnung: erst verstehen, dann gehen. Klare Einsicht ist von großem Wert für das praktische Handeln.
Der vierte Vers, zu dem wir nun kommen, erinnert an die vorhergehenden vierten durch seine Innigkeit.
36. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen. Erscheint diese Bitte nicht überflüssig, da es dem Psalmisten doch augenscheinlich schon sehr um Gehorsam zu tun war? Wir sind aber gewiss, dass niemals in der Schrift ein Wort zu viel ist. Nachdem der Gottesmann gebeten, dass Gott ihm einen frommen Wandel geben möge, ist es ganz angemessen, dass er nun auch darum bittet, dass in allem seinem Tun sein Herz dabei sei. Wie würde sich sein Gang gestalten, wenn sein Herz nicht mitginge? Es mag sein, dass David in sich eine Neigung verspürte, vom schmalen Steige auf allerlei Abwege abzuweichen, vor allem auch einen ungeziemenden Hang zu irdischen Gütern; vielleicht drängten sich solche Gelüste selbst in den heiligsten Stunden der Andacht in seine Seele ein. Da fleht er sofort um mehr Gnade. Das einzige Mittel, eine falsche Neigung des Herzens zu heilen, ist, dass man die Seele nach der entgegengesetzten Richtung wendet. Heiligkeit des Herzens ist die beste Kur gegen die Habsucht und alle Lüsternheit. Wie gut, dass wir den HERRN selbst um die Neigung zu etwas bitten dürfen!
Unser Wille ist frei; doch vermag die Gnade es, ohne diese Freiheit zu vergewaltigen, uns in die rechte Richtung zu bringen. Dies kann geschehen, indem sie unser Verständnis erleuchtet, dass es die Vortrefflichkeit des Gehorsams erkennt, ferner indem sie uns in der Gewöhnung zur Tugend kräftigt, dadurch dass wir zu erfahren bekommen, wie lieblich die Gottseligkeit ist, und auf vielerlei andere Weise. Wenn wir je fühlen, dass eine Pflicht uns eine Last ist, ziemt es uns, diese Bitte mit besonderer Beziehung darauf an den HERRN zu richten. Wir sollen alle Zeugnisse des HERRN lieb haben, und wenn wir in irgendeinem Stück zurückbleiben, so müssen wir darauf unsere besondere Aufmerksamkeit und Mühe wenden. Wohin sich unser Herz neigt, dahin wird auch die Richtung unseres Lebens gehen; daher die Wichtigkeit der Bitte: Neige mein Herz. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir uns von einer ständigen Neigung zu allem Guten beseelt fühlen! Das ist nicht die Richtung, in der je ein fleischliches Herz geneigt ist; seine Neigungen laufen vielmehr alle den Zeugnissen Gottes zuwider.
Und nicht zum Geiz, zur Gewinnsucht. Dahin geht die Neigung des Herzens von Natur, und die Gnade muss mit ganzer Kraft ihr entgegenwirken. Das Laster der Habsucht ist ebenso verderblich, wie es allgemein verbreitet ist, ebenso niederträchtig, wie es armselig ist. Der Geiz ist Götzendienst, er setzt den Mammon an Stelle Gottes auf den Thron; die Habsucht ist ein Stück der Selbstsucht und ist daher grausam gegen jedermann, wo sie die Macht dazu hat; es ist eine schmutzige Gier, die schließlich selbst den Herrn um etliche Silberlinge verkauft. Der Geiz ist eine entwürdigende, niederträchtig einherschleichende, das Herz verhärtende, mörderische Sünde, unter deren Hauch alles, was lieblich und christusähnlich ist, verwelkt und erstirbt. Der Habsüchtige ist von dem Geschlecht des Judas und wird höchst wahrscheinlich selber auch sich schließlich als ein Kind des Verderbens (Joh. 17,12) erweisen. Das Laster des Geizes ist ungemein häufig, aber sehr wenige nur gestehen es von sich ein; denn wenn jemand in seinem Herzen Gold aufhäuft, so fliegt ihm der Staub davon in die Augen, dass er seinen eigenen Fehler nicht sehen kann. Unser Herz muss etwas haben, woran es hängt, und das einzige Mittel, zu verhindern, dass die irdische Gewinnsucht eindringe, ist, dass wir die Zeugnisse des HERRN an die Stelle setzen. Sind wir nach einer Richtung hingeneigt, so sind wir der anderen abgeneigt; das sicherste Mittel, einer Untugend zu entgehen und sie zu überwinden, ist, dass wir uns der Gnade hingeben, die die jener entgegengesetzte Tugend unfehlbar in uns wirken wird.
37. Wende meine Augen ab, dass sie nicht sehen nach dem Eitlen. (Grundtext) Der Psalmist hatte in Betreff seines Herzens zu Gott gebetet, und man sollte meinen, seine Augen hätten doch gewiss so unter dem Einfluss seines Herzens gestanden, dass keine Veranlassung vorlag, sie noch besonders zu einem Gebetsgegenstand zu machen. Aber der Psalmist will ganz sicher gehen und darum lieber doppelte Gewissheit haben. Wenn die Augen das Eitle nicht sehen, dann kommt auch in dem Herzen vielleicht kein Begehren auf; auf jeden Fall ist der Versuchung eine Haupttür verschlossen, wenn wir nach dem bunten Tand nicht einmal hinblicken. Durch das Auge fand die Sünde zuerst ihren Eingang in das Menschenherz, und bis heute noch ist das Auge des Satans Lieblingstür, durch die er sich mit seinen Verlockungen einschleicht; daher die Notwendigkeit, an diesem Tor die Wache zu verdoppeln.
Unser Vers bittet aber nicht so sehr um geschlossene als vielmehr um abgewendete Augen; denn offene Augen müssen wir haben, nur müssen sie auf die richtigen Gegenstände gerichtet sein. Vielleicht blicken wir eben jetzt auf Törichtes und bedürfen einer energischen Abkehr; und auch wenn wir himmlische Dinge betrachten, werden wir gut tun, zu bitten, dass unsere Augen vom Eitlen abgehalten werden mögen. Weshalb sollten wir auch nach dem Eitlen schauen? Es schwindet wie ein Rauch. Warum nicht lieber nach dem Ewigen blicken? Des Fleisches Lust, der Augen Lust, hoffärtiges Leben, unrecht Gut, Eigendünkel, kurzum alles, was nicht von Gott ist, fällt unter diese Bezeichnung. Von dem allem müssen wir uns abkehren. Es ist ein Beweis, wie schwach der Psalmist sich selber fühlte und wie völlig von Gott abhängig, wenn er sogar darum bittet, dass die Augen ihm abgewendet werden; nicht dass er etwa vorhätte, das in träger Untätigkeit an sich geschehen zu lassen, er will nur hervorheben, wie völlig hilflos er ohne den Beistand der Gnade Gottes ist. Befürchtend, er könnte sich vergessen und mit zögerndem Verlangen nach dem Verbotenen zurückschauen, fleht er zum HERRN, er möge geben, dass er schnell seine Augen abwende, möge eilend ihn von solch gefährlichem Unterhandeln mit der Ungerechtigkeit abbringen. Wenn wir davor bewahrt bleiben, nach dem Unnützen hinzuschauen, so werden wir auch davor behütet werden, das Sündige zu lieben.
Sondern erquicke mich, d. h. belebe mich (siehe zu V. 25), auf deinem Wege. Erfülle mich so mit Leben, dass die tote Eitelkeit keine Macht mehr über mich hat. Gib mir Kraft, so munter und hurtig auf dem Wege zum Himmel voranzuschreiten, dass ich das Eitle nicht lange genug in Sicht behalte, um davon gefesselt zu werden. Die Bitte weist uns hin auf eines unserer größten Bedürfnisse: mehr muntere Beweglichkeit und Tatkraft in unserem Gehorsam. Sie zeigt uns die behütende Macht eines frischeren Geisteslebens gegenüber dem Bösen, das uns umgibt. Sie sagt uns aber auch, woher solche Neubelebung und Kräftigung kommen muss: vom HERRN allein. Eitelkeit ist Tod, und gegen den Tod gibt es kein besseres Mittel als Lebenskraft von oben. Erfüllt die Gnade das Herz, so werden auch die Augen von der Unreinigkeit erlöst. Und wiederum, wollen wir voll Eifer und Tatkraft für das Göttliche sein, so müssen wir uns von aller Sünde und Torheit fernhalten, sonst werden unsere Augen nur zu bald unseren Sinn gefangen nehmen, und gleich Simson, der doch tausend zu schlagen vermochte, können wir selber zu Überwundenen werden durch die Lüste, die durch das Auge ihren Eingang finden.
Dieser Vers steht in naher Beziehung zu V. 29, dem fünften des vorigen Abschnitts.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
38. 1Lass deinen Knecht dein Gebot fest für dein Wort halten. Mache dein so gewisses Wort auch mir gewiss. Wenn wir von Willigkeit zu gehorchen erfüllt sind, dabei aber dennoch von zweifelnden Gedanken angefochten werden, können wir nichts Besseres tun, als um Befestigung in der Wahrheit flehen. Es kommen Zeiten, da uns jede Lehre und jede Verheißung erschüttert scheint und unser Gemüt keine Ruhe finden kann. Da müssen wir zum HERRN rufen, dass er uns im Glauben stärke; will er doch, dass alle seine Knechte in seinem Worte wohl bewandert und wohl gefestigt seien. Aber sehen wir zu, dass wir auch wirklich des HERRN Knechte seien, sonst werden wir nicht lange in der Lehre gesund sein. Ein gottseliger Wandel hilft sehr viel zu Gewissheit in der Wahrheit; sind wir Gottes Knechte, so wird er sein Wort in unserer Erfahrung bestätigen. So jemand will Gottes Willen tun, der wird auch in Betreff der Lehre zu einer rechten, festen Erkenntnis kommen (vergl. Joh. 7,17). Ungläubige, gottesleugnerische Gedanken, die im Herzen aufsteigen, sind für einen Mann, der wirklich Gott fürchtet, eine Plage, ja eine kaum beschreibbare Qual, und nur eine Gnadenheimsuchung von oben kann die Seele wieder zur Ruhe und Festigkeit bringen, wenn sie heftigen Angriffen solcher Art ausgesetzt gewesen ist. Eitelkeit und Trug sind den Augen gefährlich; aber noch schlimmer ist es, wenn das Verständnis dadurch angegriffen und Zweifel an dem Wort des lebendigen Gottes im Herzen erregt werden.
Dass ich (oder man) dich fürchte. Ein festes Vertrauen auf Gottes Wort ist Quelle und Grundlage der wahren Gottesfurcht. Nie werden Menschen einen Gott wirklich verehren, an den sie nicht glauben. Mehr Glaube bewirkt mehr Gottesfurcht. Wir können nicht erwarten, die Erfüllung der göttlichen Verheißungen in unserem Leben zu erfahren, wenn wir nicht unter dem Einfluss der Furcht des HERRN leben. Befestigung in der Gnade ist die Folge heiliger Wachsamkeit und gebetseifriger Tatkraft. Wir werden nie im Glauben fest eingewurzelt und gegründet werden, wenn wir nicht täglich üben, was wir zu glauben bekennen. Völlige Gewissheit ist der Lohn des Gehorsams. Gebetserhörungen werden denen zuteil, deren Herzen hören, wenn Gott gebietet. Fürchten wir Gott, so werden wir von aller andern Furcht befreit. So gibt es keine Furcht, ob das Wort sich wohl als wahr erweisen werde, für den, der von heiliger Ehrfurcht vor dem Urheber des Wortes erfüllt ist. Der zweifelsüchtige Unglaube ist sowohl Vater als Kind der Gottlosigkeit; wiederum erzeugt der feste, starke Glaube die Gottesfurcht und entspringt aus ihr. Der ganze Vers empfiehlt sich für alle die Frommen, die etwa zur Zweifelsucht neigen; er ist ein treffliches Gebet in Zeiten, wo besonders heftige Anfechtungen des Misstrauens uns zu schaffen machen.
39. Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Ihm graut vor der Schmach, sei es dass ihm bangt, er könnte den Feinden Anlass zur Lästerung geben durch irgendeinen auffallenden Widerspruch zwischen seinem Bekenntnis und seinem Wandel - und wie sehr sollten wir in der Tat vor solcher Schmach uns scheuen und wachen, dass wir ihr nicht verfallen - oder aber betet er wider solche, die ihn gerade wegen seiner Treue gegen Gottes Wort mit Lästerungen überhäufen. Das ist eine schwere Prüfung, vielleicht die schwerste für Menschen von feinem Empfinden. Es gibt manchen Mann, der lieber noch die Flammen des Scheiterhaufens erdulden würde als den höhnischen Spott grausamer Zungen. David war heißblütig, wie wir aus 1. Samuel 25 ersehen können, und er scheute die Verleumdung vielleicht umso mehr, weil sie ihn zum Zorn reizte und er selber nicht sagen konnte, zu was allem er nicht schließlich fähig wäre, wenn er schwer gereizt würde. Wenn Gott unsere Augen vom Trügerischen abwendet (V. 37), so dürfen wir auch erwarten, dass er trügerische Reden so weit von uns abwenden wird, dass sie unseren guten Namen nicht beflecken können. Wir werden vor Lügen behütet bleiben, wenn wir uns vor Lügen hüten.
Denn deine Rechte sind lieblich. (Im Hebräischen steht geradezu: gut.) Eben deshalb lag dem Psalmisten so viel daran, dass niemand von Gottes Rechten etwa darum übel rede, weil er über den Knecht Gottes allerlei Übles hört. Wir sind betrübt, wenn wir verleumdet werden, weil die Schande viel mehr auf die Wahrheit fällt, die wir bekennen, als auf uns selber. Wenn die Menschen sich damit begnügen wollten, uns allerlei Schlimmes anzuhängen, dann könnten wir es noch ertragen, denn wir sind böse; aber unser Kummer ist, dass sie einen Makel werfen auf Wort und Wesen unseres Gottes, der doch so gut ist, dass im Vergleich mit ihm niemand gut genannt werden kann. Wenn Menschenkinder die Weltregierung Gottes schmähen und lästern, so ist es unsere Pflicht und unser Vorrecht, für ihn einzutreten und es öffentlich vor ihm zu bezeugen: "Deine Rechte sind gut." Und die gleiche Pflicht haben wir, wenn man unsere Bibel, das Evangelium oder das Gesetz, oder gar den Namen unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus angreift. Aber hüten wir uns, dass man keine berechtigten Anklagen gegen uns vorbringen könne, sonst wird unser Zeugnis in den Wind geredet sein.
Diese Bitte um Abwendung von Schmach entspricht der in V. 31 ausgesprochenen. In den vorletzten Versen der Gruppen ist überhaupt häufig von Anfeindung von außen her und heiliger Befriedigung im Inneren die Rede.
40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Wenigstens Aufrichtigkeit darf er für sich in Anspruch nehmen. Wohl fühlt er sich tief gedemütigt in dem Bewusstsein, wie schwach und der göttlichen Gnade bedürftig er ist; aber er hat doch ein tiefes Verlangen, in allen Stücken dem Willen Gottes gleichgestaltet zu werden. Wo unser Herz, unser Begehren ist, da sind wir selber in Gottes Augen. Haben wir die Vollkommenheit auch noch nicht erlangt, so ist es doch schon etwas, wenn wir danach hungern und dürsten. Und der uns das Verlangen gegeben hat, der wird uns auch das Vollbringen gewähren. Den Gottlosen sind Gottes Befehle eine Last; ist also eine solche Wandlung mit uns vorgegangen, dass sie uns eine Lust sind, dass wir ihrer herzlich begehren, so ist uns dies ein deutlicher Beweis unserer Bekehrung, und wir dürfen dann getrost den Schluss ziehen, dass der, der in uns das gute Werk angefangen hat, es auch vollführen wird.
Erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit. Stärke mich, gib mir neue Lebenskraft! Du hast es ja verheißen, und es entspricht deiner Gerechtigkeit, dein Wort zu halten. Wie oft fleht der Psalmist doch um Erquickung, um Neubelebung! - und doch kein einziges Mal zu oft. Wir bedürfen der Erquickung und Kräftigung Tag für Tag und Stunde um Stunde, denn wir sind, ach, so leicht geneigt, matt und träge zu werden. Der Heilige Geist allein vermag es, uns neues Leben einzuflößen; darum so lasst uns nicht aufhören, ihn darum anzurufen. Möge das Leben, das wir schon besitzen, sich darin erweisen, dass wir nach mehr verlangen.
Der letzte Vers der Abschnitte enthält gewöhnlich einen Ausblick in die Zukunft, in Vorsätzen, in Hoffnung, in Gebet. Auch aus unserem Vers erklingt der Ton: Weiter, immer weiter voran und höher hinan auf dem Wege des Lebens!
Erläuterungen und Kernworte
V. 33-40. Das achtfache h (H): Er bittet weiter um Unterweisung und Leitung, um den Abwegen der Selbstsucht und der Verleugnung zu entgehen.
33. HErr, leite mich den Weg deiner Satzungen,
Dass ich ihn einhalte bis aufs Letzte.
34. Hellen Verstand gib mir, dass ich wahre dein Gesetz
Und es beobachte von ganzem Herzen.
35. Hinführe mich auf dem Steige deiner Gebote,
Denn an dem hab’ ich Lust.
36. Herzliche Neigung gib mir zu deinen Zeugnissen,
Und nicht zum Eigennutze.
37. Halte ab meine Augen, zu schauen auf Eitles,
Auf deinen Wegen belebe mich.
38. Heiße sich erfüllen deinem Knechte deine Zusage,
Welche wirkt, dass man dich fürchte.
39. Hinweg nimm meine Schmach, vor der mir graut,
Denn deine Rechte sind gut.
40. Herzlich begehre ich deine Ordnungen,
Kraft deiner Gerechtigkeit belebe mich.
Nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.
V. 33-40. Inhalt: Das Gesetz Jehovahs soll aufgerichtet werden, vor den Augen, vor dem Geist, vor den Füßen, vor dem Herzen.
V. 33. Das Wort aufgerichtet vor den Augen. Zeige mir usw. Das hebräische Wort hat die Bedeutung: die Hand ausstrecken, um auf etwas zu deuten, also: weisen, zeigen, lehren. Der Psalmist bittet hier um Unterweisung von mehr allgemeiner Natur. Vor ihm lagen viele Wege, die zum Tode führten, aber nur ein einziger, der zum Leben führt. Hier verlangt er nun, dass ihm gezeigt werde, welches Jehovahs Weg ist. Wenn ja der HERR seinen Augen zeigen will, welches der richtige Weg ist, dann will er bis ans Ende sich an diesen halten. Da bedarf es des Lichtes für die Augen. Wie der Indianer der Spur folgt, so unbeirrt und wachsam sollen wir den Weg verfolgen, der uns zum Leben führt.
V. 34. Das Wort aufgerichtet vor unserem Geiste. Unterweise mich. Das hier gebrauchte Wort geht auf die Erschließung des geistigen Verständnisses, im Gegensatz zu dem im vorigen Vers erbetenen mehr äußerlichen Zeigen. Mache mich begreifen, d. h. mit dem Verständnisse. Die äußeren Sinne müssen zuerst den Weg erkennen, dann muss der Verstand ihn begreifen und dann soll das Herz in Glauben und Liebe ihm folgen. Und so will denn auch der Psalmist, wenn Gott ihn unterweisen will, dass er das Gesetz verstehe, dasselbe von ganzem Herzen halten und bewahren. Aber das Herz ist geneigt, sich abzukehren zu irdischen und sündigen Dingen, deshalb muss alsbald die göttliche Hilfe auch hierfür angerufen werden.
V. 35. Das Wort aufgerichtet vor unseren Füßen. Wir übersetzen nicht: Führe mich, sondern: Mache mich gehen, lass mich wandeln. Die Bitte bezieht sich gerade auf das Gehen auf dem Wege Gottes im Gegensatz zum bloßen Erkennen des Weges mit den Augen und dem Verstande. Erst beim wirklichen Begehen des Weges machen sich die tatsächlichen Schwierigkeiten desselben so recht bemerkbar. Darum heißt es auch: auf dem Steige deiner Gebote. Wenn erst deine Füße darauf wandeln, wirst du den Weg der Wahrheit stets als den schmalen Weg erfinden.
V. 36. Das Wort, aufgerichtet vor unserem Herzen. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen. Wenn auch meine Augen sehen, mein Verstand begreift, ja wenn auch meine Füße den Weg der Wahrheit wandeln, so ist das alles doch nichts, wenn das Herz nicht ebenfalls dazu geneigt ist. Wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht. Und wer die Liebe nicht hat, der hat nichts. - So ist denn der Sinn dieser vier in aufsteigender Ordnung angeführten Bitten folgender: Mache, dass ich sehe, mache, dass ich verstehe, mache, dass ich wandele, und mache, dass ich mit Freuden wandele auf dem schmalen Wege deiner Zeugnisse.
Fußnote
1. Nach dem Grundtext lautet der Vers wohl. Erfülle deinem Knecht dein Wort (nämlich der Verheißung), das der Furcht vor dir gegeben ist, oder aber: das darauf abzielt, dass man dich fürchte.
Dass ich (oder man) dich fürchte. Ein festes Vertrauen auf Gottes Wort ist Quelle und Grundlage der wahren Gottesfurcht. Nie werden Menschen einen Gott wirklich verehren, an den sie nicht glauben. Mehr Glaube bewirkt mehr Gottesfurcht. Wir können nicht erwarten, die Erfüllung der göttlichen Verheißungen in unserem Leben zu erfahren, wenn wir nicht unter dem Einfluss der Furcht des HERRN leben. Befestigung in der Gnade ist die Folge heiliger Wachsamkeit und gebetseifriger Tatkraft. Wir werden nie im Glauben fest eingewurzelt und gegründet werden, wenn wir nicht täglich üben, was wir zu glauben bekennen. Völlige Gewissheit ist der Lohn des Gehorsams. Gebetserhörungen werden denen zuteil, deren Herzen hören, wenn Gott gebietet. Fürchten wir Gott, so werden wir von aller andern Furcht befreit. So gibt es keine Furcht, ob das Wort sich wohl als wahr erweisen werde, für den, der von heiliger Ehrfurcht vor dem Urheber des Wortes erfüllt ist. Der zweifelsüchtige Unglaube ist sowohl Vater als Kind der Gottlosigkeit; wiederum erzeugt der feste, starke Glaube die Gottesfurcht und entspringt aus ihr. Der ganze Vers empfiehlt sich für alle die Frommen, die etwa zur Zweifelsucht neigen; er ist ein treffliches Gebet in Zeiten, wo besonders heftige Anfechtungen des Misstrauens uns zu schaffen machen.
39. Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Ihm graut vor der Schmach, sei es dass ihm bangt, er könnte den Feinden Anlass zur Lästerung geben durch irgendeinen auffallenden Widerspruch zwischen seinem Bekenntnis und seinem Wandel - und wie sehr sollten wir in der Tat vor solcher Schmach uns scheuen und wachen, dass wir ihr nicht verfallen - oder aber betet er wider solche, die ihn gerade wegen seiner Treue gegen Gottes Wort mit Lästerungen überhäufen. Das ist eine schwere Prüfung, vielleicht die schwerste für Menschen von feinem Empfinden. Es gibt manchen Mann, der lieber noch die Flammen des Scheiterhaufens erdulden würde als den höhnischen Spott grausamer Zungen. David war heißblütig, wie wir aus 1. Samuel 25 ersehen können, und er scheute die Verleumdung vielleicht umso mehr, weil sie ihn zum Zorn reizte und er selber nicht sagen konnte, zu was allem er nicht schließlich fähig wäre, wenn er schwer gereizt würde. Wenn Gott unsere Augen vom Trügerischen abwendet (V. 37), so dürfen wir auch erwarten, dass er trügerische Reden so weit von uns abwenden wird, dass sie unseren guten Namen nicht beflecken können. Wir werden vor Lügen behütet bleiben, wenn wir uns vor Lügen hüten.
Denn deine Rechte sind lieblich. (Im Hebräischen steht geradezu: gut.) Eben deshalb lag dem Psalmisten so viel daran, dass niemand von Gottes Rechten etwa darum übel rede, weil er über den Knecht Gottes allerlei Übles hört. Wir sind betrübt, wenn wir verleumdet werden, weil die Schande viel mehr auf die Wahrheit fällt, die wir bekennen, als auf uns selber. Wenn die Menschen sich damit begnügen wollten, uns allerlei Schlimmes anzuhängen, dann könnten wir es noch ertragen, denn wir sind böse; aber unser Kummer ist, dass sie einen Makel werfen auf Wort und Wesen unseres Gottes, der doch so gut ist, dass im Vergleich mit ihm niemand gut genannt werden kann. Wenn Menschenkinder die Weltregierung Gottes schmähen und lästern, so ist es unsere Pflicht und unser Vorrecht, für ihn einzutreten und es öffentlich vor ihm zu bezeugen: "Deine Rechte sind gut." Und die gleiche Pflicht haben wir, wenn man unsere Bibel, das Evangelium oder das Gesetz, oder gar den Namen unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus angreift. Aber hüten wir uns, dass man keine berechtigten Anklagen gegen uns vorbringen könne, sonst wird unser Zeugnis in den Wind geredet sein.
Diese Bitte um Abwendung von Schmach entspricht der in V. 31 ausgesprochenen. In den vorletzten Versen der Gruppen ist überhaupt häufig von Anfeindung von außen her und heiliger Befriedigung im Inneren die Rede.
40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Wenigstens Aufrichtigkeit darf er für sich in Anspruch nehmen. Wohl fühlt er sich tief gedemütigt in dem Bewusstsein, wie schwach und der göttlichen Gnade bedürftig er ist; aber er hat doch ein tiefes Verlangen, in allen Stücken dem Willen Gottes gleichgestaltet zu werden. Wo unser Herz, unser Begehren ist, da sind wir selber in Gottes Augen. Haben wir die Vollkommenheit auch noch nicht erlangt, so ist es doch schon etwas, wenn wir danach hungern und dürsten. Und der uns das Verlangen gegeben hat, der wird uns auch das Vollbringen gewähren. Den Gottlosen sind Gottes Befehle eine Last; ist also eine solche Wandlung mit uns vorgegangen, dass sie uns eine Lust sind, dass wir ihrer herzlich begehren, so ist uns dies ein deutlicher Beweis unserer Bekehrung, und wir dürfen dann getrost den Schluss ziehen, dass der, der in uns das gute Werk angefangen hat, es auch vollführen wird.
Erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit. Stärke mich, gib mir neue Lebenskraft! Du hast es ja verheißen, und es entspricht deiner Gerechtigkeit, dein Wort zu halten. Wie oft fleht der Psalmist doch um Erquickung, um Neubelebung! - und doch kein einziges Mal zu oft. Wir bedürfen der Erquickung und Kräftigung Tag für Tag und Stunde um Stunde, denn wir sind, ach, so leicht geneigt, matt und träge zu werden. Der Heilige Geist allein vermag es, uns neues Leben einzuflößen; darum so lasst uns nicht aufhören, ihn darum anzurufen. Möge das Leben, das wir schon besitzen, sich darin erweisen, dass wir nach mehr verlangen.
Der letzte Vers der Abschnitte enthält gewöhnlich einen Ausblick in die Zukunft, in Vorsätzen, in Hoffnung, in Gebet. Auch aus unserem Vers erklingt der Ton: Weiter, immer weiter voran und höher hinan auf dem Wege des Lebens!
Erläuterungen und Kernworte
V. 33-40. Das achtfache h (H): Er bittet weiter um Unterweisung und Leitung, um den Abwegen der Selbstsucht und der Verleugnung zu entgehen.
33. HErr, leite mich den Weg deiner Satzungen,
Dass ich ihn einhalte bis aufs Letzte.
34. Hellen Verstand gib mir, dass ich wahre dein Gesetz
Und es beobachte von ganzem Herzen.
35. Hinführe mich auf dem Steige deiner Gebote,
Denn an dem hab’ ich Lust.
36. Herzliche Neigung gib mir zu deinen Zeugnissen,
Und nicht zum Eigennutze.
37. Halte ab meine Augen, zu schauen auf Eitles,
Auf deinen Wegen belebe mich.
38. Heiße sich erfüllen deinem Knechte deine Zusage,
Welche wirkt, dass man dich fürchte.
39. Hinweg nimm meine Schmach, vor der mir graut,
Denn deine Rechte sind gut.
40. Herzlich begehre ich deine Ordnungen,
Kraft deiner Gerechtigkeit belebe mich.
Nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.
V. 33-40. Inhalt: Das Gesetz Jehovahs soll aufgerichtet werden, vor den Augen, vor dem Geist, vor den Füßen, vor dem Herzen.
V. 33. Das Wort aufgerichtet vor den Augen. Zeige mir usw. Das hebräische Wort hat die Bedeutung: die Hand ausstrecken, um auf etwas zu deuten, also: weisen, zeigen, lehren. Der Psalmist bittet hier um Unterweisung von mehr allgemeiner Natur. Vor ihm lagen viele Wege, die zum Tode führten, aber nur ein einziger, der zum Leben führt. Hier verlangt er nun, dass ihm gezeigt werde, welches Jehovahs Weg ist. Wenn ja der HERR seinen Augen zeigen will, welches der richtige Weg ist, dann will er bis ans Ende sich an diesen halten. Da bedarf es des Lichtes für die Augen. Wie der Indianer der Spur folgt, so unbeirrt und wachsam sollen wir den Weg verfolgen, der uns zum Leben führt.
V. 34. Das Wort aufgerichtet vor unserem Geiste. Unterweise mich. Das hier gebrauchte Wort geht auf die Erschließung des geistigen Verständnisses, im Gegensatz zu dem im vorigen Vers erbetenen mehr äußerlichen Zeigen. Mache mich begreifen, d. h. mit dem Verständnisse. Die äußeren Sinne müssen zuerst den Weg erkennen, dann muss der Verstand ihn begreifen und dann soll das Herz in Glauben und Liebe ihm folgen. Und so will denn auch der Psalmist, wenn Gott ihn unterweisen will, dass er das Gesetz verstehe, dasselbe von ganzem Herzen halten und bewahren. Aber das Herz ist geneigt, sich abzukehren zu irdischen und sündigen Dingen, deshalb muss alsbald die göttliche Hilfe auch hierfür angerufen werden.
V. 35. Das Wort aufgerichtet vor unseren Füßen. Wir übersetzen nicht: Führe mich, sondern: Mache mich gehen, lass mich wandeln. Die Bitte bezieht sich gerade auf das Gehen auf dem Wege Gottes im Gegensatz zum bloßen Erkennen des Weges mit den Augen und dem Verstande. Erst beim wirklichen Begehen des Weges machen sich die tatsächlichen Schwierigkeiten desselben so recht bemerkbar. Darum heißt es auch: auf dem Steige deiner Gebote. Wenn erst deine Füße darauf wandeln, wirst du den Weg der Wahrheit stets als den schmalen Weg erfinden.
V. 36. Das Wort, aufgerichtet vor unserem Herzen. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen. Wenn auch meine Augen sehen, mein Verstand begreift, ja wenn auch meine Füße den Weg der Wahrheit wandeln, so ist das alles doch nichts, wenn das Herz nicht ebenfalls dazu geneigt ist. Wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht. Und wer die Liebe nicht hat, der hat nichts. - So ist denn der Sinn dieser vier in aufsteigender Ordnung angeführten Bitten folgender: Mache, dass ich sehe, mache, dass ich verstehe, mache, dass ich wandele, und mache, dass ich mit Freuden wandele auf dem schmalen Wege deiner Zeugnisse.
Fußnote
1. Nach dem Grundtext lautet der Vers wohl. Erfülle deinem Knecht dein Wort (nämlich der Verheißung), das der Furcht vor dir gegeben ist, oder aber: das darauf abzielt, dass man dich fürchte.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
Erläuterungen und Kernworte
V. 37. Lenke meine Augen ab vom Anschauen des Eitlen, lass mich am Nichtigen vorüberblicken, ohne es zu sehen. Der Gedanke erinnert an die Bitte im Gebet des Herrn: Führe uns nicht in Versuchung. Nachdem der Psalmist um das gebeten, was er gerne schauen möchte, bittet er hier um das Verbergen dessen, was er nicht sehen will.
V. 38 im Anschluss an die vorhergehenden Verse: Richte dein Wort auf vor deinem Knecht, d. i. halte es mir vor die Augen, vor meinen Sinn, vor meine Füße, vor mein Herz. Mach, dass alles Eitle weiche, so dass ich es nicht sehe, aber lass dein Wort so vor meinem ganzen Ich aufgerichtet sein, dass ich es immer sehen muss, und so durch dasselbige meinen Weg zu dir sehe.
V. 39. Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Diese also bittet der Psalmist, gleich dem Eitlen V. 37, nicht sehen zu müssen. Er möchte den Blick seines ganzen Lebens nur auf das Wort gerichtet wissen: Denn deine Rechte sind lieblich.
V. 40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Diese Worte drücken nur noch in stärkerer Form das eben Ausgesprochene aus. Die Rechte Gottes deuchten ihm so lieblich, dass er sehnsüchtig ihrer begehrt. Ja, er begehrt, sich noch stärker nach ihnen zu sehnen; darum bittet er um größere Lebendigkeit und Frische auf dem Wege, den sie weisen: Erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit. Wer wirklich der göttlichen Wahrheit begehrt, ist betrübt, dass sein Verlangen nicht noch größer ist. Wenn das Herz leer an Liebe ist, ist der Verstand ohne Licht und kann die Gebote nur falsch verstehen. Die reines Herzens sind sehen besser mit ihrem Verstande als die Unreinen. Die Liebe erweitert das Verständnis so sehr, dass der, der wahrhaftig liebt, oft finden wird, dass sein Urteil über die Seligkeit der Wahrheit selbst seine Sehnsucht danach übersteigt. Darum sind es die Lebendigen, die Frischen, die ausrufen: Belebe, erfrische, erquicke mich, und wer ein lebendiges Begehren hat, der bittet um noch mehr Leben auf dem Wege der Gerechtigkeit. Fred. G. Marchant1882.
V. 33. Zeige mir, HERR, den Weg deiner Rechte. Die Kinder Gottes brauchen Anweisung von oben, solange sie in dieser Welt leben. Je mehr wir wissen, umso mehr begehren wir zu wissen. Wir müssen ebenso wohl um tägliche Gnade als um tägliches Brot bitten. Haben wir erst von der Traube vom Bache Eskol (4. Mose 13,23) schmecken dürfen, so werden wir stets eine Sehnsucht nach den Weinstöcken Kanaans empfinden. Religion ist heilige Lebenskunst, und man lernt sie erst kennen, wenn man sie ausübt. Nicht der ist ein Meister in der Tonkunst, der die Noten kennt, sondern der ein Stück fertig abzulesen und nach den Gedanken seines Urhebers zu spielen versteht, und das Vergnügen, das er dabei empfindet, wird Grund genug für ihn sein, diese Kunst weiter zu üben. Bischof G. Horne † 1792.
"Wer sein eigener Schüler ist, hat einen Narren zum Lehrer", sagt der heilige Bernhard. Und Ambrosius: "Ein Soldat auf dem Marsch stellt sich nicht selbst die Marschorder aus, bricht auch nicht nach eigenem Gutdünken auf, wählt auch nicht Nebenwege, sonst möchte er sich von seiner Abteilung und der Fahne verlieren; nein, er bekommt seinen Weg vom Führer angewiesen und bleibt auf demselben, er rückt in bestimmter Ordnung vor, die Waffen in der Hand, gerade auf das Ziel zu, wo sein Marsch enden soll, und dort findet er Vorräte, die das Verpflegungsamt hat hinschaffen lassen. Wenn er einen andern Weg einschlägt, findet er kein Quartier, keine Vorräte bereit, denn der Führer hat befohlen, dass alles derartige nur für die in Bereitschaft sei, die ihm gefolgt und weder zur Rechten noch zur Linken abgewichen sind. So wird denn der, der dem Feldherrn folgt, nicht zusammenbrechen, und zwar aus gutem Grunde: der Feldherr sorgt nicht für sein eigenes Behagen, sondern für die Tüchtigkeit des ganzen Heeres. Und das ist auch die Marschordnung Christi, da er seine großen Heerscharen aus dem geistlichen Ägypten ins ewige Land des Paradieses führt." James Millard Neale † 1866.
V. 34. Unterweise mich. Der Psalmist geht gründlich vor; das hat ihn der Heilige Geist, der Geist aller Unterweisung und Lehre, gelehrt. Was er begehrt, ist nicht die gewöhnliche Unterweisung, wie sie ein Lehrer zu bieten pflegt; er will eine Umbildung und Ausbildung seines Geistes, wie sie nur der Schöpfer zu leisten vermag. Unterweise mich, lehre mich erkennen, verstehen, gib mir den rechten Verstand dazu. Er verlangt nicht bloß, ein Ding kennen zu lernen, seine Beschaffenheit im Allgemeinen; was er braucht, ist die Einsicht in seinen Ursprung, seine Entwicklung, seinen Endzweck. Er will die Fähigkeit erlangen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, geistlichen Scharfsinn, um das Rechte und gleichzeitig alles demselben Feindliche zu erkennen. Er braucht Unterweisung, um die Wahrheit zu erkennen, den wahren Weg der Rechte des HERRN, und sorgsam alles zu vermeiden, was diesem fremd ist. John Stephen 1861.
Häufig wird in der Schrift die Gottlosigkeit und alles unheilige Wesen auf Rechnung der Unwissenheit gesetzt. Wie körperliche Leiden oft ihren Ursprung haben in Störungen der Gehirntätigkeit, so auch allerlei Ausschreitungen im Handeln in Verirrungen des Urteils. Und in der Tat findet sich am Grunde einer jeden Sünde ebenso wohl Unwissenheit als Irrtum; denn wenn die Sünder wirklich wüssten, was sie eigentlich tun, indem sie sündigen, so könnten wir von jeder Sünde sagen, was der Apostel von jener größten Sünde sagt: Wo sie die (nämlich die verborgene Weisheit Gottes) erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt (1. Kor. 2,8). Wüssten sie in der Tat, dass jede Sünde eine Beleidigung des eifrigen Gottes ist, eine Herausforderung des Himmels, ein abermaliges Kreuzigen des Herrn Jesus, ein Häufen des Zornes, sich selbst auf den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, und dass, wenn sie je Vergebung erlangen sollen, dies um keinen geringeren Preis geschehen kann, als den Preis seines Blutes - wüssten sie all dieses, so wäre es kaum denkbar, dass die Sünde, statt zu verlocken, nicht vielmehr abschreckte, statt in Versuchung zu führen, nicht den stärksten Widerwillen erregte. - Aus der Einleitung zum Westminster-Katechismus 1645.
Von ganzem Herzen. Der ganze Mensch gehört Gott an, er ist sein Eigentum von Rechts wegen; wenn Gott also das ganze Herz verlangt, so verlangt er nur, was sein Eigentum ist. Gott gab uns das Ganze in der Schöpfung, er erhält das Ganze, er erlöst das Ganze, und verheißt, das Ganze dereinst herrlich zu machen. Wenn etwas Gutes an euch ist, so hat Gott doch das Beste daran getan, er hat das Ganze geheiligt, wie die Schrift sagt: Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesus Christus (1. Thess. 5,23), nicht bloß das Bewusstsein, sondern der Wille, die Triebe, der ganze Leib. Und ihr habt ihm alles gegeben, dass er damit tue nach seinem Wohlgefallen: Ich bin ganz sein Eigentum, ich bin sein nicht bloß teilweise, nein ganz. Ein Ananias, der einen Teil zurückbehielt, war ihm widerwärtig. Wenn Welt, Vergnügen, Ehrgeiz, Stolz, Habsucht, unreine Liebe einen Anteil an uns haben wollen, sollen wir uns daran erinnern, dass wir gar keine Empfindungen und Regungen zu unserer eigenen Verfügung haben; alles ist sein, und es ist ein gotteslästerliches Beginnen, ihm einen Teil des Seinigen rauben oder vorenthalten zu wollen. Sollte ich irgendetwas Gott entwenden, um der Welt, dem Fleisch oder dem Teufel einen Gefallen zu tun? Thomas Manton † 1677.
V. 35. Führe mich auf dem Steige deiner Gebote. Die Aufgabe eines Christen liegt nicht in tiefem Nachsinnen über allerhand geheime Weisheit, sondern im frischen, lebendigen Tun. Und was die Gnade Gottes so köstlich macht, ist ihre Doppelwirkung. Sie lehrt uns erst, was wir tun sollen, und dann hilft sie uns das Gelernte auch tun: sie führt uns auf dem Steige seiner Gebote. Thomas Manton † 1677.
Der Steig deiner Gebote, nicht ein neuer Weg, sondern der alte, längst betretene, den von Anfang an alle Knechte Gottes gewandelt sind. Mag er aber auch durch zahlreiche Pilger noch so sehr ausgetreten sein, so ist und bleibt er doch immer nur der eine, schmale, schwer zu findende Steig, dessen ist der Psalmist sich wohl bewusst, und darum sucht er einen Führer für denselben. William Cowper † 1619.
V. 35.36. Denn ich habe Lust dazu. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Geiz. Selbst bei einem Kinde Gottes ist das Herz nicht mit einer solchen Entschiedenheit Gott zugeneigt, dass es nicht ab und zu in seine alte Richtung und Neigung zurückkehrte. Selbst die Besten müssen die Erfahrung machen, dass sie sich in ihrem Dichten und Trachten lange nicht so frei von der Welt halten können, wenn sie Häuser und Äcker und allerlei Hab und Gut zu ihrer Verfügung haben, als wenn ihnen Niedrigkeit und Dürftigkeit beschieden ist. Selbst die Besten mögen es erfahren, dass ihr Trachten nach dem, was droben ist, abnimmt, je mehr ihr irdischer Besitz zunimmt. Pius V. soll gesagt haben, im Anfange, als er sich dem geistlichen Stande gewidmet, habe er zu hoffen gewagt, dass er werde selig werden; als er Kardinal geworden, habe er angefangen, daran zu zweifeln, aber nun er Papst sei, verzweifle er fast daran. Und viele werden schon an sich selbst eine große Veränderung wahrgenommen haben, vielfaches Nachlassen im Eifer um die Ehre Gottes, in der Liebe zu Gottes Wort und der Freude daran, im Sorgen um das Eine, was Not ist, wenn ihre weltlichen Aussichten und Erfolge sich glänzender gestalteten. Es ist aber gut, dies im Auge zu behalten, ehe das Übel überhandnimmt. Wenn die Dinge dieser Welt allzu viel Raum in unserem Herzen gewinnen, wenn sie uns anlocken und von Gott wegziehen, uns die Freude an seinem Worte verderben, unseren Eifer um seine Ehre erkalten machen, dann haben wir es gar oft nötig, dass uns vorgehalten werde, wie schwerlich doch ein Reicher ins Reich Gottes eingehen mag. Thomas Manton † 1677.
V. 36. Neige mein Herz. Wenn wir von selbst geneigt wären, auf Gottes Steigen zu wandeln, den ganzen Inhalt seines Wortes aufzunehmen und zu bewahren, so würde David nicht zu dieser Bitte gekommen sein, sonst wären seine Worte Verstellung oder Unaufrichtigkeit. Wenn er also Gott bittet, ihm das Herz zum Guten zu neigen, so ist das so gut, als ob er bekennte: HERR, es steht nicht bei mir noch bei irgendeiner sterblichen Natur, zu wandeln, wie du befohlen hast, denn unser Herz ist ganz verkehrt. Es ist nur Auflehnung gegen dich in uns, und niemals werden wir im Gehorsam gegen dich wandeln, wenn du nicht Hand anlegst und unseren Geist dahin richtest. Jean Calvin † 1564.
Augustinus sagt schön: Natura vera confessione non falsa defensione opus habet - Der Zustand unserer gefallenen Natur bedarf des wahren Bekenntnisses ihrer Schwäche, nicht der falschen Verteidigung ihrer Kraft. Das wird auch, gleich dem Psalmisten hier, jeder demütige Christ tun, und das führt von selbst zum Gebet. Thomas Manton † 1677.
V. 37. Lenke meine Augen ab vom Anschauen des Eitlen, lass mich am Nichtigen vorüberblicken, ohne es zu sehen. Der Gedanke erinnert an die Bitte im Gebet des Herrn: Führe uns nicht in Versuchung. Nachdem der Psalmist um das gebeten, was er gerne schauen möchte, bittet er hier um das Verbergen dessen, was er nicht sehen will.
V. 38 im Anschluss an die vorhergehenden Verse: Richte dein Wort auf vor deinem Knecht, d. i. halte es mir vor die Augen, vor meinen Sinn, vor meine Füße, vor mein Herz. Mach, dass alles Eitle weiche, so dass ich es nicht sehe, aber lass dein Wort so vor meinem ganzen Ich aufgerichtet sein, dass ich es immer sehen muss, und so durch dasselbige meinen Weg zu dir sehe.
V. 39. Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Diese also bittet der Psalmist, gleich dem Eitlen V. 37, nicht sehen zu müssen. Er möchte den Blick seines ganzen Lebens nur auf das Wort gerichtet wissen: Denn deine Rechte sind lieblich.
V. 40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Diese Worte drücken nur noch in stärkerer Form das eben Ausgesprochene aus. Die Rechte Gottes deuchten ihm so lieblich, dass er sehnsüchtig ihrer begehrt. Ja, er begehrt, sich noch stärker nach ihnen zu sehnen; darum bittet er um größere Lebendigkeit und Frische auf dem Wege, den sie weisen: Erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit. Wer wirklich der göttlichen Wahrheit begehrt, ist betrübt, dass sein Verlangen nicht noch größer ist. Wenn das Herz leer an Liebe ist, ist der Verstand ohne Licht und kann die Gebote nur falsch verstehen. Die reines Herzens sind sehen besser mit ihrem Verstande als die Unreinen. Die Liebe erweitert das Verständnis so sehr, dass der, der wahrhaftig liebt, oft finden wird, dass sein Urteil über die Seligkeit der Wahrheit selbst seine Sehnsucht danach übersteigt. Darum sind es die Lebendigen, die Frischen, die ausrufen: Belebe, erfrische, erquicke mich, und wer ein lebendiges Begehren hat, der bittet um noch mehr Leben auf dem Wege der Gerechtigkeit. Fred. G. Marchant1882.
V. 33. Zeige mir, HERR, den Weg deiner Rechte. Die Kinder Gottes brauchen Anweisung von oben, solange sie in dieser Welt leben. Je mehr wir wissen, umso mehr begehren wir zu wissen. Wir müssen ebenso wohl um tägliche Gnade als um tägliches Brot bitten. Haben wir erst von der Traube vom Bache Eskol (4. Mose 13,23) schmecken dürfen, so werden wir stets eine Sehnsucht nach den Weinstöcken Kanaans empfinden. Religion ist heilige Lebenskunst, und man lernt sie erst kennen, wenn man sie ausübt. Nicht der ist ein Meister in der Tonkunst, der die Noten kennt, sondern der ein Stück fertig abzulesen und nach den Gedanken seines Urhebers zu spielen versteht, und das Vergnügen, das er dabei empfindet, wird Grund genug für ihn sein, diese Kunst weiter zu üben. Bischof G. Horne † 1792.
"Wer sein eigener Schüler ist, hat einen Narren zum Lehrer", sagt der heilige Bernhard. Und Ambrosius: "Ein Soldat auf dem Marsch stellt sich nicht selbst die Marschorder aus, bricht auch nicht nach eigenem Gutdünken auf, wählt auch nicht Nebenwege, sonst möchte er sich von seiner Abteilung und der Fahne verlieren; nein, er bekommt seinen Weg vom Führer angewiesen und bleibt auf demselben, er rückt in bestimmter Ordnung vor, die Waffen in der Hand, gerade auf das Ziel zu, wo sein Marsch enden soll, und dort findet er Vorräte, die das Verpflegungsamt hat hinschaffen lassen. Wenn er einen andern Weg einschlägt, findet er kein Quartier, keine Vorräte bereit, denn der Führer hat befohlen, dass alles derartige nur für die in Bereitschaft sei, die ihm gefolgt und weder zur Rechten noch zur Linken abgewichen sind. So wird denn der, der dem Feldherrn folgt, nicht zusammenbrechen, und zwar aus gutem Grunde: der Feldherr sorgt nicht für sein eigenes Behagen, sondern für die Tüchtigkeit des ganzen Heeres. Und das ist auch die Marschordnung Christi, da er seine großen Heerscharen aus dem geistlichen Ägypten ins ewige Land des Paradieses führt." James Millard Neale † 1866.
V. 34. Unterweise mich. Der Psalmist geht gründlich vor; das hat ihn der Heilige Geist, der Geist aller Unterweisung und Lehre, gelehrt. Was er begehrt, ist nicht die gewöhnliche Unterweisung, wie sie ein Lehrer zu bieten pflegt; er will eine Umbildung und Ausbildung seines Geistes, wie sie nur der Schöpfer zu leisten vermag. Unterweise mich, lehre mich erkennen, verstehen, gib mir den rechten Verstand dazu. Er verlangt nicht bloß, ein Ding kennen zu lernen, seine Beschaffenheit im Allgemeinen; was er braucht, ist die Einsicht in seinen Ursprung, seine Entwicklung, seinen Endzweck. Er will die Fähigkeit erlangen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, geistlichen Scharfsinn, um das Rechte und gleichzeitig alles demselben Feindliche zu erkennen. Er braucht Unterweisung, um die Wahrheit zu erkennen, den wahren Weg der Rechte des HERRN, und sorgsam alles zu vermeiden, was diesem fremd ist. John Stephen 1861.
Häufig wird in der Schrift die Gottlosigkeit und alles unheilige Wesen auf Rechnung der Unwissenheit gesetzt. Wie körperliche Leiden oft ihren Ursprung haben in Störungen der Gehirntätigkeit, so auch allerlei Ausschreitungen im Handeln in Verirrungen des Urteils. Und in der Tat findet sich am Grunde einer jeden Sünde ebenso wohl Unwissenheit als Irrtum; denn wenn die Sünder wirklich wüssten, was sie eigentlich tun, indem sie sündigen, so könnten wir von jeder Sünde sagen, was der Apostel von jener größten Sünde sagt: Wo sie die (nämlich die verborgene Weisheit Gottes) erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt (1. Kor. 2,8). Wüssten sie in der Tat, dass jede Sünde eine Beleidigung des eifrigen Gottes ist, eine Herausforderung des Himmels, ein abermaliges Kreuzigen des Herrn Jesus, ein Häufen des Zornes, sich selbst auf den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, und dass, wenn sie je Vergebung erlangen sollen, dies um keinen geringeren Preis geschehen kann, als den Preis seines Blutes - wüssten sie all dieses, so wäre es kaum denkbar, dass die Sünde, statt zu verlocken, nicht vielmehr abschreckte, statt in Versuchung zu führen, nicht den stärksten Widerwillen erregte. - Aus der Einleitung zum Westminster-Katechismus 1645.
Von ganzem Herzen. Der ganze Mensch gehört Gott an, er ist sein Eigentum von Rechts wegen; wenn Gott also das ganze Herz verlangt, so verlangt er nur, was sein Eigentum ist. Gott gab uns das Ganze in der Schöpfung, er erhält das Ganze, er erlöst das Ganze, und verheißt, das Ganze dereinst herrlich zu machen. Wenn etwas Gutes an euch ist, so hat Gott doch das Beste daran getan, er hat das Ganze geheiligt, wie die Schrift sagt: Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesus Christus (1. Thess. 5,23), nicht bloß das Bewusstsein, sondern der Wille, die Triebe, der ganze Leib. Und ihr habt ihm alles gegeben, dass er damit tue nach seinem Wohlgefallen: Ich bin ganz sein Eigentum, ich bin sein nicht bloß teilweise, nein ganz. Ein Ananias, der einen Teil zurückbehielt, war ihm widerwärtig. Wenn Welt, Vergnügen, Ehrgeiz, Stolz, Habsucht, unreine Liebe einen Anteil an uns haben wollen, sollen wir uns daran erinnern, dass wir gar keine Empfindungen und Regungen zu unserer eigenen Verfügung haben; alles ist sein, und es ist ein gotteslästerliches Beginnen, ihm einen Teil des Seinigen rauben oder vorenthalten zu wollen. Sollte ich irgendetwas Gott entwenden, um der Welt, dem Fleisch oder dem Teufel einen Gefallen zu tun? Thomas Manton † 1677.
V. 35. Führe mich auf dem Steige deiner Gebote. Die Aufgabe eines Christen liegt nicht in tiefem Nachsinnen über allerhand geheime Weisheit, sondern im frischen, lebendigen Tun. Und was die Gnade Gottes so köstlich macht, ist ihre Doppelwirkung. Sie lehrt uns erst, was wir tun sollen, und dann hilft sie uns das Gelernte auch tun: sie führt uns auf dem Steige seiner Gebote. Thomas Manton † 1677.
Der Steig deiner Gebote, nicht ein neuer Weg, sondern der alte, längst betretene, den von Anfang an alle Knechte Gottes gewandelt sind. Mag er aber auch durch zahlreiche Pilger noch so sehr ausgetreten sein, so ist und bleibt er doch immer nur der eine, schmale, schwer zu findende Steig, dessen ist der Psalmist sich wohl bewusst, und darum sucht er einen Führer für denselben. William Cowper † 1619.
V. 35.36. Denn ich habe Lust dazu. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Geiz. Selbst bei einem Kinde Gottes ist das Herz nicht mit einer solchen Entschiedenheit Gott zugeneigt, dass es nicht ab und zu in seine alte Richtung und Neigung zurückkehrte. Selbst die Besten müssen die Erfahrung machen, dass sie sich in ihrem Dichten und Trachten lange nicht so frei von der Welt halten können, wenn sie Häuser und Äcker und allerlei Hab und Gut zu ihrer Verfügung haben, als wenn ihnen Niedrigkeit und Dürftigkeit beschieden ist. Selbst die Besten mögen es erfahren, dass ihr Trachten nach dem, was droben ist, abnimmt, je mehr ihr irdischer Besitz zunimmt. Pius V. soll gesagt haben, im Anfange, als er sich dem geistlichen Stande gewidmet, habe er zu hoffen gewagt, dass er werde selig werden; als er Kardinal geworden, habe er angefangen, daran zu zweifeln, aber nun er Papst sei, verzweifle er fast daran. Und viele werden schon an sich selbst eine große Veränderung wahrgenommen haben, vielfaches Nachlassen im Eifer um die Ehre Gottes, in der Liebe zu Gottes Wort und der Freude daran, im Sorgen um das Eine, was Not ist, wenn ihre weltlichen Aussichten und Erfolge sich glänzender gestalteten. Es ist aber gut, dies im Auge zu behalten, ehe das Übel überhandnimmt. Wenn die Dinge dieser Welt allzu viel Raum in unserem Herzen gewinnen, wenn sie uns anlocken und von Gott wegziehen, uns die Freude an seinem Worte verderben, unseren Eifer um seine Ehre erkalten machen, dann haben wir es gar oft nötig, dass uns vorgehalten werde, wie schwerlich doch ein Reicher ins Reich Gottes eingehen mag. Thomas Manton † 1677.
V. 36. Neige mein Herz. Wenn wir von selbst geneigt wären, auf Gottes Steigen zu wandeln, den ganzen Inhalt seines Wortes aufzunehmen und zu bewahren, so würde David nicht zu dieser Bitte gekommen sein, sonst wären seine Worte Verstellung oder Unaufrichtigkeit. Wenn er also Gott bittet, ihm das Herz zum Guten zu neigen, so ist das so gut, als ob er bekennte: HERR, es steht nicht bei mir noch bei irgendeiner sterblichen Natur, zu wandeln, wie du befohlen hast, denn unser Herz ist ganz verkehrt. Es ist nur Auflehnung gegen dich in uns, und niemals werden wir im Gehorsam gegen dich wandeln, wenn du nicht Hand anlegst und unseren Geist dahin richtest. Jean Calvin † 1564.
Augustinus sagt schön: Natura vera confessione non falsa defensione opus habet - Der Zustand unserer gefallenen Natur bedarf des wahren Bekenntnisses ihrer Schwäche, nicht der falschen Verteidigung ihrer Kraft. Das wird auch, gleich dem Psalmisten hier, jeder demütige Christ tun, und das führt von selbst zum Gebet. Thomas Manton † 1677.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)
Psalm 119
Erläuterungen und Kernworte
V. 36. Und nicht zum Geiz. Wir dürfen nie vergessen, dass der Geiz unter allen Umständen ein Laster ist; denn wir sind nur zu leicht geneigt, ihn bei uns selbst zu entschuldigen unter allerlei Vorwänden, ja sogar aus ihm eine Art Tugend zu machen. Jedenfalls sind wir viel eher bereit, übertriebene Sparsamkeit zu entschuldigen, als den entgegengesetzten Fehler, namentlich wenn wir nicht darunter zu leiden haben. Dann schadet auch so ein bisschen Gewinnsucht, ein bisschen Genauigkeit, wie wir es nennen, nichts. Aber was einmal Sünde ist, bleibt Sünde, auch wenn es sich nur um "ein bisschen" handelt. Hören wir doch, was die Schrift vom Geiz sagt, sie nennt ihn Götzendienst (Eph. 5,5), und Götzendienst ist die erste Sünde auf der ersten Gesetzestafel. Der Geiz ist eine Wurzel alles Übels (1. Tim. 6,10), denn es gibt kein Unrecht, zu dem ein Habsüchtiger oder Geiziger nicht imstande ist, wo sein Geldbeutel ins Spiel kommt. So sagt auch David: Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Geiz. Er sagt nicht: zu diesem oder jenem Zeugnisse, sondern er fasst alle Gebote Gottes zusammen, als wollte er damit sagen, dass der Geiz nicht einem, sondern allen Geboten widerstreite. So sagt auch Paulus, 1. Tim. 6,9, dass der Geiz zu vielen törichten und schädlichen Lüsten führe. Und der ehrwürdige Kirchenvater Chrysostomus nennt den Geiz den Fluch der menschlichen Gesellschaft. Der Geizige hasst alle Menschen, die Armen, weil sie etwas von ihm verlangen könnten, die Reichen, weil sie etwas besitzen, was er selbst haben möchte. R. Capel 1655.
So völlig wird der Mensch von diesem Laster eingenommen, dass er niemals satt werden kann. Es ist wie ein Schlund, den niemand je auszufüllen vermag. Er ist voll Grausamkeit, ohne Mitleid gegen seine Nebenmenschen, er macht sich kein Gewissen daraus, Menschen und Gott zu ärgern und zu kränken; wenn er damit nur etwas erlangen kann, so ist ihm das ganz einerlei. So sehen wir, dass wenn es eine Sünde gibt, die uns hindert, Gott zu dienen, so ist es der Geiz, die Begierde nach irdischem Besitz. Jean Calvin † 1564.
V. 37. Wende meine Augen ab usw. Erst hat er für sein Herz gebeten, jetzt bittet er für seine Augen. Durch die Augen kehrt häufig der Tod ins Herz, deshalb bedarf es, um das Herz in gutem Stande zu erhalten, dreier Dinge. Erstens, einer gewissenhaften Beobachtung der Sinne, namentlich der Augen; denn Gott handelt gerecht, wenn er den, der sein leibliches Auge leichtsinnig gebraucht, an seinem geistigen Auge mit Blindheit straft. Der Kirchenvater Gregor von Nazianz klagt an einer Stelle bitter über all das Unheil, von dem seine Seele schon betroffen worden, und wünscht sich Türen für Augen und Ohren, um sie zusperren zu können, wenn sie auf etwas merken wollten, was nicht gut ist. Zweitens ist es nötig, den Leib in strenger Zucht zu halten. Drittens aber braucht es ein Anhalten am Gebet. William Cowper † 1619.
Merke, er sagt nicht: Ich will meine Augen abwenden, sondern: Wende du meine Augen ab. Daraus können wir ersehen, dass es für uns unmöglich ist, bei aller Sorgfalt selbst unsere Augen im Zaum zu halten, sie müssen in göttlicher Hut stehen. Denn zum ersten, wohin wir auch uns in dieser Welt wenden, überall stoßen wir auf Anregungen zum Bösen. Zum andern: Bei denen, die nicht auf ihrer Hut sind, und auch noch bei ganz anderen Leuten, wandern die Augen nach dem Eitlen, nach solchem, was unnütz ist. Zum dritten aber schleicht sich das Böse, das durch das Auge hereingekommen ist, ehe du es merkst, bis in die hintersten Winkel deines Herzens, und streut dort den Samen des Verderbens aus. Dies hat der Psalmist an sich selber mit unsäglichen Schmerzen und Nöten äußerer und innerer Art erfahren. Wolfgang Musculus † 1563.
Ist’s nicht so: was wir gerne haben, das sehen wir auch gerne an? Wie das Sprichwort sagt: Was dem Herzen gefällt, das suchen die Augen. Wenn wir also Gott bitten, dass unsere Augen nicht nach dem Eitlen schauen mögen, so heißt das soviel, als um die Gnade bitten, dass wir das Eitle nicht lieben. Denn allerdings hat das Eitle vielfach ein so liebliches, reizendes Ansehen, dass der natürliche Mensch nicht leicht davon lassen kann, es anzuschauen. Da muss erst der schönere Anblick der göttlichen Gnade unsere Augen, die natürlich stets nach dem schauen, was ihnen das Lieblichste deucht, von den eitlen Dingen ab und auf sich lenken. Der Psalmist richtet hier sein Gebet vorzüglich gegen die Versuchungen des Wohllebens. Glück und Unglück, Wohlergehen und Trübsal haben beide ihre besonderen Versuchungen, und viele, die die eine Art von Versuchungen sehr wohl ertragen können, werden von der andern gar schnell überwunden. So vermochte David die Verfolgungen ohne Murren zu ertragen; als er aber zu Ruhe und Wohlleben kam, konnte er seine Augen nicht vom Eitlen abkehren (2. Samuel 11,2). Richard Baker † 1645.
Hässliches verliert sehr viel von seiner Widerwärtigkeit, wenn wir es oft betrachten. Auch für das Sündliche gilt dieses allgemeine Gesetz, und man muss sich völlig davon fern halten, darf es nicht einmal anschauen, wenn man davor sicher sein will. Wir können hienieden nicht dankbar genug sein, dass Gott uns Augenlider gegeben hat, die wir auf- und zumachen können; und von dem Letzteren sollten wir recht oft Gebrauch machen. Albert Barnes † 1870.
Fragst du: "Was kann meine Augen am sichersten abwenden vom Unnützen?" Nicht die Einsamkeit der Wüste oder des Klosters, nicht das Aufgeben aller natürlichen Verbindung mit der Welt, sondern die überirdische Schönheit Jesu, uns vor Augen gestellt und unsere Herzen erfüllend. Charles Bridges † 1869.
V. 38. Lass deinen Knecht dein Gebot fest für dein Wort halten. Ist das nicht befremdlich? Hier haben wir einen Knecht Gottes, einen treuen, gottesfürchtigen Diener des HERRN, der sich offenbar mit gutem Gewissen und unbedenklich selbst als solchen ansieht, und trotzdem bittet er um etwas, was doch eigentlich ein wesentliches Erfordernis einer solchen Stellung ist. Wenn einer nicht Gottes Gebot fest für sein Wort hält, kann er sich doch nicht seinen Knecht nennen? Und wenn er wirklich sein Knecht ist, wie sollte er dann dazu kommen, zu bitten, wie der Psalmist es hier tut? Dieser scheinbare Widerspruch aber besteht, wie die Erfahrung lehrt, in Wirklichkeit durchaus nicht, sondern findet in ihr eine einfache und die einzig richtige Erklärung. Schildert dies denn nicht den Zustand so manches Frommen, so vieler wirklichen Gotteskinder? Fest und doch schwankend, voll Lust und doch zaudernd, ein treuer Diener und doch voll Sehnsucht nach noch festerer Berufung, nach noch mehr Gnade, nach noch größerer Treue, im Glauben stehend und doch mit dem Notschrei aus tiefstem Herzen: Hilf meinem Unglauben. Alex. Raleigh † 1880.
Die Bitte dieses Verses kann auf zweierlei Weise erfüllt werden. Einmal durch die innere Gewissheit, die uns von dem Heiligen Geiste wird. Ferner aber durch augenscheinliche Erfüllung einer Verheißung; denn das Eintreten eines jeden Ereignisses, das einem Wort der Schrift entspricht, ist ein sichtbar Beweis für ihre Wahrheit, eine Besiegelung und Bestätigung derselben zur Stärkung unseres Glaubens. Die Erfüllung von Verheißungen stärkt unseren Glauben und lässt uns ein Gleiches für die Zukunft erwarten. Christus tadelt seine Jünger, dass sie nicht an das frühere Speisungswunder dachten, als sie in die gleiche Lage kamen. Der HERR, der einmal Wort gehalten hat, wird es auch ein andermal tun. "Der Herr stand mir bei, und ich ward erlöst von des Löwen Rachen. Der Herr aber wird mich erlösen von allem Übel." (2. Tim. 4,17.18.) Und der HERR wird nicht nur einen Teil seines Wortes wahr werden, sondern das ganze in Erfüllung gehen lassen, denn alle Gottesverheissungen sind Ja in Christo. Thomas Manton † 1677.
Wir müssen stets daran denken, wenn wir Gott um etwas bitten wollen, dass wir uns auf seine Verheißungen zu stützen haben, dass wir ihn um nichts bitten dürfen, wenn wir nicht schon versichert sind, dass er es uns geben will, dass er es aus freien Stücken und unaufgefordert verheißen hat. Denn es wäre doch törichte Vermessenheit von den Menschen, sich vor Gott hinzustellen und etwas ihnen Genehmes von ihm zu verlangen; nein, Gott muss den ersten Schritt getan, er muss das erste Wort gesprochen haben. Daraufhin also, wenn wir erst dieses Wort haben, dürfen wir dann die Zuversicht haben, ihn zu bitten. Aus demselben Grunde setzt David, nachdem er gebeten hat, so wie wir eben gehört haben, auch hinzu: HERR, mach dein Wort deinem Knechte gewiss; er will damit sagen: HERR, ich verlange nichts, was du mir nicht versprochen hast, und das ist’s, was mir den Mut verleiht, zu dir zu kommen, da ich weiß, dass du getreu bist und tun wirst, wie du verheißen hast. So sollten denn die göttlichen Verheißungen stets den Eingang zu unseren Gebeten bilden, stets vorangeschickt werden, und auch nachdem wir den HERRN gebeten haben, lasset uns eben dieselbigen Verheißungen ins Gedächtnis zurückrufen, um dessen ganz gewiss zu sein, dass wir ihn nicht vergeblich um etwas gebeten haben. Jean Calvin † 1564.
Dass ich dich fürchte. Der Grundtext hat hier eine Wendung, die verschiedene Übersetzung zulässt. Es kann ebenso wohl heißen, welcher (d. h. Knecht) deiner Furcht ergeben ist, als welches (d. h. dein Wort) zu deiner Furcht führt oder führen soll. Jedenfalls, mag man nun die Stelle so oder so übersetzen, wird die Furcht des HERRN als eine Haupteigenschaft eines Knechtes des HERRN hingestellt, als ein Hauptpunkt aller Religion. Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang (Ps. 111,10). Sie steht zuoberst in der Reihe, sie macht den Anfang, wenn wir beginnen, weise zu werden, an Gott zu denken, mit Ehrfurcht an ihn zu denken, sie ist ein Hauptstück der Weisheit, die uns unterweist zur Seligkeit. Und auf sie wird noch zur Begründung der Bitte hingewiesen, wie es auch Neh. 1,11 heißt: HERR, lass deine Ohren merken aufs Gebet deiner Knechte, die da begehren, deinen Namen zu fürchten. Und je mehr wir dann wieder in der Furcht des HERRN leben, umso fester wird uns die Zuversicht auf seine Liebe, auf seine Bereitwilligkeit, uns zu erhören am angenehmen Tage. Thomas Manton † 1677.
V. 39. Denn deine Rechte sind lieblich. Man hätte hier erwarten sollen: Lass die Schmach, die ich fürchte, an mir vorübergehen, denn du bist gnädig. Aber so sagt der Psalmist nicht; der Grund, den er hier angibt, lautet: Denn deine Rechte, deine Urteile sind lieblich. Wir würden es auch sehr wohl verstehen, wenn da stünde: Wende meine Schmach ab, denn deine Urteile sind schrecklich. So aber, wie die Stelle lautet, sehen wir, dass er sich wirklich hinter Gottes Rechte flüchtet und erwartet, dass sein Herr ihn gegen alle ungerechten Gerichte der Menschen in Schutz nehmen werde. John Stephen 1861
Die Schmach, die der Dichter fürchtet, ist nicht die Schmach des Bekenntnisses, sondern der Verleugnung; danach sind "deine Rechte" nicht Gottes Gerichte, sondern geoffenbarte Rechte; diese sind gut, indem demjenigen, der sie hält, wohl ist und wohl geschieht. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
V. 40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Oft kommen wir, ohne es recht zu wissen, dazu, mehr nach den Verheißungen als nach den Befehlen Gottes zu verlangen. Wir vergessen dabei ganz, dass es unser köstliches Vorrecht und unser sicherster Schutz ist, beides gleich wert zu halten: seinen Befehlen zu gehoben, in Anlehnung an seine Verheißungen, und die Erfüllung seiner Verheißungen zu erwarten auf dem Wege des Gehorsams gegen seine Vorschriften. Charles Bridges † 1869.
Deiner Befehle. Das hebräische Wort, das Luther mit Befehle übersetzt hat, bedeutet etwas dem Menschen Anvertrautes, Übergebenes, das was dir vertraut ist, Bestimmungen Gottes, welche an das Gewissen gehen, für welche der Mensch als vernunftbegabtes Wesen verantwortlich ist. J. Jebb 1846.
V. 36. Und nicht zum Geiz. Wir dürfen nie vergessen, dass der Geiz unter allen Umständen ein Laster ist; denn wir sind nur zu leicht geneigt, ihn bei uns selbst zu entschuldigen unter allerlei Vorwänden, ja sogar aus ihm eine Art Tugend zu machen. Jedenfalls sind wir viel eher bereit, übertriebene Sparsamkeit zu entschuldigen, als den entgegengesetzten Fehler, namentlich wenn wir nicht darunter zu leiden haben. Dann schadet auch so ein bisschen Gewinnsucht, ein bisschen Genauigkeit, wie wir es nennen, nichts. Aber was einmal Sünde ist, bleibt Sünde, auch wenn es sich nur um "ein bisschen" handelt. Hören wir doch, was die Schrift vom Geiz sagt, sie nennt ihn Götzendienst (Eph. 5,5), und Götzendienst ist die erste Sünde auf der ersten Gesetzestafel. Der Geiz ist eine Wurzel alles Übels (1. Tim. 6,10), denn es gibt kein Unrecht, zu dem ein Habsüchtiger oder Geiziger nicht imstande ist, wo sein Geldbeutel ins Spiel kommt. So sagt auch David: Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Geiz. Er sagt nicht: zu diesem oder jenem Zeugnisse, sondern er fasst alle Gebote Gottes zusammen, als wollte er damit sagen, dass der Geiz nicht einem, sondern allen Geboten widerstreite. So sagt auch Paulus, 1. Tim. 6,9, dass der Geiz zu vielen törichten und schädlichen Lüsten führe. Und der ehrwürdige Kirchenvater Chrysostomus nennt den Geiz den Fluch der menschlichen Gesellschaft. Der Geizige hasst alle Menschen, die Armen, weil sie etwas von ihm verlangen könnten, die Reichen, weil sie etwas besitzen, was er selbst haben möchte. R. Capel 1655.
So völlig wird der Mensch von diesem Laster eingenommen, dass er niemals satt werden kann. Es ist wie ein Schlund, den niemand je auszufüllen vermag. Er ist voll Grausamkeit, ohne Mitleid gegen seine Nebenmenschen, er macht sich kein Gewissen daraus, Menschen und Gott zu ärgern und zu kränken; wenn er damit nur etwas erlangen kann, so ist ihm das ganz einerlei. So sehen wir, dass wenn es eine Sünde gibt, die uns hindert, Gott zu dienen, so ist es der Geiz, die Begierde nach irdischem Besitz. Jean Calvin † 1564.
V. 37. Wende meine Augen ab usw. Erst hat er für sein Herz gebeten, jetzt bittet er für seine Augen. Durch die Augen kehrt häufig der Tod ins Herz, deshalb bedarf es, um das Herz in gutem Stande zu erhalten, dreier Dinge. Erstens, einer gewissenhaften Beobachtung der Sinne, namentlich der Augen; denn Gott handelt gerecht, wenn er den, der sein leibliches Auge leichtsinnig gebraucht, an seinem geistigen Auge mit Blindheit straft. Der Kirchenvater Gregor von Nazianz klagt an einer Stelle bitter über all das Unheil, von dem seine Seele schon betroffen worden, und wünscht sich Türen für Augen und Ohren, um sie zusperren zu können, wenn sie auf etwas merken wollten, was nicht gut ist. Zweitens ist es nötig, den Leib in strenger Zucht zu halten. Drittens aber braucht es ein Anhalten am Gebet. William Cowper † 1619.
Merke, er sagt nicht: Ich will meine Augen abwenden, sondern: Wende du meine Augen ab. Daraus können wir ersehen, dass es für uns unmöglich ist, bei aller Sorgfalt selbst unsere Augen im Zaum zu halten, sie müssen in göttlicher Hut stehen. Denn zum ersten, wohin wir auch uns in dieser Welt wenden, überall stoßen wir auf Anregungen zum Bösen. Zum andern: Bei denen, die nicht auf ihrer Hut sind, und auch noch bei ganz anderen Leuten, wandern die Augen nach dem Eitlen, nach solchem, was unnütz ist. Zum dritten aber schleicht sich das Böse, das durch das Auge hereingekommen ist, ehe du es merkst, bis in die hintersten Winkel deines Herzens, und streut dort den Samen des Verderbens aus. Dies hat der Psalmist an sich selber mit unsäglichen Schmerzen und Nöten äußerer und innerer Art erfahren. Wolfgang Musculus † 1563.
Ist’s nicht so: was wir gerne haben, das sehen wir auch gerne an? Wie das Sprichwort sagt: Was dem Herzen gefällt, das suchen die Augen. Wenn wir also Gott bitten, dass unsere Augen nicht nach dem Eitlen schauen mögen, so heißt das soviel, als um die Gnade bitten, dass wir das Eitle nicht lieben. Denn allerdings hat das Eitle vielfach ein so liebliches, reizendes Ansehen, dass der natürliche Mensch nicht leicht davon lassen kann, es anzuschauen. Da muss erst der schönere Anblick der göttlichen Gnade unsere Augen, die natürlich stets nach dem schauen, was ihnen das Lieblichste deucht, von den eitlen Dingen ab und auf sich lenken. Der Psalmist richtet hier sein Gebet vorzüglich gegen die Versuchungen des Wohllebens. Glück und Unglück, Wohlergehen und Trübsal haben beide ihre besonderen Versuchungen, und viele, die die eine Art von Versuchungen sehr wohl ertragen können, werden von der andern gar schnell überwunden. So vermochte David die Verfolgungen ohne Murren zu ertragen; als er aber zu Ruhe und Wohlleben kam, konnte er seine Augen nicht vom Eitlen abkehren (2. Samuel 11,2). Richard Baker † 1645.
Hässliches verliert sehr viel von seiner Widerwärtigkeit, wenn wir es oft betrachten. Auch für das Sündliche gilt dieses allgemeine Gesetz, und man muss sich völlig davon fern halten, darf es nicht einmal anschauen, wenn man davor sicher sein will. Wir können hienieden nicht dankbar genug sein, dass Gott uns Augenlider gegeben hat, die wir auf- und zumachen können; und von dem Letzteren sollten wir recht oft Gebrauch machen. Albert Barnes † 1870.
Fragst du: "Was kann meine Augen am sichersten abwenden vom Unnützen?" Nicht die Einsamkeit der Wüste oder des Klosters, nicht das Aufgeben aller natürlichen Verbindung mit der Welt, sondern die überirdische Schönheit Jesu, uns vor Augen gestellt und unsere Herzen erfüllend. Charles Bridges † 1869.
V. 38. Lass deinen Knecht dein Gebot fest für dein Wort halten. Ist das nicht befremdlich? Hier haben wir einen Knecht Gottes, einen treuen, gottesfürchtigen Diener des HERRN, der sich offenbar mit gutem Gewissen und unbedenklich selbst als solchen ansieht, und trotzdem bittet er um etwas, was doch eigentlich ein wesentliches Erfordernis einer solchen Stellung ist. Wenn einer nicht Gottes Gebot fest für sein Wort hält, kann er sich doch nicht seinen Knecht nennen? Und wenn er wirklich sein Knecht ist, wie sollte er dann dazu kommen, zu bitten, wie der Psalmist es hier tut? Dieser scheinbare Widerspruch aber besteht, wie die Erfahrung lehrt, in Wirklichkeit durchaus nicht, sondern findet in ihr eine einfache und die einzig richtige Erklärung. Schildert dies denn nicht den Zustand so manches Frommen, so vieler wirklichen Gotteskinder? Fest und doch schwankend, voll Lust und doch zaudernd, ein treuer Diener und doch voll Sehnsucht nach noch festerer Berufung, nach noch mehr Gnade, nach noch größerer Treue, im Glauben stehend und doch mit dem Notschrei aus tiefstem Herzen: Hilf meinem Unglauben. Alex. Raleigh † 1880.
Die Bitte dieses Verses kann auf zweierlei Weise erfüllt werden. Einmal durch die innere Gewissheit, die uns von dem Heiligen Geiste wird. Ferner aber durch augenscheinliche Erfüllung einer Verheißung; denn das Eintreten eines jeden Ereignisses, das einem Wort der Schrift entspricht, ist ein sichtbar Beweis für ihre Wahrheit, eine Besiegelung und Bestätigung derselben zur Stärkung unseres Glaubens. Die Erfüllung von Verheißungen stärkt unseren Glauben und lässt uns ein Gleiches für die Zukunft erwarten. Christus tadelt seine Jünger, dass sie nicht an das frühere Speisungswunder dachten, als sie in die gleiche Lage kamen. Der HERR, der einmal Wort gehalten hat, wird es auch ein andermal tun. "Der Herr stand mir bei, und ich ward erlöst von des Löwen Rachen. Der Herr aber wird mich erlösen von allem Übel." (2. Tim. 4,17.18.) Und der HERR wird nicht nur einen Teil seines Wortes wahr werden, sondern das ganze in Erfüllung gehen lassen, denn alle Gottesverheissungen sind Ja in Christo. Thomas Manton † 1677.
Wir müssen stets daran denken, wenn wir Gott um etwas bitten wollen, dass wir uns auf seine Verheißungen zu stützen haben, dass wir ihn um nichts bitten dürfen, wenn wir nicht schon versichert sind, dass er es uns geben will, dass er es aus freien Stücken und unaufgefordert verheißen hat. Denn es wäre doch törichte Vermessenheit von den Menschen, sich vor Gott hinzustellen und etwas ihnen Genehmes von ihm zu verlangen; nein, Gott muss den ersten Schritt getan, er muss das erste Wort gesprochen haben. Daraufhin also, wenn wir erst dieses Wort haben, dürfen wir dann die Zuversicht haben, ihn zu bitten. Aus demselben Grunde setzt David, nachdem er gebeten hat, so wie wir eben gehört haben, auch hinzu: HERR, mach dein Wort deinem Knechte gewiss; er will damit sagen: HERR, ich verlange nichts, was du mir nicht versprochen hast, und das ist’s, was mir den Mut verleiht, zu dir zu kommen, da ich weiß, dass du getreu bist und tun wirst, wie du verheißen hast. So sollten denn die göttlichen Verheißungen stets den Eingang zu unseren Gebeten bilden, stets vorangeschickt werden, und auch nachdem wir den HERRN gebeten haben, lasset uns eben dieselbigen Verheißungen ins Gedächtnis zurückrufen, um dessen ganz gewiss zu sein, dass wir ihn nicht vergeblich um etwas gebeten haben. Jean Calvin † 1564.
Dass ich dich fürchte. Der Grundtext hat hier eine Wendung, die verschiedene Übersetzung zulässt. Es kann ebenso wohl heißen, welcher (d. h. Knecht) deiner Furcht ergeben ist, als welches (d. h. dein Wort) zu deiner Furcht führt oder führen soll. Jedenfalls, mag man nun die Stelle so oder so übersetzen, wird die Furcht des HERRN als eine Haupteigenschaft eines Knechtes des HERRN hingestellt, als ein Hauptpunkt aller Religion. Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang (Ps. 111,10). Sie steht zuoberst in der Reihe, sie macht den Anfang, wenn wir beginnen, weise zu werden, an Gott zu denken, mit Ehrfurcht an ihn zu denken, sie ist ein Hauptstück der Weisheit, die uns unterweist zur Seligkeit. Und auf sie wird noch zur Begründung der Bitte hingewiesen, wie es auch Neh. 1,11 heißt: HERR, lass deine Ohren merken aufs Gebet deiner Knechte, die da begehren, deinen Namen zu fürchten. Und je mehr wir dann wieder in der Furcht des HERRN leben, umso fester wird uns die Zuversicht auf seine Liebe, auf seine Bereitwilligkeit, uns zu erhören am angenehmen Tage. Thomas Manton † 1677.
V. 39. Denn deine Rechte sind lieblich. Man hätte hier erwarten sollen: Lass die Schmach, die ich fürchte, an mir vorübergehen, denn du bist gnädig. Aber so sagt der Psalmist nicht; der Grund, den er hier angibt, lautet: Denn deine Rechte, deine Urteile sind lieblich. Wir würden es auch sehr wohl verstehen, wenn da stünde: Wende meine Schmach ab, denn deine Urteile sind schrecklich. So aber, wie die Stelle lautet, sehen wir, dass er sich wirklich hinter Gottes Rechte flüchtet und erwartet, dass sein Herr ihn gegen alle ungerechten Gerichte der Menschen in Schutz nehmen werde. John Stephen 1861
Die Schmach, die der Dichter fürchtet, ist nicht die Schmach des Bekenntnisses, sondern der Verleugnung; danach sind "deine Rechte" nicht Gottes Gerichte, sondern geoffenbarte Rechte; diese sind gut, indem demjenigen, der sie hält, wohl ist und wohl geschieht. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
V. 40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Oft kommen wir, ohne es recht zu wissen, dazu, mehr nach den Verheißungen als nach den Befehlen Gottes zu verlangen. Wir vergessen dabei ganz, dass es unser köstliches Vorrecht und unser sicherster Schutz ist, beides gleich wert zu halten: seinen Befehlen zu gehoben, in Anlehnung an seine Verheißungen, und die Erfüllung seiner Verheißungen zu erwarten auf dem Wege des Gehorsams gegen seine Vorschriften. Charles Bridges † 1869.
Deiner Befehle. Das hebräische Wort, das Luther mit Befehle übersetzt hat, bedeutet etwas dem Menschen Anvertrautes, Übergebenes, das was dir vertraut ist, Bestimmungen Gottes, welche an das Gewissen gehen, für welche der Mensch als vernunftbegabtes Wesen verantwortlich ist. J. Jebb 1846.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)