Lieber Mephiboschet,
grundsätzlich glaube ich, dass Du recht hast, nur würde ich die Erkenntnisschiene nicht so in Gegensatz zur Erfahrung sehen. Wenn die Erkenntnis wirklich biblisch ist, d.h. also nicht rein theoretisch, dann müsste sie auch praktische Konsequenzen haben. Paulus sagt nichts gegen die richtige Erkenntnis, sondern nur gegen eine Erkenntnis, die bei der Theorie stehen bleibt und nie praktisch wird. Von ihr sagt er, dass sie aufbläht. Wenn wir das als Maßstab nehmen, dann können wir wohl davon ausgehen, dass wir nicht wenige "Blähboys" in unserem konservativ-bibeltreuen Lager haben

und aufpassen müssen, nicht selbst einer zu sein oder zu werden. Also, wenn ich die Wahl hätte zwischen einer Lehrstunde und einer Zeugnisstunde, würde ich eindeutig die Lehrstunde wählen unter der Voraussetzung, dass die Lehre praktisch und herausfordernd vermittelt wird. Bei Zeugnisstunden habe ich trotz aller Ausschlussklauseln und Beteuerungen immer noch das flaue Gefühl im Magen, dass es sich oftmals (wenn auch nicht immer) mehr um den Menschen als um Gott dreht: "
Ich und
meine Erfahrung", "
MEINE Demut, zu der
mich der Herr gebracht hat", "
Meine Dankbarkeit, zu der
mich der Herr gebracht hat." und last but not least "
Meine unglaublich tiefe Sündenerkenntnis." für die mich doch bitte alle anderen bewundern sollten, denn: "Mit des Herrn Hilfe hat doch in der letzten Woche bestimmt keiner seinen Alten Adam so schlimm kennengelernt wie
ich." Genauso wenig finde ich in der Bibel diese unseligen "geistlichen Austäusche", wo ein Kreis von Gläubigen bei Salzstangen und Limo zusammensitzt und jeder wild und gleichberechtigt seine Meinung zum Thema einwerfen kann. Das ist ein Produkt des letzten oder vorletzten Jahrhunderts. Ein englischer Prediger nannte es einmal Fish'n Chips: We all fish around and everyone chips in – Wir fischen alle rum und jeder wirft etwas ein (in Deutsch kommt es nicht so gut rüber). Im Alten und im Neuen Testament sehe ich eher, dass einer oder wenige Lehrer den Rest belehren und das notwendigerweise praktisch (Predigten, keine theoretischen Vorlesungen).
Diese Gefahr des Menschen im Mittelpunkt kann man auch bei der praktischsten und geistlichsten Lehrstunde nicht ausschließen, aber da dreht es sich zumindest tendenziell zuerst um Gott und Sein Wort und nicht um
MICH und
meine Erfahrungen.
Wenn wir nichts oder zu wenig zu erzählen haben aus unserem Wandel mit dem Herrn, so glaube ich, dann hat das nichts damit zu tun, dass wir immer noch zu viel selbst tun, sondern im Gegenteil, dass wir vielleicht zu wenig tun. Paulus spricht in Philipper 2,12-13 deutliche Worte:
"Darum, meine Geliebten, wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch vielmehr in meiner Abwesenheit, vollendet eure Rettung mit Furcht und Zittern; DENN Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbringen wirkt, nach Seinem Wohlgefallen." Das „Denn“ ist eine Begründung, d.h. also wenn Gott in uns wirkt, dann macht das uns aktiv. Ergo: Wir tun also jede Menge selbst, eben WEIL Gott in uns wirkt. Wahre Heiligung ist immer 200 %ig: 100 % von Gott und zugleich 100 % vom Menschen, also nicht halb und halb. Gott arbeitet immer – entgegen allem menschlichen Verstand, der nur in 100%-Logik zu denken fähig ist (99 % Gott, 1 % ich) – mit 200 %: Christus ist 100% Gott und 100 % Mensch, Gottes Wort ist zu 100 % von Ihm wörtlich inspiriert, und doch ist die Eigenart eines jeden Apostels, Propheten, etc. zu 100 % darin erhalten geblieben. Mir ist das wichtig, um einem Quietismus entgegenzutreten, der immer "eigenes Tun" dem Wirken Gottes als Gegensatz gegenüberstellen möchte. Das ist die menschliche 100 %-Logik. Ganz nach dem Motto der Heiligungsbewegung: "Let go and let God!" - "Lass es geschehen und lass Gott ran." Das ist nicht die biblische Linie, sondern letztlich heidnische Philosophie von Plato und Plotinus. Versteh mich bitte recht, mir geht es überhaupt nicht darum, Dir vor´s Schienbein zu treten, sondern ich möchte der Gefahr vorbeugen, ein unbiblisches Extrem (hohles Erkenntnisgequatsche) durch ein anderes (Erfahrungstheologie, Quietismus, gesellige Salzstangen- und Cola-Kuschelhauskreise) zu ersetzen. Was wir wirklich brauchen, ist biblische Lehre in Aktion im Leben von Gläubigen. Einige nennen das auch "lebendige Orthodoxie", also rechter Glaube, der nicht nur recht ist, sondern auch lebendig. Das ist die Sorte von Christen, Lehre und Gemeinde, die wir brauchen, um widerstandsfähig zu sein gegen Irr- und Sonderlehren jeder Art. Irr- und Sonderlehre ist nämlich da schwach (wenn auch nicht nicht-existent), wo die Gemeinden innerlich stark und gesund sind. Irrlehre ist wie Kakerlaken: Die fühlen sich wohl und vermehren sich, wo Fett, Schmutz und Dunkelheit viel Raum haben. Da, wo Licht ist und es sauber ist, gehen sie nicht hin. Wenn bei uns sauber und praktisch gelehrt wird und wir das Licht des Wortes Gottes in unser Leben hineinlassen, dann brauchen wir auch gar nicht so viel Abwehrliteratur und ähnliches. Vor zwei Jahren hatte ich einmal in meiner Wohnung eine Obstfliegenplage und ging zu OBI, um mir ein geeignetes Mittel dagegen zuzulegen. Wow! Was es da alles gab: Streifen, zum Festkleben an der Fensterscheibe, Sprays, Fliegenfänger aller Art. Ich fragte die Verkäuferin, was sie mir denn nun von den ganzen Sachen empfehlen könne, und sie sagte mir ganz ehrlich, diese Mittel brächten es letztlich alle nicht, wenn ich nicht nach der Ursache forschen würde: Irgendwo müsse es bei mir ein faules Stück Obst oder ähnliches geben, das herumliege und die Viecher anziehe. Das solle ich beseitigen, und dann würde sich der Rest auch klären. Ach Mensch! Ich hätte doch viel lieber mit Klebstreifen und Sprays herumgespielt, als auf Knien unter irgendwelchen Sofas nach einem verrotteten Apfelbutzen gesucht. Aber ich habe es getan, an unvermuteter Stelle einen Apfelbutzen gefunden, ihn entsorgt, und bald war es vorbei mit der Fliegenplage. So ist es auch in unseren Gemeinden: Wenn wir Faulheit und geistlichem Verfall mit guter biblischer Unterweisung und anhaltendem Gebet wegschaffen, die frische Luft des Evangeliums hindurchwehen lassen, werden auch nicht mehr die ganzen exotischen Irr- und Sonderliegen angezogen wie die Fliegen vom faulen Obst und müssen auch nicht mehr so viel Geld, Zeit und Energie für explizite Aufklärungsliteratur aufwenden. Fazit: Biblische Erkenntnis ist nur dann biblische Erkenntnis, wenn sie praktisch ist und Herz und Leben berührt. Alles andere ist fromme Soße.
LG, Christoph