Unter Nicht-Chiliasten gibt es tatsächlich die zwei unterschiedlichen Sichtweisen, die ich unter
www.sola-scriptura.de/pro-argumente.htm darzulegen versucht habe:
(a) Das
ezesao (von
zao, leben, lebendig werden) bedeutet das Leben der Seelen im so genannten Zwischenzustand nach ihrem Tod beim Herrn, hier also insbesondere der Märtyrer
(b) Es bedeutet die „geistliche Auferstehung“, das Hinübergehen vom Tod zum Leben (Joh 5,24) bei der Wiedergeburt
Jedenfalls haben die Chiliasten (nicht nur die Dispensationalisten) ein Problem, wenn sie hier die „erste Auferstehung“ als von gleicher Natur wie die „zweite Auferstehung“ interpretieren, also beides für leibliche Auferstehungen halten. Es besteht nämlich eine deutliche Parallele zum „ersten“ und „zweiten Tod“, und die haben nicht dieselbe Natur, sondern der erste ist leiblich, der zweite geistlich (geistlich heißt hier keineswegs nicht-materiell, sondern von geistlicher, ewiger Dimension, im Gegensatz zur zeitlich-irdischen Dimension des ersten Todes).
Es gilt also folgendes Schema:
Erster Tod (leiblich) > zweiter Tod (geistlich)
Erste Auferstehung (geistlich) > zweite Auferstehung (leiblich)
Wer an der ersten, geistlichen Auferstehung teilhat, wird nicht an dem zweiten, geistlichen Tod teilhaben.
Chiliasten haben außerdem das Problem, dass bei buchstäblichem Verständnis dieses Abschnitts ausschließlich die durch Enthauptung hingerichteten Märtyrer und solche Gläubigen, die zur Zeit des (von ihnen kurzfristig verstandenen) Antichristen leben, an der ersten Auferstehung teilhaben, also bei weitem nicht alle Gläubigen.
Die Diskussion der beiden o.g. nicht-chiliastischen Sichtweisen lässt sich schwer kurz darzustellen. Allein der imho beste Kommentar zur Offb von G.K. Beale (1240 Seiten, ISBN 0853648514) hat 29 klein bedruckte Seiten über Offb 20,4-6 und speziell dieses Thema (kann ich dir gern kopieren und zuschicken) und kommt zur Sichtweise (a).
Es ist immer hilfreich, die Offenbarung christozentrisch zu verstehen. Deshalb führt imho folgender Abschnitt aus dem Kommentar von Beale (S. 1014-1015) auf die richtige Spur – auch wenn man wie ich die Sichtweise b) vorzieht:
Spielt die „erste Auferstehung“ sowohl auf die Auferstehung Christi als auch die der Gläubigen an?
Die „erste Auferstehung“ in V. 6 kann sich auf Jesu eigene Auferstehung beziehen, an der die Gläubigen während des Lebens und nach dem Tod teilhaben, wobei das letztere der Fokus dieses Abschnittes [Offb 20,4-6] ist. Das würde übereinstimmen mit der wiederholten Zusage, dass die Gläubigen „mit Christus herrschen“ (V. 4.6) und „Priester … des Christus“ sein werden (V. 6). An anderer Stelle des NT werden die Gläubigen geistlich mit Jesu Auferstehung identifiziert, wenngleich sich die meisten dieser Schriftstellen auf Gläubige beziehen, die noch auf der Erde leben (siehe die o.g. Stellenangaben, z.B. Kol 1,18; 3,1-3). J.A. Hughes behauptet z.B., Jesu Auferstehung als „Erstlingsfrucht“ in 1Kor 15,16-49 gewähre nicht nur die zukünftige Auferstehung des Leibes, sondern auch gegenwärtiges geistliches Leben für die verstorbenen Gläubigen.
Christi Auferstehung resultiert in seiner Identifikation als „Haupt“ (Kol 1,18), „Erstgeborener“ (Kol 1,18; Offb 1,5), „Anfang“ (Offb 3,14) und „Erstlingsfrucht“ (1Kor 15,20). Besonders wichtig ist der Begriff „Erstgeborener“ in Offb 1,5 (der in 3,14 als „Anfang“ interpretiert wird). Infolgedessen werden die Gläubigen zu einem „Königreich und Priestern“ (1,6), weil sie gemeinsam „in Jesus“ hineinversetzt sind (so 1,9). So hat auch in 5,6-10 nicht nur Jesu Tod, sondern auch seine Auferstehung die Auswirkung, Gläubige zu „einem Königtum und Priestern“ zu machen, sodass sie „über die Erde herrschen“. In gleicher Weise ist in 20,6 eine der Auswirkungen des „Teilhabens an der ersten Auferstehung“, dass Gläubige „Priester“ sind und „herrschen“. Christus bezeichnet sich in 1,17 und 2,8 als der „Erste“ und als der, der „wieder lebendig wurde“ [zao] (vgl. 22,13). Der Hinweis in 2,8 bildet den Grund dafür, dass die verfolgten Nachfolger Jesu nach ihrem leiblichen Tod eine „Krone des Lebens“ empfangen und vor dem „zweiten Tod“ bewahrt werden. Diese Parallelen zu 20,4-6 sind zu deutlich, um zufällig zu sein, sondern implizieren vielmehr, dass die „erste Auferstehung“ die Auferstehung Christi ist, mit der die Gläubigen geistlich identifiziert werden. (Hebr 12,23 ist vergleichbar: die „Gemeinde der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind“.) Die glückselige Ruhe nach dem Tod „im Herrn“ (14,13) stimmt überein mit dem Gedanken, dass 20,6 sich auf einen Segen für verstorbene Gläubige bezieht, die „Anteil haben (geistlicherweise) an der ersten Auferstehung“ Jesu Christi. Sie können in bedeutungsvoller Weise ruhen, weil sie niemals vom leiblichen und schon gar nicht vom „zweiten (geistlichen) Tod“ bedroht werden können.
Der Psalmist ruft aus: „Du bist meine Zuflucht, mein Teil im Land der Lebendigen … Führe aus dem Gefängnis heraus meine Seele“ (Ps 142,6.8) und „Der HERR ist das Teil meines Erbes … mein Fleisch wird in Sicherheit ruhen. Denn meine Seele wirst du dem Scheol nicht lassen, wirst nicht zugeben, dass dein Frommer die Grube sehe“ (Ps 16,5.9-10) Die Verknüpfung von meros (Teil) mit „Leben“ bzw. der Gedanke der Auferstehung in diesen Psalmen ist auffallend in Verbindung mit Offb 20,6, insbesondere weil Psalm 16 in Apg 2 auf die Auferstehung Jesu gedeutet wird.
Es macht also durchaus Sinn, in der „ersten Auferstehung“ die Auferstehung Jesu zu sehen, mit der alle Gläubigen verbunden sind, sowohl im Leben als auch im Sterben. Sie leben, weil er lebt. In geistlicher, juristischer und stellungsmäßiger Hinsicht ist seine Auferstehung ihre Auferstehung. Sie sind mit ihm versetzt in die himmlische Stellung. Sie leben und herrschen mit ihm. Dies ergäbe eine dritte Sichtweise, die die beiden anderen miteinander harmonisiert.
Und es passt zum Charakter der Offenbarung als Trostbuch für Christen in Drangsal: Es macht die iridischen Bedrohungen klein und die geistlichen Realitäten in Christus groß.
Außerdem sollte man hier vom gleichen biblischen Schreiber eine Stelle aus dem Johannesevangelium beachten: In Joh 5,24-29 nennt der Herr Jesus die geistliche Auferstehung der Gläubigen (Wiedergeburt) in einem Atemzug, quasi undifferenziert, mit der leiblichen Auferstehung. Bei den Ungläubigen nennt er jedoch nur die leibliche Auferstehung zum Gericht, offenbar eine Anspielung auf Dan 12,2.
Grüße, Werner