A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"
Moderator: Joschie
A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"
Zweiter Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
III. Dänemark. (Teil2)
Martensen hat auch in dem „politischen Sokrates“, in dem liberalen Kultusminister Ditlev Gothard Monrad († 1887), der einst den Mut nicht verlieren wollte nach dem Fall des Danevirke, dann aber in den ewigen Urwäldern Neuseelands politische Träume träumte, zeitweise einen Gegner gehabt. Monrads Begabung lag auf dem asketischen Gebiet. Er hat sich in der Welt des Gebetes und in der Welt der Seele bewegt. Letztere dachte er sich als ewig wie Gott, mit dem Recht der Selbstbestimmung, darum müsse auch das allgemeine Stimmrecht herrschen. Mit Hilfe des beliebten, vorsichtigen Dichters Ingemann brachte Martensen ein neues Gesangbuch 1854 zustande, das sog. Kovents Psalmebog. Auch Luthers Katechismus wurde wieder eingeführt mit Balslevs Erklärung; die erweiterten Konvente der Pröbste und Pastoren belebten die kirchliche Tätigkeit, 1871 erschien eine revidierte Bibel. Freilich mit seinen Verfassungsgedanken hatte Martensen kein Glück.
Er wollte das konsistoriale und bischöfliche Element stärken, während Claussen in der Kirchenkommission von 1854 das synodale betonte. Man verurteilte die Pastorenkirche. Das Ministerium hatte für alle diese Bemühungen keine Bereitwilligkeit des Entgegenkommens. Das Jahr 1848 hatte einst volle Religionsfreiheit gebracht, bis dahin waren noch die Kinder von Baptisten-Eltern dem kirchlichen Taufzwang unterworfen gewesen, aber noch immer war die lutherische Kirche die allein anerkannte, die der König als Oberbischof und unter ihm der Kultminister und die Volksvertretung leiteten. Schwankende Majoritäten regierten in der letzteren auch die Kirche. Wohl war das kirchliche und religiöse Leben erwacht, aber für Verfassungsfragen war kein Sinn vorhanden. Die Juristen schenkten der Volkskirche keine Teilnahme und die Grundtvigianer arbeiteten für völlige Freilassung der Pastoren und Gemeinen an ihr individuelles Belieben. Ihre leidenschaftliche Agitation erreichte wenigstens, dass die Konfirmation vom Könige freigegeben und der Parochialverband gelöst wurde (1855). 1873 gestattete ein Gesetz die Bildung von Wahlgemeinen in der Volkskirche; die Befürchtung, dass die Grundtvigschen Freiheitsideen die Volkskirche zerstören würden, hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Im Jahre 1880 bestanden acht Wahlgemeinen; der Grundtvigianismus ist konsequent liberal und radikal geworden. Man pflegt den Neurationalismus und ist zur Bildung einer vom Staate nicht anerkannten freien Gemeinde gekommen. Ein entlassener Pastor H. Jensen verbreitet radikale biblische Kritik, doch dürfen solche Lehren nicht von den Kanzeln verkündet werden. 1883 hat die Regierung die Erlaubnis gegeben, dass sich die Bischöfe des Reiches von Zeit zu Zeit zur Beratung innerkirchlicher Fragen versammeln dürfen. Das Werk der inneren Mission wurde von Pastor Rönne angeregt. Für die Hauptstadt ein Zweig derselben mit dem Blatte: Bethesda, und ein anderer für das Land mit dem Blatte: Innere Missionszeitung, mit 14 000 Abonnenten; Leiter: Pastor Beck. Mancher methodistische Unfug mit den „Heiligen“ wird hier getrieben. Die Pastoren Blädel und Frimodt († 1879) und Harald Stein sind hier tätig gewesen;202 ersterer auch der eifrige Förderer von Kirchenbauten in den Vorstädten Kopenhagens. Pastor Hans Knudsen († 1886) widmete sich der Pflege von verkrüppelten Kindern. Der Privatmann Clausen betreibt die Mission in den Häusern der am stärksten bevölkerten Stadtquartiere. Bei vielfach verbreiteter Gleichgültigkeit sind die Dänen doch auch eifrige Predigtleser und Predigthörer. Die Traktat Gesellschaft (gegr. 1843) entfaltet eine reiche Wirksamkeit; auch die Tagesblätter werden von der Geistlichkeit vielfach benutzt. Man zählt in der Hauptstadt auf 11 000 Seelen einen Pastor. Für den geschmackvollen Bau von Bethesda kamen in kurzer Zeit 165 000 Mark freiwillige Gaben zusammen: eine Diakonissenanstalt, die nach dem Wunsche der Königin auf dem Boden der Volkskirche stehen sollte. Sie hat ein Organ in der Föbe und 1883 eine Einnahme von 91 383 Mark. Die innere Mission hat ungefähr 100 Missionshäuser und 80 Laienprediger. Sie gewinnt durch Festigkeit und Einmütigkeit an Boden. Von der inneren Missionseinrichtung ist ein Gemeindekonvent gebildet aus 90 Geistlichen und Laien aus dem ganzen Lande: Vertreter „der lebendigen Gemeinde.“ Eine pietistisch-methodistische Bewegung, die sog. Trandbergsche, ergriff die abgelegene Insel Bornholm. Da Dänemark kein Dissentergesetz hat, ist das Inselland das Paradies vielfacher Sektiererei. Das Mormonentum mit einer Kirche in Kopenhagen (obwohl ungesetzlich), der Irvingismus und der Methodismus, der Baptismus (3500 Seelen), sind mit großem Erfolge tätig; 1851 hat man für die Dissenter, für die gemischten Ehen die Zivilehe eingeführt. In Kopenhagen 1891 200 Fälle davon. Auch eine ansehnliche katholische Gemeine hat sich in der Hauptstadt gebildet, der von Martensen unterrichtete Prinz Waldemar heiratete eine Tochter aus dem Hause der Orleans, willigte aber nicht in die katholische Erziehung der Kinder ein . Pastor Schepelern erklärt in einer Reihe von Flugschriften die Irrtümer des Papismus. Scharen von barmherzigen Schwestern stellen die Römischen ins Feld. Weil in Dänemark alles Orden sein muss, vereinigt sich auch die Temperenz-Bewegung im Good-Templar-Orden, auf weltlicher Grundlage. Auch die Heilsarmee hat sich festgesetzt.
Am 3. Februar 1884 ist Martensen gestorben. Am 2. Sept. 1872 war Grundtvig 89 Jahre alt entschlafen: ein Mann feurigen Blickes, mit langem, weißem Barte. Nie sah Kopenhagen ein Begräbnis wie das des „Propheten des Nordens“.203 Ein Prophet im Sinne der Schrift war er nicht. Die dänische Missionsgesellschaft hatte 1890 eine Einnahme von 95 851 Kronen, Ausgabe 83 650 Kronen. Im Lande bestehen 471 Missionsvereine, welche durch eine besondere Verordnung vom November 1889 ihre Organisation erhalten haben. Jeder Kreisverein muss wenigstens 25 Mitglieder zählen und jährlich mindestens 50 Kronen an die Missionskasse beitragen, außerdem was sonst gesammelt wird. Jeder Missionsverein sendet an die Missionskonferenz einen stimmberechtigten Vertreter. Das oberste Missionskomitee besteht aus 10 Mitgliedern, der jetzige Präsident ist der Probst J. Vahl. Eine Missionsschule mit 2 Lehrern, 6 Schülern. Die dänische Mission arbeitet auf den Stationen von Puttambaukam, Tricolore und Arcas. Auch unter den Santals in Bengalen. Hier wirkt der Norwege Skrefsrud, der schließlich Freimaurer wurde. Die Santal-Mission zählt jetzt 6000 Getaufte. Auch Grönland ist ein Feld der dänischen Mission (etwa 7000 Seelen). Von der Santalistanischen Missionsgemeine zu Assam hat sich eine selbstständige Mission unter dem Volke der Metschen abgezweigt. Eine Seemanns- und eine Auswanderermission sind im Auslande tätig. Der Präsident einer Missionsschule war Dr. Kalkar († 1886). 1884 hatte die dänische Missionsgesellschaft 58 907 Kronen Einnahme. 1885 war ein Kapitalvermögen von 21 705 Kronen vorhanden. Die SantalMission hatte 1884 eine Einnahme von 17 825 Kronen; 1886 55 336 Mark. Die katholischen 7 Gemeinen zählen 4000 Seelen. Geld und Versprechungen mehren die Bekehrten. Die romanisierenden Tendenzen der Lutheraner haben den Einfluss Roms gefördert. Ein dänischer Janssen ist in der Person eines pensionierten lutherischen Propstes erstanden. Der Priester Hansen arbeitet an einer Kirchengeschichte, in der römisches Licht alles erleuchten soll. Die Sonntagsentheiligung ist erschreckend, (ein Gesetz vom Mai 1889 hat für die Fabriken die Sonntagsruhe geregelt), Unsittlichkeit und Freimaurerei beherrschen die hohen Stände. Sozialismus und Frauenemanzipation sind die Frucht maßloser Freiheitsphrasen auch auf theologischer Seite, wo auch die Leichenreden nach verschiedenen Taxen tief das Ansehen der Kirche schädigen. Das Christentum erhebt zum Leben so ruft der Grundtvigianismus die Theologie erstickt zum Tode. Theologie und Gedankenfreiheit sind unvereinbare Gegensätze. In dem Buche von Gleiß (1882): „Aus dem evangelischen Norden“ Lernen wir die jetzige Predigtweise kennen. Angesehen in Kopenhagen ist Jak. Paulli, Kgl. Konfessionarius. Bekannt ist auch auswärts der Professor Scharling († 1877), den Reuß den ausgezeichnetsten unter den lebenden Bibelforschern Dänemarks nannte. Er hat auch durch eine Schrift über Grundtvig oder Luther den ersteren als unlutherisch verworfen. Der neue Kultusminister Goos hat einen Gesetzentwurf dem Reichstag vorgelegt, nach welchem auf Kosten der Staatskasse innerhalb 6 Jahren 31 Kirchen und 13 Kapellen neu erbaut und 12 neue Pfarrämter errichtet werden sollen.
zu.202 Vergl. die Monatsschrift für innere Mission vom Jahre 1881: Mittheilungen von dem unermüdlichen Dolmetscher dänisch-kirchlicher Literatur. Pastor Michelsen in Lübeck.
zu.203 Sein Leben von Pry (1871) und Kaftan (1876).
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
III. Dänemark. (Teil2)
Martensen hat auch in dem „politischen Sokrates“, in dem liberalen Kultusminister Ditlev Gothard Monrad († 1887), der einst den Mut nicht verlieren wollte nach dem Fall des Danevirke, dann aber in den ewigen Urwäldern Neuseelands politische Träume träumte, zeitweise einen Gegner gehabt. Monrads Begabung lag auf dem asketischen Gebiet. Er hat sich in der Welt des Gebetes und in der Welt der Seele bewegt. Letztere dachte er sich als ewig wie Gott, mit dem Recht der Selbstbestimmung, darum müsse auch das allgemeine Stimmrecht herrschen. Mit Hilfe des beliebten, vorsichtigen Dichters Ingemann brachte Martensen ein neues Gesangbuch 1854 zustande, das sog. Kovents Psalmebog. Auch Luthers Katechismus wurde wieder eingeführt mit Balslevs Erklärung; die erweiterten Konvente der Pröbste und Pastoren belebten die kirchliche Tätigkeit, 1871 erschien eine revidierte Bibel. Freilich mit seinen Verfassungsgedanken hatte Martensen kein Glück.
Er wollte das konsistoriale und bischöfliche Element stärken, während Claussen in der Kirchenkommission von 1854 das synodale betonte. Man verurteilte die Pastorenkirche. Das Ministerium hatte für alle diese Bemühungen keine Bereitwilligkeit des Entgegenkommens. Das Jahr 1848 hatte einst volle Religionsfreiheit gebracht, bis dahin waren noch die Kinder von Baptisten-Eltern dem kirchlichen Taufzwang unterworfen gewesen, aber noch immer war die lutherische Kirche die allein anerkannte, die der König als Oberbischof und unter ihm der Kultminister und die Volksvertretung leiteten. Schwankende Majoritäten regierten in der letzteren auch die Kirche. Wohl war das kirchliche und religiöse Leben erwacht, aber für Verfassungsfragen war kein Sinn vorhanden. Die Juristen schenkten der Volkskirche keine Teilnahme und die Grundtvigianer arbeiteten für völlige Freilassung der Pastoren und Gemeinen an ihr individuelles Belieben. Ihre leidenschaftliche Agitation erreichte wenigstens, dass die Konfirmation vom Könige freigegeben und der Parochialverband gelöst wurde (1855). 1873 gestattete ein Gesetz die Bildung von Wahlgemeinen in der Volkskirche; die Befürchtung, dass die Grundtvigschen Freiheitsideen die Volkskirche zerstören würden, hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Im Jahre 1880 bestanden acht Wahlgemeinen; der Grundtvigianismus ist konsequent liberal und radikal geworden. Man pflegt den Neurationalismus und ist zur Bildung einer vom Staate nicht anerkannten freien Gemeinde gekommen. Ein entlassener Pastor H. Jensen verbreitet radikale biblische Kritik, doch dürfen solche Lehren nicht von den Kanzeln verkündet werden. 1883 hat die Regierung die Erlaubnis gegeben, dass sich die Bischöfe des Reiches von Zeit zu Zeit zur Beratung innerkirchlicher Fragen versammeln dürfen. Das Werk der inneren Mission wurde von Pastor Rönne angeregt. Für die Hauptstadt ein Zweig derselben mit dem Blatte: Bethesda, und ein anderer für das Land mit dem Blatte: Innere Missionszeitung, mit 14 000 Abonnenten; Leiter: Pastor Beck. Mancher methodistische Unfug mit den „Heiligen“ wird hier getrieben. Die Pastoren Blädel und Frimodt († 1879) und Harald Stein sind hier tätig gewesen;202 ersterer auch der eifrige Förderer von Kirchenbauten in den Vorstädten Kopenhagens. Pastor Hans Knudsen († 1886) widmete sich der Pflege von verkrüppelten Kindern. Der Privatmann Clausen betreibt die Mission in den Häusern der am stärksten bevölkerten Stadtquartiere. Bei vielfach verbreiteter Gleichgültigkeit sind die Dänen doch auch eifrige Predigtleser und Predigthörer. Die Traktat Gesellschaft (gegr. 1843) entfaltet eine reiche Wirksamkeit; auch die Tagesblätter werden von der Geistlichkeit vielfach benutzt. Man zählt in der Hauptstadt auf 11 000 Seelen einen Pastor. Für den geschmackvollen Bau von Bethesda kamen in kurzer Zeit 165 000 Mark freiwillige Gaben zusammen: eine Diakonissenanstalt, die nach dem Wunsche der Königin auf dem Boden der Volkskirche stehen sollte. Sie hat ein Organ in der Föbe und 1883 eine Einnahme von 91 383 Mark. Die innere Mission hat ungefähr 100 Missionshäuser und 80 Laienprediger. Sie gewinnt durch Festigkeit und Einmütigkeit an Boden. Von der inneren Missionseinrichtung ist ein Gemeindekonvent gebildet aus 90 Geistlichen und Laien aus dem ganzen Lande: Vertreter „der lebendigen Gemeinde.“ Eine pietistisch-methodistische Bewegung, die sog. Trandbergsche, ergriff die abgelegene Insel Bornholm. Da Dänemark kein Dissentergesetz hat, ist das Inselland das Paradies vielfacher Sektiererei. Das Mormonentum mit einer Kirche in Kopenhagen (obwohl ungesetzlich), der Irvingismus und der Methodismus, der Baptismus (3500 Seelen), sind mit großem Erfolge tätig; 1851 hat man für die Dissenter, für die gemischten Ehen die Zivilehe eingeführt. In Kopenhagen 1891 200 Fälle davon. Auch eine ansehnliche katholische Gemeine hat sich in der Hauptstadt gebildet, der von Martensen unterrichtete Prinz Waldemar heiratete eine Tochter aus dem Hause der Orleans, willigte aber nicht in die katholische Erziehung der Kinder ein . Pastor Schepelern erklärt in einer Reihe von Flugschriften die Irrtümer des Papismus. Scharen von barmherzigen Schwestern stellen die Römischen ins Feld. Weil in Dänemark alles Orden sein muss, vereinigt sich auch die Temperenz-Bewegung im Good-Templar-Orden, auf weltlicher Grundlage. Auch die Heilsarmee hat sich festgesetzt.
Am 3. Februar 1884 ist Martensen gestorben. Am 2. Sept. 1872 war Grundtvig 89 Jahre alt entschlafen: ein Mann feurigen Blickes, mit langem, weißem Barte. Nie sah Kopenhagen ein Begräbnis wie das des „Propheten des Nordens“.203 Ein Prophet im Sinne der Schrift war er nicht. Die dänische Missionsgesellschaft hatte 1890 eine Einnahme von 95 851 Kronen, Ausgabe 83 650 Kronen. Im Lande bestehen 471 Missionsvereine, welche durch eine besondere Verordnung vom November 1889 ihre Organisation erhalten haben. Jeder Kreisverein muss wenigstens 25 Mitglieder zählen und jährlich mindestens 50 Kronen an die Missionskasse beitragen, außerdem was sonst gesammelt wird. Jeder Missionsverein sendet an die Missionskonferenz einen stimmberechtigten Vertreter. Das oberste Missionskomitee besteht aus 10 Mitgliedern, der jetzige Präsident ist der Probst J. Vahl. Eine Missionsschule mit 2 Lehrern, 6 Schülern. Die dänische Mission arbeitet auf den Stationen von Puttambaukam, Tricolore und Arcas. Auch unter den Santals in Bengalen. Hier wirkt der Norwege Skrefsrud, der schließlich Freimaurer wurde. Die Santal-Mission zählt jetzt 6000 Getaufte. Auch Grönland ist ein Feld der dänischen Mission (etwa 7000 Seelen). Von der Santalistanischen Missionsgemeine zu Assam hat sich eine selbstständige Mission unter dem Volke der Metschen abgezweigt. Eine Seemanns- und eine Auswanderermission sind im Auslande tätig. Der Präsident einer Missionsschule war Dr. Kalkar († 1886). 1884 hatte die dänische Missionsgesellschaft 58 907 Kronen Einnahme. 1885 war ein Kapitalvermögen von 21 705 Kronen vorhanden. Die SantalMission hatte 1884 eine Einnahme von 17 825 Kronen; 1886 55 336 Mark. Die katholischen 7 Gemeinen zählen 4000 Seelen. Geld und Versprechungen mehren die Bekehrten. Die romanisierenden Tendenzen der Lutheraner haben den Einfluss Roms gefördert. Ein dänischer Janssen ist in der Person eines pensionierten lutherischen Propstes erstanden. Der Priester Hansen arbeitet an einer Kirchengeschichte, in der römisches Licht alles erleuchten soll. Die Sonntagsentheiligung ist erschreckend, (ein Gesetz vom Mai 1889 hat für die Fabriken die Sonntagsruhe geregelt), Unsittlichkeit und Freimaurerei beherrschen die hohen Stände. Sozialismus und Frauenemanzipation sind die Frucht maßloser Freiheitsphrasen auch auf theologischer Seite, wo auch die Leichenreden nach verschiedenen Taxen tief das Ansehen der Kirche schädigen. Das Christentum erhebt zum Leben so ruft der Grundtvigianismus die Theologie erstickt zum Tode. Theologie und Gedankenfreiheit sind unvereinbare Gegensätze. In dem Buche von Gleiß (1882): „Aus dem evangelischen Norden“ Lernen wir die jetzige Predigtweise kennen. Angesehen in Kopenhagen ist Jak. Paulli, Kgl. Konfessionarius. Bekannt ist auch auswärts der Professor Scharling († 1877), den Reuß den ausgezeichnetsten unter den lebenden Bibelforschern Dänemarks nannte. Er hat auch durch eine Schrift über Grundtvig oder Luther den ersteren als unlutherisch verworfen. Der neue Kultusminister Goos hat einen Gesetzentwurf dem Reichstag vorgelegt, nach welchem auf Kosten der Staatskasse innerhalb 6 Jahren 31 Kirchen und 13 Kapellen neu erbaut und 12 neue Pfarrämter errichtet werden sollen.
zu.202 Vergl. die Monatsschrift für innere Mission vom Jahre 1881: Mittheilungen von dem unermüdlichen Dolmetscher dänisch-kirchlicher Literatur. Pastor Michelsen in Lübeck.
zu.203 Sein Leben von Pry (1871) und Kaftan (1876).
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31
A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"
Zweiter Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
IV. Schweden
Literatur: A. E. Knös, die schwedische Kirchenverfassung, 1852. R. Sundelin, Svenska Kyrkans och statens förhallande till hvarandra, 1872. Ähnliche Schriften von Rydén und Westerling. Die Stockholmer Protokolle und Jahresberichte der Generalsynoden und der verschiedenen Gesellschaften. Die Kirche und Schule Schwedens von Esaias Tegnér, 1837. Nordisk Revy, 1883 ff. C. A. Cornelius, die Kirchengesch. d. neunzehnten Jahrh., 1879.
Eine die schwedische Kirche lebhaft charakterisierende Eigentümlichkeit ist die starke Beteiligung des Laienelements an geistlicher Tätigkeit. Zunächst ist dieses auch in den Verfassungsformen stark vertreten. Die schwedische Kirchenversammlung, die neben dem Könige, seinem Kirchenminister und dem Reichstag die Kirche leitet, besteht zur Hälfte aus Laien. In den Domkapiteln sind diese sogar in der Mehrheit. Der Kirchenrat und der Schulrat sind in den Parochialgemeinen von großem Einfluss. Ja, jede Gemeine kann eine Kirchenzusammenkunft halten, in der ein Wahlrecht für geistreiche Anstellungen geübt wird. Das Volk hat ein großes Recht in allen kirchlichen Beziehungen. Aber noch viel weiter geht diese Tätigkeit der Laien: dieselben treten überall predigend und lehrend auf. Die Anregung dazu haben namentlich erst seit 1700 die pietistischen und dann seit 1740 die herrnhutischen Konventikel gegeben. Man nannte ihre Anhänger Leser wegen ihres Studiums der Bibel und der Schriften Luthers. Sie machten keine eigentlichen Separatisten aus und besuchten fleißig die Gottesdienste. Sie wollten nur ausüben, was die Kirche bekannte, und dies mit strengster Feier des Sabbats. Eine ernste, fast düstere Frömmigkeit. Die Trunkenheit schwand unter ihnen, Eide und Schwüre hörte man nicht. Sie glaubten, die Geistlichen wohl zu erkennen, die vom Geist geleitet wurden. Ihre besonderen Konventikel waren ihre Freude. Nahm die Bewegung der Leser auch ab, so blieb doch überall die Lust an der Laientätigkeit, und als nun 1858 die Konventikel Gesetze aufgehoben wurden und die Mitglieder der Kirche ohne die unmittelbare Leitung der gehörigen Geistlichkeit zusammen kommen konnten, blühte die Laientätigkeit so zuchtlos und wuchernd auf, dass neben den ordentlichen Kirchen in großer Zahl Missionskirchen entstanden, in denen die Laien oft gleichzeitig wie dort Gottesdienste hielten. Mit Verirrungen in der Lehre und Praxis, in allezeit Traurige und allezeit Fröhliche geteilt. Man wollte aber dabei in der Volkskirche bleiben, deren Taufe man noch immer hochachtete. Als nach englisch-amerikanischem Muster in neuer Zeit eine Erweckung das Land durchzog, trat der theologisch gebildete Lektor Waldenström an der lateinischen Schule zu Gefle an die Spitze und förderte mit großer Begabung, obwohl in der Genugtuungslehre ketzerisch, die ungebundene Laientätigkeit. Man bildete Abendmahlsvereine. Eine eigentümliche Aktiengesellschaft übernahm seine Zeitschrift „Pietisten“ und seine Schriften. Natürlich wurde durch die Freigebung der Konventikel auch das Dissertentum mächtig gefördert. Erst 1858 war das Gesetz der Landesverweisungsstrafe wegen Abfalls von der Landesreligion aufgehoben worden, und 1860 das erste Dissidentengesetz erlassen, obwohl eingewanderte Ausländer der verschiedenen Religionen schon seit Mitte des vorigen Jahrhunderts freie Religionsübung hatten.
1873 erschien auch ein sehr liberales Dissentengesetz und nun haben sich die Baptisten (1879 gab es 18 928, 1890 34 814 in Schweden), die Methodisten, die Adventisten, die Irvingianer, die Swedenborger, die Mormonen und Positivisten vermehrt. Die Freunde des Amerikaners Theodor Parker204, dieses glühenden, sich selbst aufreibenden Unitariers und Feindes der Sklaverei, schlossen sich zu einer Gesellschaft der Wahrheitssucher und einem Schwedischen Protestantenverein zusammen. Atheismus und Theismus stritten sich hier. Zu besonderem Ansehen kam die methodistisch episkopale Kirche, die 1892 78 legalisierte Kirchen hatte.
Obwohl von diesen vielen Sekten geschädigt, ist doch die schwedische Kirche noch eine von großer Teilnahme des Volkes getragene und die Zeit, wo Staat und Kirche sich trennen könnten, liegt fern. Am Anfang dieses Jahrhunderts steht in dem Stifte Wexjö der Dichter schönster Sprache, der Bischof Esaias Tegnér, da. Seine Frithjofs-Saga wanderte durch alle Welt. „Der Rationalismus“, sagte er, „ist eine nackte Einseitigkeit, ohne Gehalt für die Wissenschaft, ohne Farbe für die Phantasie und ohne Trost für das Herz.“ Doch hat er auch zu H. Leo gesagt: Solchen Unsinn wie die justificatio vicaria hat man in Schweden völlig beiseite geworfen. Er hat die Kirche und Schule namentlich seines Stiftes beschrieben († 1846). Wir nennen auch Dr. Peter Fjellstedt und Dr. Andres Fryxell. Ersterer wunderbar sprachbegabt, in der Mission lange tätig, in der Türkei dann Herausgeber von Lehrbüchern und einer revidierten Übersetzung der Bibel, ist er zuletzt an der Missionsanstalt in Lund, wo er die Schrift erklärt, ein preisgekröntes Andachtsbuch für Gefangene und die symbolischen Bücher herausgibt. Halle machte ihn zum Doktor der Theologie. Er stirbt 1881. Emilia Ahnfelt-Laurin hat sein Leben beschrieben (1881). Der andere Schwede war erst Probst im nördlichen Wermland und dann ohne Amt angesehener Historiker. Seine Berichte aus der Geschichte Schwedens wurden vielfach übersetzt. Wie so mancher schwedische Pastor ist auch er hochalt geworden († 1881). Auf den beiden Universitäten Upsala und Lund wird orthodox lutherisch gelehrt, wenn auch in Schwankungen zwischen Kliefoth und Beck. Die Kirchenzeitung mehr lutherisch, der Kirchenfreund im Sinne der ev. Allianz. Die Liturgie von 1809 hat den Gottesdienst geordnet. Ein dreifaches Perikopen System besteht. Das 1819 eingeführte Psalmbuch des Erzbischofs Wallin, gegen das einst die Leser protestierten, hat alles Beste und Gehaltvollste nur mit leichter Hand umgearbeitet aufgenommen. „Viele dieser Gesänge sind die Ehre der Kirche und des Landes.“ 1878 geschah die Einführung einer neuen Erklärung des luth. Katechismus. Eine revidierte Übersetzung des N. T. hat 1883 Anerkennung gefunden. Seit 1836 wirkt eine „Schwedische Missionsgesellschaft“ unter Lappen und seit 1874 die schwedische Kirche selbst unter Tamulen und neuerdings auch unter den Zulus. Etwa 15 Missionare und eine Einnahme von über 160 000 Mark. Weiter die seit 1856 entstandene einflussreiche „evangelische vaterländische Stiftung“, die Bibelboten zum Predigtdienst bildet und dann auch nach Ostafrika und zu den Gouden in Ostindien Missionare sandte. 1891 waren die Einnahmen 272 875 Mark. Sie wirkt auf Grund des ev. luth. Bekenntnisses und im freien Anschluss an die Landeskirche. Der separatistische „schwedische Missionsbund“ (seit 1879) umfasste 1891 735 Missionsvereine. Viele andere Vereine bestehen daneben. Es sind bedeutende Summen, die dahin zusammenfließen. Vergl. Zöckler, Comp. Religionsstatistik im Handbuch.
Am 28. November 1830 hatte man das tausendjährige Fest der Einführung des Christentums in Schweden begangen. Am 6. November 1832 feierte man nach 200 Jahren das Gedächtnis „des großen königlichen Märtyrers: es war ein Sabbat mitten in den Werkeltagen des Lebens“; nach 250 Jahren sprach König Oskar bei gleicher Gelegenheit: „Des großen Königs Andenken soll ferner leben, so lange in Schweden ein Volk lebt, das Gott den Herrn fürchtet.“ Zwei reiche Großhändler schenkten dabei der Universität Upsala 120 000 Kronen. Von schwedischen Theologen ist auswärts G. v. Scheele bekannt, der jetzt auch mit dem Lektor Dr. Ullmann eine neue Quartalschrift herausgibt: „Tidskrift för kristlig tro och bildning“. 1885 ist eine christliche Tageszeitung geschaffen, der 204 Sein Leben von Weiß (1863), Réville (1866) und Frotinghäm (1876).
Redakteur ist der Kandidat Torelius in Stockholm. Man klagt viel über die Unsittlichkeit der Hauptstadt, die dadurch noch vermehrt wird, dass es verboten ist, nach dem Namen der Mutter von einem unehelichen Kinde zu forschen. Ein schwed. Landpastor tritt uns in Hermann Wilhelm Ulff entgegen, von dem ein Lebensbild gegeben ist.
zu.204 Sein Leben von Weiß (1863), Réville (1866) und Frotinghäm (1876)
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
IV. Schweden
Literatur: A. E. Knös, die schwedische Kirchenverfassung, 1852. R. Sundelin, Svenska Kyrkans och statens förhallande till hvarandra, 1872. Ähnliche Schriften von Rydén und Westerling. Die Stockholmer Protokolle und Jahresberichte der Generalsynoden und der verschiedenen Gesellschaften. Die Kirche und Schule Schwedens von Esaias Tegnér, 1837. Nordisk Revy, 1883 ff. C. A. Cornelius, die Kirchengesch. d. neunzehnten Jahrh., 1879.
Eine die schwedische Kirche lebhaft charakterisierende Eigentümlichkeit ist die starke Beteiligung des Laienelements an geistlicher Tätigkeit. Zunächst ist dieses auch in den Verfassungsformen stark vertreten. Die schwedische Kirchenversammlung, die neben dem Könige, seinem Kirchenminister und dem Reichstag die Kirche leitet, besteht zur Hälfte aus Laien. In den Domkapiteln sind diese sogar in der Mehrheit. Der Kirchenrat und der Schulrat sind in den Parochialgemeinen von großem Einfluss. Ja, jede Gemeine kann eine Kirchenzusammenkunft halten, in der ein Wahlrecht für geistreiche Anstellungen geübt wird. Das Volk hat ein großes Recht in allen kirchlichen Beziehungen. Aber noch viel weiter geht diese Tätigkeit der Laien: dieselben treten überall predigend und lehrend auf. Die Anregung dazu haben namentlich erst seit 1700 die pietistischen und dann seit 1740 die herrnhutischen Konventikel gegeben. Man nannte ihre Anhänger Leser wegen ihres Studiums der Bibel und der Schriften Luthers. Sie machten keine eigentlichen Separatisten aus und besuchten fleißig die Gottesdienste. Sie wollten nur ausüben, was die Kirche bekannte, und dies mit strengster Feier des Sabbats. Eine ernste, fast düstere Frömmigkeit. Die Trunkenheit schwand unter ihnen, Eide und Schwüre hörte man nicht. Sie glaubten, die Geistlichen wohl zu erkennen, die vom Geist geleitet wurden. Ihre besonderen Konventikel waren ihre Freude. Nahm die Bewegung der Leser auch ab, so blieb doch überall die Lust an der Laientätigkeit, und als nun 1858 die Konventikel Gesetze aufgehoben wurden und die Mitglieder der Kirche ohne die unmittelbare Leitung der gehörigen Geistlichkeit zusammen kommen konnten, blühte die Laientätigkeit so zuchtlos und wuchernd auf, dass neben den ordentlichen Kirchen in großer Zahl Missionskirchen entstanden, in denen die Laien oft gleichzeitig wie dort Gottesdienste hielten. Mit Verirrungen in der Lehre und Praxis, in allezeit Traurige und allezeit Fröhliche geteilt. Man wollte aber dabei in der Volkskirche bleiben, deren Taufe man noch immer hochachtete. Als nach englisch-amerikanischem Muster in neuer Zeit eine Erweckung das Land durchzog, trat der theologisch gebildete Lektor Waldenström an der lateinischen Schule zu Gefle an die Spitze und förderte mit großer Begabung, obwohl in der Genugtuungslehre ketzerisch, die ungebundene Laientätigkeit. Man bildete Abendmahlsvereine. Eine eigentümliche Aktiengesellschaft übernahm seine Zeitschrift „Pietisten“ und seine Schriften. Natürlich wurde durch die Freigebung der Konventikel auch das Dissertentum mächtig gefördert. Erst 1858 war das Gesetz der Landesverweisungsstrafe wegen Abfalls von der Landesreligion aufgehoben worden, und 1860 das erste Dissidentengesetz erlassen, obwohl eingewanderte Ausländer der verschiedenen Religionen schon seit Mitte des vorigen Jahrhunderts freie Religionsübung hatten.
1873 erschien auch ein sehr liberales Dissentengesetz und nun haben sich die Baptisten (1879 gab es 18 928, 1890 34 814 in Schweden), die Methodisten, die Adventisten, die Irvingianer, die Swedenborger, die Mormonen und Positivisten vermehrt. Die Freunde des Amerikaners Theodor Parker204, dieses glühenden, sich selbst aufreibenden Unitariers und Feindes der Sklaverei, schlossen sich zu einer Gesellschaft der Wahrheitssucher und einem Schwedischen Protestantenverein zusammen. Atheismus und Theismus stritten sich hier. Zu besonderem Ansehen kam die methodistisch episkopale Kirche, die 1892 78 legalisierte Kirchen hatte.
Obwohl von diesen vielen Sekten geschädigt, ist doch die schwedische Kirche noch eine von großer Teilnahme des Volkes getragene und die Zeit, wo Staat und Kirche sich trennen könnten, liegt fern. Am Anfang dieses Jahrhunderts steht in dem Stifte Wexjö der Dichter schönster Sprache, der Bischof Esaias Tegnér, da. Seine Frithjofs-Saga wanderte durch alle Welt. „Der Rationalismus“, sagte er, „ist eine nackte Einseitigkeit, ohne Gehalt für die Wissenschaft, ohne Farbe für die Phantasie und ohne Trost für das Herz.“ Doch hat er auch zu H. Leo gesagt: Solchen Unsinn wie die justificatio vicaria hat man in Schweden völlig beiseite geworfen. Er hat die Kirche und Schule namentlich seines Stiftes beschrieben († 1846). Wir nennen auch Dr. Peter Fjellstedt und Dr. Andres Fryxell. Ersterer wunderbar sprachbegabt, in der Mission lange tätig, in der Türkei dann Herausgeber von Lehrbüchern und einer revidierten Übersetzung der Bibel, ist er zuletzt an der Missionsanstalt in Lund, wo er die Schrift erklärt, ein preisgekröntes Andachtsbuch für Gefangene und die symbolischen Bücher herausgibt. Halle machte ihn zum Doktor der Theologie. Er stirbt 1881. Emilia Ahnfelt-Laurin hat sein Leben beschrieben (1881). Der andere Schwede war erst Probst im nördlichen Wermland und dann ohne Amt angesehener Historiker. Seine Berichte aus der Geschichte Schwedens wurden vielfach übersetzt. Wie so mancher schwedische Pastor ist auch er hochalt geworden († 1881). Auf den beiden Universitäten Upsala und Lund wird orthodox lutherisch gelehrt, wenn auch in Schwankungen zwischen Kliefoth und Beck. Die Kirchenzeitung mehr lutherisch, der Kirchenfreund im Sinne der ev. Allianz. Die Liturgie von 1809 hat den Gottesdienst geordnet. Ein dreifaches Perikopen System besteht. Das 1819 eingeführte Psalmbuch des Erzbischofs Wallin, gegen das einst die Leser protestierten, hat alles Beste und Gehaltvollste nur mit leichter Hand umgearbeitet aufgenommen. „Viele dieser Gesänge sind die Ehre der Kirche und des Landes.“ 1878 geschah die Einführung einer neuen Erklärung des luth. Katechismus. Eine revidierte Übersetzung des N. T. hat 1883 Anerkennung gefunden. Seit 1836 wirkt eine „Schwedische Missionsgesellschaft“ unter Lappen und seit 1874 die schwedische Kirche selbst unter Tamulen und neuerdings auch unter den Zulus. Etwa 15 Missionare und eine Einnahme von über 160 000 Mark. Weiter die seit 1856 entstandene einflussreiche „evangelische vaterländische Stiftung“, die Bibelboten zum Predigtdienst bildet und dann auch nach Ostafrika und zu den Gouden in Ostindien Missionare sandte. 1891 waren die Einnahmen 272 875 Mark. Sie wirkt auf Grund des ev. luth. Bekenntnisses und im freien Anschluss an die Landeskirche. Der separatistische „schwedische Missionsbund“ (seit 1879) umfasste 1891 735 Missionsvereine. Viele andere Vereine bestehen daneben. Es sind bedeutende Summen, die dahin zusammenfließen. Vergl. Zöckler, Comp. Religionsstatistik im Handbuch.
Am 28. November 1830 hatte man das tausendjährige Fest der Einführung des Christentums in Schweden begangen. Am 6. November 1832 feierte man nach 200 Jahren das Gedächtnis „des großen königlichen Märtyrers: es war ein Sabbat mitten in den Werkeltagen des Lebens“; nach 250 Jahren sprach König Oskar bei gleicher Gelegenheit: „Des großen Königs Andenken soll ferner leben, so lange in Schweden ein Volk lebt, das Gott den Herrn fürchtet.“ Zwei reiche Großhändler schenkten dabei der Universität Upsala 120 000 Kronen. Von schwedischen Theologen ist auswärts G. v. Scheele bekannt, der jetzt auch mit dem Lektor Dr. Ullmann eine neue Quartalschrift herausgibt: „Tidskrift för kristlig tro och bildning“. 1885 ist eine christliche Tageszeitung geschaffen, der 204 Sein Leben von Weiß (1863), Réville (1866) und Frotinghäm (1876).
Redakteur ist der Kandidat Torelius in Stockholm. Man klagt viel über die Unsittlichkeit der Hauptstadt, die dadurch noch vermehrt wird, dass es verboten ist, nach dem Namen der Mutter von einem unehelichen Kinde zu forschen. Ein schwed. Landpastor tritt uns in Hermann Wilhelm Ulff entgegen, von dem ein Lebensbild gegeben ist.
zu.204 Sein Leben von Weiß (1863), Réville (1866) und Frotinghäm (1876)
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31
A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"
Zweiter Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
V. Norwegen.
Literatur: Zorn, Staat und Kirche in Norwegen, 1875. Bang, Hans Nielsen Hauge og hans Samtid. 2. Aufl. 1875.
Färden, Peter Härems, Liv. og Virksomhed, 1878. Norsk Maanedskrift, 1884 ff. Henriette Gislesen und ihre Freunde von E. W. 1890.
Im Anfange dieses Jahrhunderts entstand unter den norwegischen Bauern eine so mächtige und weltumfassende geistliche Bewegung, dass sie bald auch auf die Diener der Kirche Einfluss übte und in hohem Grade beitrug, sie von der sogenannten Erleuchtungstheologie zu positivem Christentum zurückzuführen. An der Spitze dieser Bewegung trat in dem Kirchspiel Thune schon am Ende des vorigen Jahrhunderts der gewaltige Bauernprediger Hans Nielsen Hauge auf und bekämpfte den von Dänemark eingekommenen Rationalismus sowohl mit Rede als mit Schriften. Er machte ungezählte Meilen zu Fuß und verband die Seinen in Brüderkreisen. Ein liebenswürdiger Mann mit mildem Gesicht, hellem Haar und breiter Brust, von gesetzlich vorsichtiger Weise. Er wich eigentlich nicht von dem lutherischen Lehrbegriff ab, hielt aber den geistlichen Stand für unnötig. Sein Irrtum lag in seinem Prophetentum, das ihm sogar zehn Jahre Haft brachte. Nach derselben hat er in aller Stille in seinem Bauernhof Bredwill bei Christiania gelebt († 1824). Außer ihm waren es die Professoren Stener Johannes Stenersen und Svend Borchmann Hersleb, welche die Rückkehr zur kirchlichen Lehre förderten. Der Pastor Wilhelm Andreas Wexel bekämpfte den Philosophen Treschow. Seit 1850 haben in Christiania Paul Karl Caspari, der auch in Deutschland wohlbekannte Exeget, Orientalist und Dogmenhistoriker (aus Dessau stammend), G. Johnson und A. C. Bang gewirkt. Caspari bekämpfte mit seinen Studien über das Taufsymbol die Ansichten von Grundtvig, dessen Gedanken auch in Norwegen weite Verbreitung fanden und auf den gemeinsamen skandinavischen Konferenzen von ihm ausgesprochen wurden. Als er radikaler wurde, verlor er sehr an Bedeutung. Caspari von großem Ansehen in Norwegen († 1891). Er hat nichts von den Ansichten eines Wellhausen wissen wollen. Seine Forschungen über das Apostolikum sind grundlegend. Seit 1858 besteht eine Zeitschrift für die ev. luth. Kirche Norwegens. Die norwegische Kirche ist enge mit dem Staate verbunden, dessen Beamte lutherischer Konfession sein müssen. Am 16. Juli 1845 erschien ein Dissentergesetz, das Religionsfreiheit einführte, aber erst in neuerer Zeit ist auch den Nichtlutheranern Zutritt zu den Staatsämtern gewährt. Der stark demokratisch gefärbte Storthing ist doch sehr vorsichtig in kirchlichen Dingen, da er die enge Verwachsenheit derselben mit dem häuslichen Bestande kennt. Man hat in schöner Ermannung das Krug- und Wirtschaftswesen beschränkt und dem Branntweinverkauf Halt geboten. In den fünfziger Jahren wurde Gustav Adolf Lammers, Pastor in Skien, der Träger einer donatistischen Bewegung205. Indem er an der speziellen Absolution im Abendmahle Anstoß nahm, gründete er die apostolische Freigemeine in Skien. Als sich baptistische Elemente in dieselbe eindrängten, kehrte er zur Staatskirche zurück. 1869 wurde das neue Gesangbuch von Landstad und 1872 das von Hauge eingeführt. Die blühende Laienpredigt blieb teils eine ganz freie, teils wurde sie durch die Bibelboten der Lutherstiftung in Christiania geordnet: man gibt einen gewissen Unterricht. Die Gesellschaft für innere Mission am Skiensfjord und die Seemannsmission sind tätig. Die Freigebigkeit ist für die Einwohnerzahl eine große. Unter den Heiden wir seit 1842 bei den Zulus und in Madagaskar Mission getrieben. Eine Missionsschule ist 1843 eröffnet worden. In Madagaskar zählt man 2000 Kommunikanten. 1878 hatte bei der lutherischen Fakultät der vortreffliche Kandidat Härem eine Studentenherberge gegründet. Für Judenmission und Pflege der männlichen Jugend eifrig tätig, wurde das Öl seiner zu hell brennenden Lampe frühe verzehrt. Nach Grundtvigs Antrieben sind sechs Fortbildungsschulen entstanden. Der Wohltäter und Vater der armen Lappen und Finnen wurde in den norwegischen Finnmarken Niels Joachim Christian Vibe Stockfleth, der von Jugend die Bestimmung zum Pastor im Norden fühlte und dann in den qualmigen Hütten und den eisigen Gefilden der Lappen ihre tiefe und poetische Sprache, ein Denkmal alter Zeit, erlernte und ihnen Bibel und Katechismus gab. Er hielt selbst unter tobenden sektiererischen Rotten aus und eroberte durch seine vier Missionsreisen von 1825-1852 ein unglückliches Land für die christliche Wahrheit. Sein Tagebuch erzählt davon († 1866). Die Schwester des Königs, Eugenie, empfand auch teilnehmend für diese Mission. Durch das Dissentergesetz mehrten sich die Methodisten zu etwa 3000 Gliedern und auffallend waren die Übertritte zur katholischen Kirche. Das norwegische Volk hat noch einen hervorragend kirchlichen Charakter und mit Anmut und Reiz berühren uns die Bilder des Sonntags, wenn seefahrend in den Fjorden oder bergaufsteigend zu den Höhen die Kirchgänger ankommen.
Aus alter Zeit ragen in die Gegenwart die so oft gezeichneten hölzernen Stavekirchen hinein,
vom Volke mit Ehrfurcht betrachtet nüchtern und zäh liebt es bei großem Freiheitssinn die altlutherische Tradition und Kirche, obwohl auch heftig vom Radikalismus angefochten, der in den widerwärtigen Angriffen des Dichters Björnson seinen stärksten Ausdruck findet. Die Radikalen wollen die ganze Kirchenverwaltung in Laienhände legen, während der kirchlich gesinnte, bäuerlich rechte Flügel der Demokratie das geistliche Kirchenregiment aufrecht erhalten will. Doch scheiterten die Versuche der Radikalen. Unter den theologischen Schriftstellern Norwegens ist Jonas Dahl in Kongsberg zu nennen, der Noveller og Studier und religionsgeschichtliche Abhandlungen geliefert hat. Schon 1816 war eine Bibel- und Traktatgesellschaft gegründet.
zu.205 Über ihn in dem Buche von Henriette Gislesen, Über das Wirken des h. Geistes auf den Lofoten-Inseln, Erinnerungen von einer Pfarrfrau, 1890.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
V. Norwegen.
Literatur: Zorn, Staat und Kirche in Norwegen, 1875. Bang, Hans Nielsen Hauge og hans Samtid. 2. Aufl. 1875.
Färden, Peter Härems, Liv. og Virksomhed, 1878. Norsk Maanedskrift, 1884 ff. Henriette Gislesen und ihre Freunde von E. W. 1890.
Im Anfange dieses Jahrhunderts entstand unter den norwegischen Bauern eine so mächtige und weltumfassende geistliche Bewegung, dass sie bald auch auf die Diener der Kirche Einfluss übte und in hohem Grade beitrug, sie von der sogenannten Erleuchtungstheologie zu positivem Christentum zurückzuführen. An der Spitze dieser Bewegung trat in dem Kirchspiel Thune schon am Ende des vorigen Jahrhunderts der gewaltige Bauernprediger Hans Nielsen Hauge auf und bekämpfte den von Dänemark eingekommenen Rationalismus sowohl mit Rede als mit Schriften. Er machte ungezählte Meilen zu Fuß und verband die Seinen in Brüderkreisen. Ein liebenswürdiger Mann mit mildem Gesicht, hellem Haar und breiter Brust, von gesetzlich vorsichtiger Weise. Er wich eigentlich nicht von dem lutherischen Lehrbegriff ab, hielt aber den geistlichen Stand für unnötig. Sein Irrtum lag in seinem Prophetentum, das ihm sogar zehn Jahre Haft brachte. Nach derselben hat er in aller Stille in seinem Bauernhof Bredwill bei Christiania gelebt († 1824). Außer ihm waren es die Professoren Stener Johannes Stenersen und Svend Borchmann Hersleb, welche die Rückkehr zur kirchlichen Lehre förderten. Der Pastor Wilhelm Andreas Wexel bekämpfte den Philosophen Treschow. Seit 1850 haben in Christiania Paul Karl Caspari, der auch in Deutschland wohlbekannte Exeget, Orientalist und Dogmenhistoriker (aus Dessau stammend), G. Johnson und A. C. Bang gewirkt. Caspari bekämpfte mit seinen Studien über das Taufsymbol die Ansichten von Grundtvig, dessen Gedanken auch in Norwegen weite Verbreitung fanden und auf den gemeinsamen skandinavischen Konferenzen von ihm ausgesprochen wurden. Als er radikaler wurde, verlor er sehr an Bedeutung. Caspari von großem Ansehen in Norwegen († 1891). Er hat nichts von den Ansichten eines Wellhausen wissen wollen. Seine Forschungen über das Apostolikum sind grundlegend. Seit 1858 besteht eine Zeitschrift für die ev. luth. Kirche Norwegens. Die norwegische Kirche ist enge mit dem Staate verbunden, dessen Beamte lutherischer Konfession sein müssen. Am 16. Juli 1845 erschien ein Dissentergesetz, das Religionsfreiheit einführte, aber erst in neuerer Zeit ist auch den Nichtlutheranern Zutritt zu den Staatsämtern gewährt. Der stark demokratisch gefärbte Storthing ist doch sehr vorsichtig in kirchlichen Dingen, da er die enge Verwachsenheit derselben mit dem häuslichen Bestande kennt. Man hat in schöner Ermannung das Krug- und Wirtschaftswesen beschränkt und dem Branntweinverkauf Halt geboten. In den fünfziger Jahren wurde Gustav Adolf Lammers, Pastor in Skien, der Träger einer donatistischen Bewegung205. Indem er an der speziellen Absolution im Abendmahle Anstoß nahm, gründete er die apostolische Freigemeine in Skien. Als sich baptistische Elemente in dieselbe eindrängten, kehrte er zur Staatskirche zurück. 1869 wurde das neue Gesangbuch von Landstad und 1872 das von Hauge eingeführt. Die blühende Laienpredigt blieb teils eine ganz freie, teils wurde sie durch die Bibelboten der Lutherstiftung in Christiania geordnet: man gibt einen gewissen Unterricht. Die Gesellschaft für innere Mission am Skiensfjord und die Seemannsmission sind tätig. Die Freigebigkeit ist für die Einwohnerzahl eine große. Unter den Heiden wir seit 1842 bei den Zulus und in Madagaskar Mission getrieben. Eine Missionsschule ist 1843 eröffnet worden. In Madagaskar zählt man 2000 Kommunikanten. 1878 hatte bei der lutherischen Fakultät der vortreffliche Kandidat Härem eine Studentenherberge gegründet. Für Judenmission und Pflege der männlichen Jugend eifrig tätig, wurde das Öl seiner zu hell brennenden Lampe frühe verzehrt. Nach Grundtvigs Antrieben sind sechs Fortbildungsschulen entstanden. Der Wohltäter und Vater der armen Lappen und Finnen wurde in den norwegischen Finnmarken Niels Joachim Christian Vibe Stockfleth, der von Jugend die Bestimmung zum Pastor im Norden fühlte und dann in den qualmigen Hütten und den eisigen Gefilden der Lappen ihre tiefe und poetische Sprache, ein Denkmal alter Zeit, erlernte und ihnen Bibel und Katechismus gab. Er hielt selbst unter tobenden sektiererischen Rotten aus und eroberte durch seine vier Missionsreisen von 1825-1852 ein unglückliches Land für die christliche Wahrheit. Sein Tagebuch erzählt davon († 1866). Die Schwester des Königs, Eugenie, empfand auch teilnehmend für diese Mission. Durch das Dissentergesetz mehrten sich die Methodisten zu etwa 3000 Gliedern und auffallend waren die Übertritte zur katholischen Kirche. Das norwegische Volk hat noch einen hervorragend kirchlichen Charakter und mit Anmut und Reiz berühren uns die Bilder des Sonntags, wenn seefahrend in den Fjorden oder bergaufsteigend zu den Höhen die Kirchgänger ankommen.
Aus alter Zeit ragen in die Gegenwart die so oft gezeichneten hölzernen Stavekirchen hinein,
vom Volke mit Ehrfurcht betrachtet nüchtern und zäh liebt es bei großem Freiheitssinn die altlutherische Tradition und Kirche, obwohl auch heftig vom Radikalismus angefochten, der in den widerwärtigen Angriffen des Dichters Björnson seinen stärksten Ausdruck findet. Die Radikalen wollen die ganze Kirchenverwaltung in Laienhände legen, während der kirchlich gesinnte, bäuerlich rechte Flügel der Demokratie das geistliche Kirchenregiment aufrecht erhalten will. Doch scheiterten die Versuche der Radikalen. Unter den theologischen Schriftstellern Norwegens ist Jonas Dahl in Kongsberg zu nennen, der Noveller og Studier und religionsgeschichtliche Abhandlungen geliefert hat. Schon 1816 war eine Bibel- und Traktatgesellschaft gegründet.
zu.205 Über ihn in dem Buche von Henriette Gislesen, Über das Wirken des h. Geistes auf den Lofoten-Inseln, Erinnerungen von einer Pfarrfrau, 1890.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31
A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"
Zweiter Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
VI. Russland. Teil.1
Literatur: Busch, Materialien zur Geschichte und Statistik des Kirchen und Schulwesens der ev. luth. Gemeinen in Russland, 1862; derselbe, Ergänzungen, 1867; derselbe, Beiträge für das Kirchen- und Schulwesen im Königreich Polen, 1867; derselbe, Beiträge für Finnland, 1874; Dalton, Geschichte der ref. Kirche in Russland, 1865; derselbe, Evangelische Strömungen in der russischen K. d. Gegenwart; Zeitfr. des christl. Volkslebens, 1881; Nöltingk in der Real-Encyclopädie v. Herzog; derselbe, Bericht über die Wirksamkeit der Unterstützungskasse, 1884; Wurstemberger, die Gewissensfreiheit in den Ostseeprovinzen Russlands, 1872; Seeberg, Aus alten Zeiten. Lebensbilder aus Kurland, 1855; Die periodischen Blätter, Mittheilungen und Nachrichten, St. Petersburger Sonntagsblatt, Riga’sches Kirchenblatt usw. Berichte der Diakonie der deutsch-ref. Gemeine in St. Petersburg. Mackenzie Wallace M. A. Russland, 1879; Harless, Geschichtsbilder aus der luth. Kirche Livlands, 1869; Bock, Livländische Beiträge, 1869; Paulsen, Esthlands Kirchen und Prediger seit 1848, 1886. Verfassungsgesch. der ev. luth. K. in Russland von Dalton, 1887. Von demselben Urkundenbuch der ev. ref. Kirche in Russland, 1889. Von ihm auch Die evangelische Kirche in Russland. Drei Vorträge, 1890. Neubert, Im Banne Moskaus, 1890. Die luth. Kirche im Kampfe mit Panslavismus und „Orthodoxie“ von Friedrich Waldorff, 1892, Ztfr. d. christl. Volksleb., Bd. XVI, Heft 6. Kirchengesch. aus dem Süden, Basel, 1892.
1. Die kirchliche Entwicklung.
Von einer erkennbaren und bedeutenden geistigen Entwicklung in dem ausgedehnten Gebiete der ev. Kirche Russlands kann nur in Bezug auf die ev. lutherische Kirche der Ostseeprovinzen, diesen treuesten, blühendsten, steuerkräftigsten und ordnungsliebendsten Teilen des unglücklichen Landes, geredet werden. Der Nystädter Friede (1721) bestimmte, dass die lutherische Kirche in den früheren schwedischen Provinzen Liv-, Est- und Ingermanland die herrschende sein solle; doch wurde schon1794 die für nach Sibirien verschickte Lutherische eingeführte Maßregel, dass die Ehen zwischen Lutheranern und orthodox russischen Christen Trauung und Kinder der letztgenannten Konfession zufallen müssten, auf das ganze Reich ausgedehnt. Das Schulwesen kam nach dem Zusammenbruch der schwedischen Herrschaft so herunter, dass in manchen Kirchsprengeln nur 5 pCt. der Bauern lesen konnten. Die Universität von Dorpat war eingegangen; viele Ausländer, die sich die Volkssprachen nur unvollkommen aneigneten und oft dem Volke ihr Leben lang fremd blieben, kamen ins Predigtamt. Unter diesen Umständen war es eine Wohltat, dass die Brüdergemeine von 1729 an, erst in Livland, dann in Estland sich auszubreiten anfing. Durch stets erweiterte Freiheiten (1764 und 1817) gelangte sie sogar zu 250 Sozietäten mit 50 000 Mitgliedern. Der mannigfach gedrückte Bauer fand hier Teilnahme, Trost, Anregung, leider aber auch Nahrung für geistliche Selbstüberhebung, Heuchelei und nationalen Antagonismus. Der aufkommende Rationalismus ließ die von pietistisch angeregten Predigern und Adligen ins Land gerufene Brüdergemeine als unschuldigen Volksglauben fortbestehen, nachdem er sich vergeblich gemüht hatte, sein eigenes Licht unter das Volk zu bringen. Ein Konflikt mit der Brüdergemeine trat erst ein, als eine Erneuerung des christlichen Lebens unter der Geistlichkeit sich vollzog. Diese ging von der theologischen Fakultät zu Dorpat aus. Alexander I. hatte dort durch die Stiftungsurkunde von 1802 die Universität neu eingerichtet in einem palastartigen Gebäude. Es war Ernst Wilhelm Christian Sartorius aus Darmstadt, früher Professor in Marburg, der von 1824-35 in Dorpat wirkte und die Liebe zum väterlichen Bekenntnis erneuerte. Er hat uns in seinen „Meditationen“ seinen inneren Gang geschildert. Schon am dreihundertjährigen Jubelfest der Augustana sprach er das Wort seines Lebens aus: Augustana semper augusta. Seine Schriften über die Person Christi und über die heilige Liebe fanden weite Verbreitung. Mit dem Jahre 1842 begann Philippi seine Lehrtätigkeit in Dorpat, welche nicht bloß auf seine Zuhörer, sondern auf die gesamte lutherische Geistlichkeit einen durchgreifenden Einfluss ausübte und zur Erstarkung des kirchlichen Bewusstseins führte. – Nächst ihm wirkten segensreich Keil als Exeget, Harnack als Liturg und Kurtz als Kirchenhistoriker. Ihre hervorragendsten Schüler wurden Engelhardt als Kirchenhistoriker († 1881) und Öttingen als Dogmatiker und Moralstatistiker. Die „Inbegriffe des Christentums für den gesunden Menschenverstand“ verschwanden. Luthers Katechismus trat in sein Recht. Ein Gesangbuch im Tone von Teller wurde durch ein neues von Dr. Ulmann beseitigt; ein Rigasches, ein Revalsches Gesangbuch erschienen. Die innere und äußere Mission wurden in Angriff genommen. Die Deutschen waren nicht nur die Herren, sondern auch die Lehrer des estnischen und lettischen Volkes. Ein hochherziger, gastfreier und freigebiger Adel ging mit edlem Beispiel voran. Eifrig besuchte man die Kirchen; die Sangeslust freute sich der geistlichen Lieder. 206 Bei dieser Regsamkeit der erwachenden Konfessionalität fühlte man viel Hinderliches in dem Treiben der Brüdergemeine. Diese hatte das Los zu einem sakramentlich-liturgischen-mystischen Gnadenakt gestempelt, bei welchem der Herr als Oberältester persönlich gegenwärtig die bloß getauften Lutheraner von den in den Gnadenbund Eingelosten feierlich absonderte. Diese und andere Einrichtungen wirkten in der lutherischen Kirche verwirrend. Harnack hat darüber ein Buch geschrieben (1860). Die Brüdergemeine stellte mehrfache Missbräuche ab, die lutherische Geistlichkeit aber bot alles auf, um durch die Schule und durch die kirchlich organisierte Seelenpflege die Arbeit der fremden Gehilfen zu ersetzen, was bei den großen Kirchspielen oft sehr schwierig ist. Die Entwicklung der luth. Kirche schien eine glückliche zu werden, getragen von dem Feinsinn dortiger deutscher Bildung. Der Bauernstand schritt nach Aufhebung der Leibeigenschaft (1817) vom Erbpachtverhältnis fast ausnahmslos zum Erbbesitz fort. Banken von der „Ritterschaft“ gegründet halfen dazu. Von letzterer d. h. von dem Großgrundbesitz wurde unter kräftiger Mitwirkung der Prediger das Volksschulwesen geschaffen,207 das durch vier Seminare, durch Lehrerkonferenzen usw. gefördert wird. Bis vor 25 Jahren wurde auch die lettische und estnische Volksliteratur fast einzig durch die Prediger gepflegt, wie sie denn ihnen überhaupt ihre Entstehung verdankt. In diesem Frieden brach der erste Versuch einer Konversion zur orthodox russischen Kirche ein. Er wurde von 1846-47 in Livland unter Anwendung der verschiedensten Lock- und Schreckmittel, durch Versprechung von „Seelenland“ usw. gemacht. Der ursprüngliche Herrnhuter, der Esthe Ballohd, spielte dabei eine traurige Rolle. Von den 40-50 000 rein äußerlich meist nur durch den Empfang eines Salbungskreuzes an der Stirn Konvertierten kehrten unter Alexander II. ganze Scharen zum luth. Bekenntnis zurück. Von den Krimmalstrafen, die sie für Abfall von der russischen Kirche hätten treffen müssen, wurde wegen der Menge der Schuldigen abgesehen. Alexander II. hob auch in der Not der Gewissen des elend betrogenen Landvolkes, in dem Jammer einer verächtlichen Popenwirtschaft, in einer grenzenlosen sittlichen Verwilderung durch die heldenmütige persönliche Vorstellung der Pastoren Holst und Walter 208 1865, durch geheimen Kabinetsbefehl für die Ostseeprovinzen, den Zwang auf, bei Ehen mit Gliedern der russischen Kirche die Kinder in dem letztgenannten Bekenntnis zu erziehen. Ein Gefühl der Befreiung ging durch das Land. 1872 sagte Alexander zu dem französischen Zweige der fürbittenden Allianz: Je reconnais avec vous que ce mouvement n’était pas sincère. Auch Gortschakoff erkannte die große Ungerechtigkeit an.
Mit dem Regierungsantritt Alexander III. kam unter dem Einfluss des Oberprokureurs der heiligen Synode Pobedonoszew und der Herausgeber der Moskauer Zeitung Katkow der Panslavismus zur Herrschaft. Schon Graf Ignatiew, „der Vater der Lüge“, begann den Kampf gegen den baltischen Landesstaat; ihm folgte der Justizminister Manassein, der den Rassenhass gegen das deutsche Element in ein System brachte. In Estland und Kurland hielt die griechische Geistlichkeit ihren Einzug und begann die Propaganda. Der alte offizielle Betrug wurde aufs neue gespielt: man setzte Prämien aus für den Abfall vom Luthertum. In Estland wurden 1883 2263 Personen gewonnen, in Kurland waren es 1886 1120. 1884 erhielten die weltlichen Gerichte das Recht der Verfolgung der luth. Pastoren, wegen widergesetzlicher Amtshandlungen an „Orthodoxen„ vollzogen. Die Konsistorien sind aber die alleinigen Richter der Prediger. Proteste waren vergeblich: der Senat in Petersburg bestätigte das Verfahren und erklärte jeden Übertritt von der griechischen Kirche zu einer andern Religionsgemeinschaft als unmöglich und jede Bemühung, einen solchen Übertritt zu unterstützen, auch bei passivem Verhalten der lutherischen Prediger, als Verführung, (Ukas vom 23. Februar 1887). 1885 im Juli wurde das „Reversal“ bei Mischehen wieder eingeführt: das war ein Blitzstrahl. Gortschakoff hatte einst die internationale Bedeutung der Mischehen anerkannt. Die Bemühungen der Ritterschaften, der Konsistorien waren erfolglos. Der Zar verbat sich in Zukunft solche Gesuche. Ein neues Baugesetz, ein neues Enteignungsgesetz zu Gunsten der Orthodoxen traten in Kraft. Ein lutherisches Bethaus in Illuck in Estland wurde gewaltsam in ein orthodoxes verwandelt. Bald standen 60 livländische Prediger vor Gericht, ihre Zahl stieg von Jahr zu Jahr. Frivole Anschuldigungen wurden in Szene gesetzt. Man fälschte die Protokolle und machte nach Belieben Zeugenaussagen. Pastor Brandt zu Patzmar wurde seines Amtes entsetzt und in die Stadt Smolensk verwiesen, weil er „Rekonvertiten“ zu einer Petition an den Zar ermutigt hatte. Brandt empfing 7½ Kopeken täglich für seinen Lebensunterhalt. Später bekam er eine Stelle im Innern Russlands. Der Lehrer Abel zu Patzmar wird ohne allen Grund zu schwerer Haft verurteilt, nachher wieder freigegeben. Die russische Verwaltung verlor alle Scham. 1886 wurde das Tragen von Kränzen bei Leichenbegängnissen verboten, weil es die Orthodoxen verletze. Da kam es dann zu wahren Brutalitäten. General Sinowjew, Gouverneur von Livland, erließ 1886 die Verfügung, dass jede in die „Metrikbücher“ der griechischen Kirche eingetragene Person als zu diesem Religionsbekenntnis zu betrachten sei. Rekonvertiten sollten zur griechischen Kirche zurückkehren und ihre Ehen nachträglich durch den Priester einsegnen lassen, obwohl das Gesetz keine Bestimmung enthält, welche den Übertritt zu einem anderen Religionsbekenntnis für ungültig erklärt. Der Sprachenukas von 1885 verwirrte die Gerichtsverhandlungen. 1887 kam das Verbot, die Protokolle der lutherischen Predigersynoden durch Druck zu veröffentlichen; man beschäftige sich mehr mit politischen als religiösen Fragen: eine rohe Verdächtigung. Jetzt hielt es auch der Oberprokureur der h. Synode für angewiesen, den „offiziellen Betrug“ in den 40er Jahren vielmehr zu einem sehnsüchtigen Drang nach der griechischen Kirche umzustempeln. Dabei beschuldigte er in seiner geschützten Lage die Prediger der Felonie. Er war durch ein Gesuch der Evangelischen Allianz und durch eine Bittschrift von Schweizer Theologen zu einer öffentlichen Äußerung veranlasst worden, die hohle Redensarten enthielt. „Nirgends in Europa herrsche eine so ausgedehnte Freiheit für Andersgläubige als in Russland.“ Im Juli 1888 erschien von Dalton, der sein Amt in Petersburg aufgegeben hatte, ein „offenes Sendschreiben ein den Oberprokureur“. Ein edler Dienst des Reformierten für die Lutheraner. Die materielle Schädigung der lutherischen Kirche ging in der Weise vor sich, dass die Predigersteuern allein den lutherischen Gemeindegliedern auferlegt wurden, obwohl sie eine an Grund und Boden haftende Reallast waren; dass eine jährliche Summe als Ersatz für Abgaben entzogen wurde; dass in den Abgabebudgets der Stadtvertretungen Posten gestrichen wurden und dass Klagen dagegen im Senat ohne Entscheidung liegen blieben. Im Mai 1888 wurden alle Streitigkeiten in den Kirchenregulativen vor das Forum der livländischen Gouvernementsregierung gewiesen und die Rechte der Justiz beseitigt. Die
lutherische Parochialschule in Fehteln in Livland wurde gewaltsam in eine „ministerielle Musterschule“ verwandelt. Die Umformung des evangelischen Volksschulwesens in russisch-griechischem Geiste trat in Sicht. Der Kurator des Dorpater Lehrbezirks Kapustin nahm die Sache in die Hand. Er bewirkte ein Gesetz des Zaren (1885), welches die Unterstellung der Landvolksschulen unter das Ministerium der Volksaufklärung anordnete. Die Schulkonferenzen untersagte man, der Schulzwang ward aufgehoben, zwei Schulen gewaltsam zu Ministerschulen geweiht. 1887 erfolgte die Begründung von sechs Volksschulinspektoraten und einer Volksschuldirektorensstelle. „Temporäre Ergänzungsmaßregeln“ zeigten die offene Absicht, die Volksschule von der lutherischen Landeskirche abzulösen. Die russische Sprache wurde Unterrichtssprache in sämtlichen Lehrfächern, ausgenommen in Religion und im Kirchengesang. Bei dieser Russifizierung sollten doch die Ritterschaften den Unterhalt der Volksschulen bestreiten; sie sollten den Schein zu dem Umsturz bieten. Da haben diese den schweren Schritt getan und sich von jeder Teilnahme an dem Volksschulwesen zurückgezogen. In brutaler Art vollzog sich die fortschreitende Vernichtung des Unterrichtes im lutherischen Bekenntnisse. Der Schulbesuch sinkt von Jahr zu Jahr. Überall sieht sich der Prediger selbst in Katechisationen gehindert. Die Verfolgungen der Prediger dauern immer fort. Ohne Urteil wird Pastor Christoph in Estland nach Astrachan verbannt. Pastor Eisenschmidt in Dorpat litt Gewalttaten der Polizei; sein Prozess schwebt jetzt in letzter Instanz. Pastor Harff und Pastor Pohrt wurden auf zwei Jahre ins Gouvernement Smolensk verbannt, auf bloße Kabinettsjustiz hin. Dann nahm man ihnen jedes Recht, in den Ostseeprovinzen wieder kirchliche Stellen zu bekleiden. Der zum Generalsuperintendant erwählte Kählbrandt erhält nicht die kaiserliche Bestätigung. Ein Reichsratsgutachten von 1889 ordnete in Sachen der orthodoxen Kirche ein Rechtsverfahren an, an dem nur Angehörige der griechischen Kirche teilnehmen sollten. Die Prediger stehen vor diesem Gericht als Verführer. Bis Herbst 1891 geschahen 19 Verurteilungen. Im März 1890 geschah die Aufhebung der Stadtkonsistorien von Riga und Reval, sowie des Öselschen Provinzialkonsistoriums. Der h. Synod verfügte nun auch die Notwendigkeit eines Zeugnisses des Unterrichtes in griechischem Glauben für alle Abgangszeugnisse. Bald wird man das böse Wort wieder aussprechen können: Es gibt nichts mehr zu verwüsten. In der letzten Zeit haben sich in der peinlichsten Weise die Exekutionen gegen die Prediger gemehrt. Dorpat wird immer mehr russifiziert. Die estländische Domschule hat russische Diplomatie gewonnen. Auch in den deutschen von Elend erschöpften Kolonien beginnt die Russifizierung. Ebenso vollzieht sich ein Einfall in das luth. Finnland. Obgleich die Lage der lutherischen Kirche aussichtslos erscheint, so verlieren dennoch die Pastoren, die Bürgerschaft und der Adel nicht die Freudigkeit, sondern setzen ihre Hoffnung allein auf Gott, der ihren Vätern schon oftmals so wunderbar durchgeholfen hat. In Folge der Trübsal wächst auch in den Gemeinen die Liebe zur Kirche. Als 1892 die grauenvolle Hungersnot über den russischen Koloss zog, war dieselbe nur ein Abbild von dem geistigen Elend und der sittlichen Fäulnis des Landes, das sich selbst zerstört.209
zu.206 Eine lebendige Schilderung bei Dalton im 2. Vortrage
zu.207 Vergl. darüber die Notizen bei Dalton. Sendschreiben S. 20.
zu.208 Von ihm Landtagspredigten und ein Lebenslauf. 1892.
zu.209 Die Bedrückung der Deutschen und die Entrechtung der prot. K. in den Ostseeprovinzen, 1886. Die lettische nationale Bewegung und die kurländische Geistlichkeit, 1886. Russisch-baltische Blätter, 1886-1888. In Gewissensnot, 1889. Deutsch-protest. Kämpfe, 1888. Lööralt, Baltenhetze, 1890. Staatsraison und Recht, 1891. Die letzte Schilderung der Verfolgungen in Luthardts Kirch.-Ztg. Nr. 11, 1893.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
VI. Russland. Teil.1
Literatur: Busch, Materialien zur Geschichte und Statistik des Kirchen und Schulwesens der ev. luth. Gemeinen in Russland, 1862; derselbe, Ergänzungen, 1867; derselbe, Beiträge für das Kirchen- und Schulwesen im Königreich Polen, 1867; derselbe, Beiträge für Finnland, 1874; Dalton, Geschichte der ref. Kirche in Russland, 1865; derselbe, Evangelische Strömungen in der russischen K. d. Gegenwart; Zeitfr. des christl. Volkslebens, 1881; Nöltingk in der Real-Encyclopädie v. Herzog; derselbe, Bericht über die Wirksamkeit der Unterstützungskasse, 1884; Wurstemberger, die Gewissensfreiheit in den Ostseeprovinzen Russlands, 1872; Seeberg, Aus alten Zeiten. Lebensbilder aus Kurland, 1855; Die periodischen Blätter, Mittheilungen und Nachrichten, St. Petersburger Sonntagsblatt, Riga’sches Kirchenblatt usw. Berichte der Diakonie der deutsch-ref. Gemeine in St. Petersburg. Mackenzie Wallace M. A. Russland, 1879; Harless, Geschichtsbilder aus der luth. Kirche Livlands, 1869; Bock, Livländische Beiträge, 1869; Paulsen, Esthlands Kirchen und Prediger seit 1848, 1886. Verfassungsgesch. der ev. luth. K. in Russland von Dalton, 1887. Von demselben Urkundenbuch der ev. ref. Kirche in Russland, 1889. Von ihm auch Die evangelische Kirche in Russland. Drei Vorträge, 1890. Neubert, Im Banne Moskaus, 1890. Die luth. Kirche im Kampfe mit Panslavismus und „Orthodoxie“ von Friedrich Waldorff, 1892, Ztfr. d. christl. Volksleb., Bd. XVI, Heft 6. Kirchengesch. aus dem Süden, Basel, 1892.
1. Die kirchliche Entwicklung.
Von einer erkennbaren und bedeutenden geistigen Entwicklung in dem ausgedehnten Gebiete der ev. Kirche Russlands kann nur in Bezug auf die ev. lutherische Kirche der Ostseeprovinzen, diesen treuesten, blühendsten, steuerkräftigsten und ordnungsliebendsten Teilen des unglücklichen Landes, geredet werden. Der Nystädter Friede (1721) bestimmte, dass die lutherische Kirche in den früheren schwedischen Provinzen Liv-, Est- und Ingermanland die herrschende sein solle; doch wurde schon1794 die für nach Sibirien verschickte Lutherische eingeführte Maßregel, dass die Ehen zwischen Lutheranern und orthodox russischen Christen Trauung und Kinder der letztgenannten Konfession zufallen müssten, auf das ganze Reich ausgedehnt. Das Schulwesen kam nach dem Zusammenbruch der schwedischen Herrschaft so herunter, dass in manchen Kirchsprengeln nur 5 pCt. der Bauern lesen konnten. Die Universität von Dorpat war eingegangen; viele Ausländer, die sich die Volkssprachen nur unvollkommen aneigneten und oft dem Volke ihr Leben lang fremd blieben, kamen ins Predigtamt. Unter diesen Umständen war es eine Wohltat, dass die Brüdergemeine von 1729 an, erst in Livland, dann in Estland sich auszubreiten anfing. Durch stets erweiterte Freiheiten (1764 und 1817) gelangte sie sogar zu 250 Sozietäten mit 50 000 Mitgliedern. Der mannigfach gedrückte Bauer fand hier Teilnahme, Trost, Anregung, leider aber auch Nahrung für geistliche Selbstüberhebung, Heuchelei und nationalen Antagonismus. Der aufkommende Rationalismus ließ die von pietistisch angeregten Predigern und Adligen ins Land gerufene Brüdergemeine als unschuldigen Volksglauben fortbestehen, nachdem er sich vergeblich gemüht hatte, sein eigenes Licht unter das Volk zu bringen. Ein Konflikt mit der Brüdergemeine trat erst ein, als eine Erneuerung des christlichen Lebens unter der Geistlichkeit sich vollzog. Diese ging von der theologischen Fakultät zu Dorpat aus. Alexander I. hatte dort durch die Stiftungsurkunde von 1802 die Universität neu eingerichtet in einem palastartigen Gebäude. Es war Ernst Wilhelm Christian Sartorius aus Darmstadt, früher Professor in Marburg, der von 1824-35 in Dorpat wirkte und die Liebe zum väterlichen Bekenntnis erneuerte. Er hat uns in seinen „Meditationen“ seinen inneren Gang geschildert. Schon am dreihundertjährigen Jubelfest der Augustana sprach er das Wort seines Lebens aus: Augustana semper augusta. Seine Schriften über die Person Christi und über die heilige Liebe fanden weite Verbreitung. Mit dem Jahre 1842 begann Philippi seine Lehrtätigkeit in Dorpat, welche nicht bloß auf seine Zuhörer, sondern auf die gesamte lutherische Geistlichkeit einen durchgreifenden Einfluss ausübte und zur Erstarkung des kirchlichen Bewusstseins führte. – Nächst ihm wirkten segensreich Keil als Exeget, Harnack als Liturg und Kurtz als Kirchenhistoriker. Ihre hervorragendsten Schüler wurden Engelhardt als Kirchenhistoriker († 1881) und Öttingen als Dogmatiker und Moralstatistiker. Die „Inbegriffe des Christentums für den gesunden Menschenverstand“ verschwanden. Luthers Katechismus trat in sein Recht. Ein Gesangbuch im Tone von Teller wurde durch ein neues von Dr. Ulmann beseitigt; ein Rigasches, ein Revalsches Gesangbuch erschienen. Die innere und äußere Mission wurden in Angriff genommen. Die Deutschen waren nicht nur die Herren, sondern auch die Lehrer des estnischen und lettischen Volkes. Ein hochherziger, gastfreier und freigebiger Adel ging mit edlem Beispiel voran. Eifrig besuchte man die Kirchen; die Sangeslust freute sich der geistlichen Lieder. 206 Bei dieser Regsamkeit der erwachenden Konfessionalität fühlte man viel Hinderliches in dem Treiben der Brüdergemeine. Diese hatte das Los zu einem sakramentlich-liturgischen-mystischen Gnadenakt gestempelt, bei welchem der Herr als Oberältester persönlich gegenwärtig die bloß getauften Lutheraner von den in den Gnadenbund Eingelosten feierlich absonderte. Diese und andere Einrichtungen wirkten in der lutherischen Kirche verwirrend. Harnack hat darüber ein Buch geschrieben (1860). Die Brüdergemeine stellte mehrfache Missbräuche ab, die lutherische Geistlichkeit aber bot alles auf, um durch die Schule und durch die kirchlich organisierte Seelenpflege die Arbeit der fremden Gehilfen zu ersetzen, was bei den großen Kirchspielen oft sehr schwierig ist. Die Entwicklung der luth. Kirche schien eine glückliche zu werden, getragen von dem Feinsinn dortiger deutscher Bildung. Der Bauernstand schritt nach Aufhebung der Leibeigenschaft (1817) vom Erbpachtverhältnis fast ausnahmslos zum Erbbesitz fort. Banken von der „Ritterschaft“ gegründet halfen dazu. Von letzterer d. h. von dem Großgrundbesitz wurde unter kräftiger Mitwirkung der Prediger das Volksschulwesen geschaffen,207 das durch vier Seminare, durch Lehrerkonferenzen usw. gefördert wird. Bis vor 25 Jahren wurde auch die lettische und estnische Volksliteratur fast einzig durch die Prediger gepflegt, wie sie denn ihnen überhaupt ihre Entstehung verdankt. In diesem Frieden brach der erste Versuch einer Konversion zur orthodox russischen Kirche ein. Er wurde von 1846-47 in Livland unter Anwendung der verschiedensten Lock- und Schreckmittel, durch Versprechung von „Seelenland“ usw. gemacht. Der ursprüngliche Herrnhuter, der Esthe Ballohd, spielte dabei eine traurige Rolle. Von den 40-50 000 rein äußerlich meist nur durch den Empfang eines Salbungskreuzes an der Stirn Konvertierten kehrten unter Alexander II. ganze Scharen zum luth. Bekenntnis zurück. Von den Krimmalstrafen, die sie für Abfall von der russischen Kirche hätten treffen müssen, wurde wegen der Menge der Schuldigen abgesehen. Alexander II. hob auch in der Not der Gewissen des elend betrogenen Landvolkes, in dem Jammer einer verächtlichen Popenwirtschaft, in einer grenzenlosen sittlichen Verwilderung durch die heldenmütige persönliche Vorstellung der Pastoren Holst und Walter 208 1865, durch geheimen Kabinetsbefehl für die Ostseeprovinzen, den Zwang auf, bei Ehen mit Gliedern der russischen Kirche die Kinder in dem letztgenannten Bekenntnis zu erziehen. Ein Gefühl der Befreiung ging durch das Land. 1872 sagte Alexander zu dem französischen Zweige der fürbittenden Allianz: Je reconnais avec vous que ce mouvement n’était pas sincère. Auch Gortschakoff erkannte die große Ungerechtigkeit an.
Mit dem Regierungsantritt Alexander III. kam unter dem Einfluss des Oberprokureurs der heiligen Synode Pobedonoszew und der Herausgeber der Moskauer Zeitung Katkow der Panslavismus zur Herrschaft. Schon Graf Ignatiew, „der Vater der Lüge“, begann den Kampf gegen den baltischen Landesstaat; ihm folgte der Justizminister Manassein, der den Rassenhass gegen das deutsche Element in ein System brachte. In Estland und Kurland hielt die griechische Geistlichkeit ihren Einzug und begann die Propaganda. Der alte offizielle Betrug wurde aufs neue gespielt: man setzte Prämien aus für den Abfall vom Luthertum. In Estland wurden 1883 2263 Personen gewonnen, in Kurland waren es 1886 1120. 1884 erhielten die weltlichen Gerichte das Recht der Verfolgung der luth. Pastoren, wegen widergesetzlicher Amtshandlungen an „Orthodoxen„ vollzogen. Die Konsistorien sind aber die alleinigen Richter der Prediger. Proteste waren vergeblich: der Senat in Petersburg bestätigte das Verfahren und erklärte jeden Übertritt von der griechischen Kirche zu einer andern Religionsgemeinschaft als unmöglich und jede Bemühung, einen solchen Übertritt zu unterstützen, auch bei passivem Verhalten der lutherischen Prediger, als Verführung, (Ukas vom 23. Februar 1887). 1885 im Juli wurde das „Reversal“ bei Mischehen wieder eingeführt: das war ein Blitzstrahl. Gortschakoff hatte einst die internationale Bedeutung der Mischehen anerkannt. Die Bemühungen der Ritterschaften, der Konsistorien waren erfolglos. Der Zar verbat sich in Zukunft solche Gesuche. Ein neues Baugesetz, ein neues Enteignungsgesetz zu Gunsten der Orthodoxen traten in Kraft. Ein lutherisches Bethaus in Illuck in Estland wurde gewaltsam in ein orthodoxes verwandelt. Bald standen 60 livländische Prediger vor Gericht, ihre Zahl stieg von Jahr zu Jahr. Frivole Anschuldigungen wurden in Szene gesetzt. Man fälschte die Protokolle und machte nach Belieben Zeugenaussagen. Pastor Brandt zu Patzmar wurde seines Amtes entsetzt und in die Stadt Smolensk verwiesen, weil er „Rekonvertiten“ zu einer Petition an den Zar ermutigt hatte. Brandt empfing 7½ Kopeken täglich für seinen Lebensunterhalt. Später bekam er eine Stelle im Innern Russlands. Der Lehrer Abel zu Patzmar wird ohne allen Grund zu schwerer Haft verurteilt, nachher wieder freigegeben. Die russische Verwaltung verlor alle Scham. 1886 wurde das Tragen von Kränzen bei Leichenbegängnissen verboten, weil es die Orthodoxen verletze. Da kam es dann zu wahren Brutalitäten. General Sinowjew, Gouverneur von Livland, erließ 1886 die Verfügung, dass jede in die „Metrikbücher“ der griechischen Kirche eingetragene Person als zu diesem Religionsbekenntnis zu betrachten sei. Rekonvertiten sollten zur griechischen Kirche zurückkehren und ihre Ehen nachträglich durch den Priester einsegnen lassen, obwohl das Gesetz keine Bestimmung enthält, welche den Übertritt zu einem anderen Religionsbekenntnis für ungültig erklärt. Der Sprachenukas von 1885 verwirrte die Gerichtsverhandlungen. 1887 kam das Verbot, die Protokolle der lutherischen Predigersynoden durch Druck zu veröffentlichen; man beschäftige sich mehr mit politischen als religiösen Fragen: eine rohe Verdächtigung. Jetzt hielt es auch der Oberprokureur der h. Synode für angewiesen, den „offiziellen Betrug“ in den 40er Jahren vielmehr zu einem sehnsüchtigen Drang nach der griechischen Kirche umzustempeln. Dabei beschuldigte er in seiner geschützten Lage die Prediger der Felonie. Er war durch ein Gesuch der Evangelischen Allianz und durch eine Bittschrift von Schweizer Theologen zu einer öffentlichen Äußerung veranlasst worden, die hohle Redensarten enthielt. „Nirgends in Europa herrsche eine so ausgedehnte Freiheit für Andersgläubige als in Russland.“ Im Juli 1888 erschien von Dalton, der sein Amt in Petersburg aufgegeben hatte, ein „offenes Sendschreiben ein den Oberprokureur“. Ein edler Dienst des Reformierten für die Lutheraner. Die materielle Schädigung der lutherischen Kirche ging in der Weise vor sich, dass die Predigersteuern allein den lutherischen Gemeindegliedern auferlegt wurden, obwohl sie eine an Grund und Boden haftende Reallast waren; dass eine jährliche Summe als Ersatz für Abgaben entzogen wurde; dass in den Abgabebudgets der Stadtvertretungen Posten gestrichen wurden und dass Klagen dagegen im Senat ohne Entscheidung liegen blieben. Im Mai 1888 wurden alle Streitigkeiten in den Kirchenregulativen vor das Forum der livländischen Gouvernementsregierung gewiesen und die Rechte der Justiz beseitigt. Die
lutherische Parochialschule in Fehteln in Livland wurde gewaltsam in eine „ministerielle Musterschule“ verwandelt. Die Umformung des evangelischen Volksschulwesens in russisch-griechischem Geiste trat in Sicht. Der Kurator des Dorpater Lehrbezirks Kapustin nahm die Sache in die Hand. Er bewirkte ein Gesetz des Zaren (1885), welches die Unterstellung der Landvolksschulen unter das Ministerium der Volksaufklärung anordnete. Die Schulkonferenzen untersagte man, der Schulzwang ward aufgehoben, zwei Schulen gewaltsam zu Ministerschulen geweiht. 1887 erfolgte die Begründung von sechs Volksschulinspektoraten und einer Volksschuldirektorensstelle. „Temporäre Ergänzungsmaßregeln“ zeigten die offene Absicht, die Volksschule von der lutherischen Landeskirche abzulösen. Die russische Sprache wurde Unterrichtssprache in sämtlichen Lehrfächern, ausgenommen in Religion und im Kirchengesang. Bei dieser Russifizierung sollten doch die Ritterschaften den Unterhalt der Volksschulen bestreiten; sie sollten den Schein zu dem Umsturz bieten. Da haben diese den schweren Schritt getan und sich von jeder Teilnahme an dem Volksschulwesen zurückgezogen. In brutaler Art vollzog sich die fortschreitende Vernichtung des Unterrichtes im lutherischen Bekenntnisse. Der Schulbesuch sinkt von Jahr zu Jahr. Überall sieht sich der Prediger selbst in Katechisationen gehindert. Die Verfolgungen der Prediger dauern immer fort. Ohne Urteil wird Pastor Christoph in Estland nach Astrachan verbannt. Pastor Eisenschmidt in Dorpat litt Gewalttaten der Polizei; sein Prozess schwebt jetzt in letzter Instanz. Pastor Harff und Pastor Pohrt wurden auf zwei Jahre ins Gouvernement Smolensk verbannt, auf bloße Kabinettsjustiz hin. Dann nahm man ihnen jedes Recht, in den Ostseeprovinzen wieder kirchliche Stellen zu bekleiden. Der zum Generalsuperintendant erwählte Kählbrandt erhält nicht die kaiserliche Bestätigung. Ein Reichsratsgutachten von 1889 ordnete in Sachen der orthodoxen Kirche ein Rechtsverfahren an, an dem nur Angehörige der griechischen Kirche teilnehmen sollten. Die Prediger stehen vor diesem Gericht als Verführer. Bis Herbst 1891 geschahen 19 Verurteilungen. Im März 1890 geschah die Aufhebung der Stadtkonsistorien von Riga und Reval, sowie des Öselschen Provinzialkonsistoriums. Der h. Synod verfügte nun auch die Notwendigkeit eines Zeugnisses des Unterrichtes in griechischem Glauben für alle Abgangszeugnisse. Bald wird man das böse Wort wieder aussprechen können: Es gibt nichts mehr zu verwüsten. In der letzten Zeit haben sich in der peinlichsten Weise die Exekutionen gegen die Prediger gemehrt. Dorpat wird immer mehr russifiziert. Die estländische Domschule hat russische Diplomatie gewonnen. Auch in den deutschen von Elend erschöpften Kolonien beginnt die Russifizierung. Ebenso vollzieht sich ein Einfall in das luth. Finnland. Obgleich die Lage der lutherischen Kirche aussichtslos erscheint, so verlieren dennoch die Pastoren, die Bürgerschaft und der Adel nicht die Freudigkeit, sondern setzen ihre Hoffnung allein auf Gott, der ihren Vätern schon oftmals so wunderbar durchgeholfen hat. In Folge der Trübsal wächst auch in den Gemeinen die Liebe zur Kirche. Als 1892 die grauenvolle Hungersnot über den russischen Koloss zog, war dieselbe nur ein Abbild von dem geistigen Elend und der sittlichen Fäulnis des Landes, das sich selbst zerstört.209
zu.206 Eine lebendige Schilderung bei Dalton im 2. Vortrage
zu.207 Vergl. darüber die Notizen bei Dalton. Sendschreiben S. 20.
zu.208 Von ihm Landtagspredigten und ein Lebenslauf. 1892.
zu.209 Die Bedrückung der Deutschen und die Entrechtung der prot. K. in den Ostseeprovinzen, 1886. Die lettische nationale Bewegung und die kurländische Geistlichkeit, 1886. Russisch-baltische Blätter, 1886-1888. In Gewissensnot, 1889. Deutsch-protest. Kämpfe, 1888. Lööralt, Baltenhetze, 1890. Staatsraison und Recht, 1891. Die letzte Schilderung der Verfolgungen in Luthardts Kirch.-Ztg. Nr. 11, 1893.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31
A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"
Zweiter Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
VI. Russland. Teil.2
2. Ein Bild der gegenwärtigen Lage.
Es ist ein ungeheures Gebiet: vom Nordkap bis zum Ararat und schwarzen Meere und von den baltischen Gestaden bis zum stillen Ozean, auf dem sich die ev. Kirche Russlands ausbreitet. Man teilt sie in drei größere Körperschaften: die Kirche des Großfürstentums Finnland, die des früheren Königreichs Polen und die des gesamten übrigen Reiches. Letztere hat durch das Gesetz für die ev. lutherische Kirche in Russland vom 28. Dezember 1832 ihre rechtliche Grundlage empfangen. Das Generalkonsistorium in Petersburg ist die kirchliche Oberbehörde. Es hat 8 Konsistorien unter sich. Der geistliche Präses desselben ist der Oberhirte eines Konsistorialbezirkes. Dem Prediger stehen in den einzelnen Gemeinen Stadtkirchenräte zur Seite. In den Landgemeinen gibt es Kirchenvorsteher. Die Konkordienformel, eine an die schwedische vom Jahre 1687 sich anschließende Agende bestehen zu Recht. Der Petersburgische, Moskauische und ein Teil des Kurländischen Bezirks umfassen auch die weitausgedehnte, in kleinen Gruppen unübersehbar versprengte, pastoral unendlich mühevoll zu pflegende lutherische Diaspora. Der Petersburgische Konsistorialbezirk vom finnischen Meerbusen bis zum Schwarzen Meer zählt in der Hauptstadt selbst in 13 Kirchspielen etwa 70 000 Lutheraner mit wohlorganisierter Armenpflege und mancherlei Asylen. In Petersburg sind 90 000 Protestanten in 21 Gemeinden mit 18 Kirchen. Ev. Gottesdienst wird in 9 Sprachen gehalten. 4 Gemeindegymnasien, Volksschulen und höhere Töchterschulen. Das evangelische Feldlazarett erregte 1877 die Aufmerksamkeit. Um die Stadt zieht sich ein Kreis kleiner deutscher Gemeinen. Traurig sind die Zustände in den 19 finnischen Landgemeinen. In den nach Norden und Osten von der Hauptstadt gelegenen 6 Gouvernements zeigt die Stadt Kiew ein reges Leben. In dem Süden Russlands breitet sich eine lutherische Bevölkerung von 130 000 Seelen aus. In Odessa ist eine größere Gemeine aufgeblüht. In den Kolonien waltet ein stark schwäbisches, frommes Element mit kirchlichem Bewusstsein, von den Baptisten heimgesucht, neben methodistischen Springern und Hüpfern, mehr in Laxheit versinkend, nachdem die Kolonialobrigkeiten aufgehoben sind. Man übt hier die Armen- und Waisenpflege und hat in Sanata ein Diakonissenhaus und in Herzliebenthal ein Haus der Barmherzigkeit.
Der Moskauische Konsistorialbezirk umfasst 332 860 Eingepfarrte; nur in Moskau fester geordnete Gemeinen,210 sonst überall das schmerzliche Bild des vergeblichen Ringens der Hirten um Erhaltung der Herden. An der Berg- und Wiesenseite der Wolga wohnen fast 300 000 Lutheraner, die einst von 1840-1879 eine glänzende Zeit des Wohlstandes hatten, ihre Schulen vernachlässigten, dann von 1879-1880 Hungerjahre und nun in der Hungersnot von 1892 völlig zugrunde gegangen sind; die Kolonien sind in maßlosem Elend zur Wüste geworden.211 Sie sind von etwa 54 000 ursprünglich Reformierten, von „neuen Brüdern“, die eine Gemeine der Sündlosen darstellen wollen und von Baptisten durchsetzt. Dabei großer Mangel an Pastoren. Der Kaukasus wird von 4 Gemeinen aus pastoriert; interessant ist eine kleine luth. Gemeine Schemachu und Baku armenischen Ursprungs. In Sibirien sollen 6649 Lutheraner wohnen, namentlich in den Deportierkolonien, in 5 Kirchspiele verteilt mit den schwierigsten Verhältnissen. Oft in dem Elend der Salzsalinen, Eisenhütten, der Goldwäschereien und Bergwerke. In den fünfziger Jahren hatte ein Pastor ein Kirchspiel größer als Europa. Die sibirischen Strapazen hatten aus ihm einen Schatten gemacht. 1100 Protestanten aus fünf Völkerschaften. Im Minussinskischen Kreise 3 protestantische Kolonien. Als der Generalsuperintendent Jürgenssen Taschkent und Sibirien bereiste, konnte er zwei Wochen nur Tee als Nahrung erhalten und starb in Folge der Erschöpfung (1886). Die Probstei Wilna zum kurländischen Konsistorium gehörig umfasst 36 888 Seelen in vierfach verkümmerter Lage.
In dem Konsistorialbezirk von Kurland, Riga, Livland, Ösel, Estland und Reval ist die absolute Mehrheit der Bevölkerung lutherisch. Hier ist ein so guter Stand der Volksschulen, dass 1881 auf 110 Kinder 1 Schule kam. Neuerdings wächst der Baptismus. Eine eigentümliche geistige Bewegung zeigt sich auf den Inseln Nukoe und Worms. Eine reiche Liebestätigkeit betreiben die estnische Pfarrerversorgungskasse, die Bücherverlagskasse, der Traktatverein. die ev. Bibelgesellschaft. Bischof Dr. Ulmann rief eine Unterstützungskasse der luth. Gemeinen 1859 hervor. Sie wird von dem Zentralkomitee in St. Petersburg geleitet und hat eine jährliche Einnahme von ca. 60 000 Rubel. Es gibt christliche Leihbibliotheken, 5 deutsche Gemeindeblätter und die Theologische Monatsschrift. Die Heidenmission steht mit Leipzig in Verbindung. Das Interesse der Judenmission ruht auf den Bewegungen in Kischinew. Die Unterstützungskasse verfügte 1890 über 83 182 Rubel. 173 Gemeinden wurden unterstützt.
Die ev. lutherische Kirche des früheren Königreichs Polen umfasst etwa 327 845 Protestanten, Lutheraner und Reformierte mit vorwiegend deutschem Charakter, seltener schon litauischem und polnischem. Die gesetzliche Grundlage ist das Gesetz vom 8./20. Februar 1849. In Warschau ist ein Evangelisch-Augsburgisches Konsistorium. Unter einem Generalsuperintendenten stehen vier Superintendenten. Die Gemeinen wählen die Prediger. Kirchenkollegien stehen diesen zur Seite. Die Volksschulen sind jetzt der Aufsicht des Predigers entzogen und in Simultanschulen verwandelt. Die Unterrichtssprache ist die russische. Die Verdrängung der deutschen Sprache bewirkt eine starke Auswanderung in andere russische Provinzen. Neuerdings tritt der sonst herrschende Rationalismus etwas zurück. In Grusien zählt man 8 luth. Gemeinen, in Tiflis die wichtigste; sie sind synodal verfasst. Im Gouvernement Gerson ist die einst aus Württemberg geflüchtete Gemeine Hoffnungstal. Die evang. lutherische Kirche des Großfürstentums Finnland zählt 2 019 727 Lutheraner. Bischöfe und ein Domkapitel verwalten sie. Eine Generalsynode mit einem Laienelement hat die Legislation in Händen. Die Gemeinen wählen die Pastoren, diese die oberen kirchlichen Stufen. Die von der Kirche getrennte Schule hat doch vorwiegend geistliche Direktoren. Die Universität ist Helsingfors. In Wiborg ist ein Diakonissenhaus. Eine Bibelgesellschaft ist in Tätigkeit. Die Mission arbeitet unter den tief gesunkenen Lappen und unter den Ovambo in Afrika. Im eigenen Lande wird der Branntweinverkauf von den Gemeinden bewacht. Eine pietistische Richtung ist durch den Bauer Paarvo Ruotsalainen hervorgerufen; ihr gegenüber betont die Rechtfertigungslehre der Probst Hedberg. 1873 hat sich auch ein ev.-luth. Verein gebildet. Die reformierte Kirche Russlands hat ihren geschmackvollen Geschichtsschreiber in dem Konsistorialrat und Pastor Dr. th. Hermann Dalton,212 der uns auch mit seiner anmutigen Feder das Leben des Vaters Gossner und des Reformators Johannes a Lasco beschrieben hat, ein durch Reisen und Reisebilder in Europa bekannter Mann. Über evangelische Strömungen in Russland hat er in den christlichen Zeitfragen berichtet. Hier erfahren wir etwas von den „Stundisten“ und den Bemühungen des Lord Radstock und seines Schülers Paschkoff. Gerne folgen wir ihm, wenn er uns den Reiz der Einsamkeit auf den steppenweiten Gebieten der ref. Kolonisten schildert. Die ref. Kirche Russlands zählt 2 größere Zusammenfassungen von ref. Gemeinen: den litauischen Synodalbezirk und den Warschauer. Die übrigen 10 Gemeinen stehen unter den reformierten Sitzungen der „Konsistorien“ zu Petersburg, Moskau, Riga und Mitau, welche die Ehesachen, die Prüfung und Ordination der Kandidaten zu verwalten haben. Sehr regsam ist die deutsch-ref. Gemeine in Petersburg (1047 Kommunikanten) mit einer Schule verbunden. Ihre Jahresberichte kommen auch ins Ausland.
Sie bewahrt das Gedächtnis des Schweizers Johannes von Muralt, dessen Leben Dalton erzählt hat. Bei der litauischen reformierten Kirche begegnen wir überall den Verwüstungen der Jesuiten. Der Heidelberger Katechismus war im Lande verschwunden. Ein zertretener, mit Blut gedüngter Boden. Jetzt leitet eine Synode (Präsident gegenwärtig Graf Puttkammer) und ein Synedrium die Kirche. Die laufenden Geschäfte führt ein ref. Kollegium zu Wilna. Die Staatsschulen haben die russische Sprache. Ein Gymnasium zu Sluzk ist von der Regierung eingezogen. Es gibt 14 Gemeinden mit 11 125 Seelen, auf denen Armut und Niedergang liegt. Am 3. Dezember 1879 starb der Generalsuperintendent Stefan von Lipinski: ein zurückgebliebener erratischer Block, der an die entschwundene polnische Glanzzeit mahnte. Ein strenger Calvinist und Gegner aller freieren Richtungen; eine ehrwürdige alte Gestalt mit schwarzseidenem Gewand. Ein echter polnischer Nationalheld, der mit Schmerz den Abfall des ref. Adels sah. In Polen ist die Verfassung eine konsistorial-synodale. Ihr Recht beruht auf dem Gesetze von 1849. In den 9 Pfarrgemeinen wird in 4 Sprachen gelehrt und gepredigt. Im Allgemeinen schätzt man die Reformierten mit den 40 000 an der Wolga auf 71 159. Methodisten gibt es 34 217 213 Im Jahre 1888 traten 1600 Lutheraner und 41 Reformierte zur orthodoxen Kirche über.
zu.210 A. W. Feihner, Chronik der ev. Gemeinden in Moskau, 1876.
zu.211 Vergl. Allg. Luth. Kirchenztg. Nr. 1 und 2, 1892.
zu.213 Quarterly Register of th. All. of ref. churches No. 7, July 1887.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
VI. Russland. Teil.2
2. Ein Bild der gegenwärtigen Lage.
Es ist ein ungeheures Gebiet: vom Nordkap bis zum Ararat und schwarzen Meere und von den baltischen Gestaden bis zum stillen Ozean, auf dem sich die ev. Kirche Russlands ausbreitet. Man teilt sie in drei größere Körperschaften: die Kirche des Großfürstentums Finnland, die des früheren Königreichs Polen und die des gesamten übrigen Reiches. Letztere hat durch das Gesetz für die ev. lutherische Kirche in Russland vom 28. Dezember 1832 ihre rechtliche Grundlage empfangen. Das Generalkonsistorium in Petersburg ist die kirchliche Oberbehörde. Es hat 8 Konsistorien unter sich. Der geistliche Präses desselben ist der Oberhirte eines Konsistorialbezirkes. Dem Prediger stehen in den einzelnen Gemeinen Stadtkirchenräte zur Seite. In den Landgemeinen gibt es Kirchenvorsteher. Die Konkordienformel, eine an die schwedische vom Jahre 1687 sich anschließende Agende bestehen zu Recht. Der Petersburgische, Moskauische und ein Teil des Kurländischen Bezirks umfassen auch die weitausgedehnte, in kleinen Gruppen unübersehbar versprengte, pastoral unendlich mühevoll zu pflegende lutherische Diaspora. Der Petersburgische Konsistorialbezirk vom finnischen Meerbusen bis zum Schwarzen Meer zählt in der Hauptstadt selbst in 13 Kirchspielen etwa 70 000 Lutheraner mit wohlorganisierter Armenpflege und mancherlei Asylen. In Petersburg sind 90 000 Protestanten in 21 Gemeinden mit 18 Kirchen. Ev. Gottesdienst wird in 9 Sprachen gehalten. 4 Gemeindegymnasien, Volksschulen und höhere Töchterschulen. Das evangelische Feldlazarett erregte 1877 die Aufmerksamkeit. Um die Stadt zieht sich ein Kreis kleiner deutscher Gemeinen. Traurig sind die Zustände in den 19 finnischen Landgemeinen. In den nach Norden und Osten von der Hauptstadt gelegenen 6 Gouvernements zeigt die Stadt Kiew ein reges Leben. In dem Süden Russlands breitet sich eine lutherische Bevölkerung von 130 000 Seelen aus. In Odessa ist eine größere Gemeine aufgeblüht. In den Kolonien waltet ein stark schwäbisches, frommes Element mit kirchlichem Bewusstsein, von den Baptisten heimgesucht, neben methodistischen Springern und Hüpfern, mehr in Laxheit versinkend, nachdem die Kolonialobrigkeiten aufgehoben sind. Man übt hier die Armen- und Waisenpflege und hat in Sanata ein Diakonissenhaus und in Herzliebenthal ein Haus der Barmherzigkeit.
Der Moskauische Konsistorialbezirk umfasst 332 860 Eingepfarrte; nur in Moskau fester geordnete Gemeinen,210 sonst überall das schmerzliche Bild des vergeblichen Ringens der Hirten um Erhaltung der Herden. An der Berg- und Wiesenseite der Wolga wohnen fast 300 000 Lutheraner, die einst von 1840-1879 eine glänzende Zeit des Wohlstandes hatten, ihre Schulen vernachlässigten, dann von 1879-1880 Hungerjahre und nun in der Hungersnot von 1892 völlig zugrunde gegangen sind; die Kolonien sind in maßlosem Elend zur Wüste geworden.211 Sie sind von etwa 54 000 ursprünglich Reformierten, von „neuen Brüdern“, die eine Gemeine der Sündlosen darstellen wollen und von Baptisten durchsetzt. Dabei großer Mangel an Pastoren. Der Kaukasus wird von 4 Gemeinen aus pastoriert; interessant ist eine kleine luth. Gemeine Schemachu und Baku armenischen Ursprungs. In Sibirien sollen 6649 Lutheraner wohnen, namentlich in den Deportierkolonien, in 5 Kirchspiele verteilt mit den schwierigsten Verhältnissen. Oft in dem Elend der Salzsalinen, Eisenhütten, der Goldwäschereien und Bergwerke. In den fünfziger Jahren hatte ein Pastor ein Kirchspiel größer als Europa. Die sibirischen Strapazen hatten aus ihm einen Schatten gemacht. 1100 Protestanten aus fünf Völkerschaften. Im Minussinskischen Kreise 3 protestantische Kolonien. Als der Generalsuperintendent Jürgenssen Taschkent und Sibirien bereiste, konnte er zwei Wochen nur Tee als Nahrung erhalten und starb in Folge der Erschöpfung (1886). Die Probstei Wilna zum kurländischen Konsistorium gehörig umfasst 36 888 Seelen in vierfach verkümmerter Lage.
In dem Konsistorialbezirk von Kurland, Riga, Livland, Ösel, Estland und Reval ist die absolute Mehrheit der Bevölkerung lutherisch. Hier ist ein so guter Stand der Volksschulen, dass 1881 auf 110 Kinder 1 Schule kam. Neuerdings wächst der Baptismus. Eine eigentümliche geistige Bewegung zeigt sich auf den Inseln Nukoe und Worms. Eine reiche Liebestätigkeit betreiben die estnische Pfarrerversorgungskasse, die Bücherverlagskasse, der Traktatverein. die ev. Bibelgesellschaft. Bischof Dr. Ulmann rief eine Unterstützungskasse der luth. Gemeinen 1859 hervor. Sie wird von dem Zentralkomitee in St. Petersburg geleitet und hat eine jährliche Einnahme von ca. 60 000 Rubel. Es gibt christliche Leihbibliotheken, 5 deutsche Gemeindeblätter und die Theologische Monatsschrift. Die Heidenmission steht mit Leipzig in Verbindung. Das Interesse der Judenmission ruht auf den Bewegungen in Kischinew. Die Unterstützungskasse verfügte 1890 über 83 182 Rubel. 173 Gemeinden wurden unterstützt.
Die ev. lutherische Kirche des früheren Königreichs Polen umfasst etwa 327 845 Protestanten, Lutheraner und Reformierte mit vorwiegend deutschem Charakter, seltener schon litauischem und polnischem. Die gesetzliche Grundlage ist das Gesetz vom 8./20. Februar 1849. In Warschau ist ein Evangelisch-Augsburgisches Konsistorium. Unter einem Generalsuperintendenten stehen vier Superintendenten. Die Gemeinen wählen die Prediger. Kirchenkollegien stehen diesen zur Seite. Die Volksschulen sind jetzt der Aufsicht des Predigers entzogen und in Simultanschulen verwandelt. Die Unterrichtssprache ist die russische. Die Verdrängung der deutschen Sprache bewirkt eine starke Auswanderung in andere russische Provinzen. Neuerdings tritt der sonst herrschende Rationalismus etwas zurück. In Grusien zählt man 8 luth. Gemeinen, in Tiflis die wichtigste; sie sind synodal verfasst. Im Gouvernement Gerson ist die einst aus Württemberg geflüchtete Gemeine Hoffnungstal. Die evang. lutherische Kirche des Großfürstentums Finnland zählt 2 019 727 Lutheraner. Bischöfe und ein Domkapitel verwalten sie. Eine Generalsynode mit einem Laienelement hat die Legislation in Händen. Die Gemeinen wählen die Pastoren, diese die oberen kirchlichen Stufen. Die von der Kirche getrennte Schule hat doch vorwiegend geistliche Direktoren. Die Universität ist Helsingfors. In Wiborg ist ein Diakonissenhaus. Eine Bibelgesellschaft ist in Tätigkeit. Die Mission arbeitet unter den tief gesunkenen Lappen und unter den Ovambo in Afrika. Im eigenen Lande wird der Branntweinverkauf von den Gemeinden bewacht. Eine pietistische Richtung ist durch den Bauer Paarvo Ruotsalainen hervorgerufen; ihr gegenüber betont die Rechtfertigungslehre der Probst Hedberg. 1873 hat sich auch ein ev.-luth. Verein gebildet. Die reformierte Kirche Russlands hat ihren geschmackvollen Geschichtsschreiber in dem Konsistorialrat und Pastor Dr. th. Hermann Dalton,212 der uns auch mit seiner anmutigen Feder das Leben des Vaters Gossner und des Reformators Johannes a Lasco beschrieben hat, ein durch Reisen und Reisebilder in Europa bekannter Mann. Über evangelische Strömungen in Russland hat er in den christlichen Zeitfragen berichtet. Hier erfahren wir etwas von den „Stundisten“ und den Bemühungen des Lord Radstock und seines Schülers Paschkoff. Gerne folgen wir ihm, wenn er uns den Reiz der Einsamkeit auf den steppenweiten Gebieten der ref. Kolonisten schildert. Die ref. Kirche Russlands zählt 2 größere Zusammenfassungen von ref. Gemeinen: den litauischen Synodalbezirk und den Warschauer. Die übrigen 10 Gemeinen stehen unter den reformierten Sitzungen der „Konsistorien“ zu Petersburg, Moskau, Riga und Mitau, welche die Ehesachen, die Prüfung und Ordination der Kandidaten zu verwalten haben. Sehr regsam ist die deutsch-ref. Gemeine in Petersburg (1047 Kommunikanten) mit einer Schule verbunden. Ihre Jahresberichte kommen auch ins Ausland.
Sie bewahrt das Gedächtnis des Schweizers Johannes von Muralt, dessen Leben Dalton erzählt hat. Bei der litauischen reformierten Kirche begegnen wir überall den Verwüstungen der Jesuiten. Der Heidelberger Katechismus war im Lande verschwunden. Ein zertretener, mit Blut gedüngter Boden. Jetzt leitet eine Synode (Präsident gegenwärtig Graf Puttkammer) und ein Synedrium die Kirche. Die laufenden Geschäfte führt ein ref. Kollegium zu Wilna. Die Staatsschulen haben die russische Sprache. Ein Gymnasium zu Sluzk ist von der Regierung eingezogen. Es gibt 14 Gemeinden mit 11 125 Seelen, auf denen Armut und Niedergang liegt. Am 3. Dezember 1879 starb der Generalsuperintendent Stefan von Lipinski: ein zurückgebliebener erratischer Block, der an die entschwundene polnische Glanzzeit mahnte. Ein strenger Calvinist und Gegner aller freieren Richtungen; eine ehrwürdige alte Gestalt mit schwarzseidenem Gewand. Ein echter polnischer Nationalheld, der mit Schmerz den Abfall des ref. Adels sah. In Polen ist die Verfassung eine konsistorial-synodale. Ihr Recht beruht auf dem Gesetze von 1849. In den 9 Pfarrgemeinen wird in 4 Sprachen gelehrt und gepredigt. Im Allgemeinen schätzt man die Reformierten mit den 40 000 an der Wolga auf 71 159. Methodisten gibt es 34 217 213 Im Jahre 1888 traten 1600 Lutheraner und 41 Reformierte zur orthodoxen Kirche über.
zu.210 A. W. Feihner, Chronik der ev. Gemeinden in Moskau, 1876.
zu.211 Vergl. Allg. Luth. Kirchenztg. Nr. 1 und 2, 1892.
zu.213 Quarterly Register of th. All. of ref. churches No. 7, July 1887.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31
A. Zahn "Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"
Zweiter Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
VII. Österreich-Ungarn.
A. Österreich.Tei1.
Literatur: Außer den im Text angegebenen Quellen hier noch folgende Schriften: Die Rechte und Verfassung der Akatholiken in dem Österreich. Kaiserstaate von Jos. Helfert, 1843. Die Berichte über die Konferenz des Jahres 1848 und die Versammlung der Superintendenten vom Jahre 1849. Letopisy, ev. cirkvi vlast. z. r. 1848 und 49 von Jos. Ruzicka, 1850. Lehrbuch des allg. und österr. ev.-protest. Kirchenrechts von Karl Kuzmany, 1856. Urkundenbuch zum österr. ev. Kirchenrecht, 1856, von demselben. Pamatka, roku slaraostniho von Janata, Subert und Tardy, 1863. Die Rechte der Protestanten in Österreich, von Gustav Porubszky, 1867. Die K. K. ev. theol. Fakultät in Wien, von Frank, 1871. Das Evangelium in Böhmen, von Lemme, 1877. Doba poroby a vzkriseni, von Adamek. 1878. Les Églises de la confession Helvétique en Bohême et en Moravie et la question scolaire, 1879. Kaiser Joseph II. und die Protestanten in Österreich, von Stursberg, 1881. Weghs „Zapisky“. herausgeg. von Szalatnay, 1882. Austrian Ideas of Religious Liberty by R. S. Ashton, 1881. Toleranz und Intoleranz gegen das Evangelium in Österreich, von Zimmermann, 1881. Zu beachten sind auch die kirchl. Briefe aus Österreich in der Ev. Kirchenztg., 1868, Nr. 95. Christl. Zeitfragen, VII, Heft 2. Schematismus der ev. K. Augsb. und Helv. Bekenntn., 1886. Witz, das ev. Wien, 1887. Trautenberger, Ein Vierteljahrhundert unter dem Gustav-AdolfsBanner, 1862-1887. Kaiser Franz Joseph I. und die ev. Kirche, von Witz, 1888. Lütge, Der Aufschwung der böhmisch-mährischen K. unter F. J. I., 1889. Jahrbuch der Gesellschaft f. d. Gesch. d. Protest. in Österreich, 13. Jahrg., jetziger Redakteur Loesche.
1. Die Toleranzzeit.
Die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück, durch welche der dreißigjährige Krieg beendigt wurde, nahten sich ihrem Abschluss, aber die in dem Friedensinstrument für die Protestanten in Deutschland gewahrten Freiheiten und Rechte sollten dem Lande, in welchem der schreckliche Krieg seinen Anfang genommen, nicht zugute kommen. Vergeblich bemühte sich Comenius, dem Kanzler Oxenstierna ans Herz zu legen, der böhmischen Protestanten, des böhmischen Volkes nicht zu vergessen. „Im Namen vieler schreibe ich Dir; ergriffen von ihrem Flehen, liege ich zu Deinen Füßen und beschwöre Dich um der Wunden Jesu Christi willen, uns um Christi willen Geplagte nicht zu verlassen. Blicke auf unser Volk, auf welches unter allen europäischen Völkern Christus zuerst herabsah, es aus der Finsternis des Antichristen zuerst herausriss und welches den Zorn des Antichrist ganze Jahrhunderte hindurch vornehmlich zu erdulden hatte. Hört uns Arme, dass der barmherzige Gott auch euch erhöre!“ So flehte Comenius noch den 11. Okt. 1648 zu dem schwedischen Kanzler. Doch vergeblich. Die österreichischen Lande und so auch Böhmen blieben von der Wohltat des Friedens, der Religionsfreiheit, ausgeschlossen. Wo vor dem Kriege kaum der 100. römisch war, sollte nunmehr alles römisch, päpstlich sein und bleiben und wer dem sich widersetzte, als Hochverräter behandelt werden. Doch trotz alledem hatte das Evangelium in Österreichs Ländern seine geheimen Anhänger, die nun, wo man von ihnen erfuhr, dies auch zu büßen hatten. So dauerten die Verfolgungen der Evangelischen mit wenigen Ausnahmen (Schlesien, Galizien, Triest) bis zum Tode der Kaiserin Maria Theresia: das erlösende Wort sprach erst Joseph II. nach seinem Regierungsantritt 1780. Nach einigen vorausgehenden vorbereitenden Dekreten erscheint am 13. Oktober 1781 das Toleranzpatent. Unbeschreiblich war die Freude und innig der Dank der bisher unterdrückten und verfolgten Protestanten, die nun ein privates Glaubensexerzitium entweder nach der Augsburgischen oder Helvetischen Konfession ausüben konnten (A. C. und H. C.).
Im Jahre 1782 zählte man 73 722 Ev. A. u. H. C.,
" 1783 " " 79 226 " " " "
" 1785 " " 107 454 " " " "
" 1788 " " 156 865 " " " "
In Böhmen und Mähren bekannte sich die Mehrzahl zur H. C., ein neuer Beweis für die Zugehörigkeit der alten böhmischen Brüderkirche zu den Reformierten, denn der Einfluss der Schriften der Unität war der Grund dieser Erscheinung.
Leider wurde der Übertritt durch das Dekret vom 25. Dezember 1782 beschränkt, welches vom 1. Januar 1783 an, wo natürlich die meisten von der Existenz dieses Dekretes noch gar nichts wussten, für die vom Katholizismus Übertretenden den sechswöchentlichen Religionsunterricht beim katholischen Pfarrei festsetzte, von denen mancher diesen Unterricht auf Monate, ja Jahre ausdehnte. Erst das Jahr 1848 befreite die Übertretenden von der Qual dieses Unterrichts. Die lutherischen Gemeinen erhielten ihre ersten Prediger aus der Slowakei in Ungarn und aus Deutschland, auch aus anderen Ländern. Ebenso bekamen die vier reformierten deutschen Gemeinen ihre ersten Prediger aus Deutschland und Holland. Die böhmischen reformierten Gemeinen standen eine Zeitlang ratlos da, bis sich endlich auf ihr wiederholtes Bitten, und das Drängen der Regierung ungarische (magyarische) Kandidaten entschlossen, dem Rufe der neuen Gemeinen zu folgen, deren Sprache sie erst zu erlernen hatten. Freudig wurden sie von den ref. Böhmen aufgenommen als die sehnlichst erwünschten Prediger ref. Bekenntnisses; 37 gingen nach Böhmen, 15 nach Mähren214, denen im Laufe der Jahre noch andere folgten, bis böhmische Jünglinge Theologie studierten und vakante Stellen übernehmen konnten. Der Gottesdienst wurde nach ref. Ordnung eingerichtet und der kleine Heidelberger Katechismus nach einer belgischen Bearbeitung in den meisten Gemeinen als Lehrbuch eingeführt.
In den meisten Gemeinen wurden auch sofort Schulen errichtet, deren Lehrer allerdings oft ohne die nötige Vorbildung waren und sich auf Unterweisung des Einfachsten beschränkten. Im Jahre 1784 wurden für die Gemeinen die ersten Superintendenten bestellt und ebenso die Konsistorien in Wien errichtet. Jede Konfession erhielt ihr eigenes Konsistorium; beide hatten einen gemeinschaftlichen kath. Präses (einen Juristen).
Kaiser Joseph II. war der Überzeugung, dass beide ev. Konfessionen so von einander abweichen, dass jede ihre eigene Kirchenverfassung haben müsse. Als aber die Evangelischen in Wien A. und H. C. sich unionistisch äußerten, ließ es Joseph zu, dass für beide Kirchen ein und dieselbe kirchen-regimentliche Ordnung bestimmt werde. Die Gemeinden wählten sich ihre Presbyterien und ihre Pfarrer und Schullehrer. Die Senioren und Superintendenten wurden von der politischen Obrigkeit und zwar über Vorschlag der Konsistorien, jene von der Landesstelle, diese von der Hofstelle ernannt. In der ersten Zeit wurden auch Synoden, besonders von den ref. Predigern in Böhmen abgehalten, bald jedoch untersagt.
Als nach Kaiser Josephs Tode die böhmischen Stände an Kaiser Leopold II. das Verlangen stellten, das Toleranzpatent wieder aufzuheben, wies dieser das Ansinnen mit Entschiedenheit zurück und mahnte die Stände zur Duldsamkeit. Aus der Zeit Kaiser Franz I. ist besonders zu bemerken, dass die Bestrebungen nach Errichtung einer eigenen theol. Lehranstalt zur Ausführung gelangten.
Bis dahin erhielten die Studierenden der Theologie ihre Bildung auf ungarischen Gymnasien und Fakultäten. Im Jahre 1814 wurde die akatholische Lehranstalt zu Teschen in ein akatholisches Gymnasium umgewandelt und im Jahre 1821 eine theol. Lehranstalt für die Studierenden der Theologie A. und H. C. in Wien eröffnet. Dieselbe stand unter einem Studiendirektor (der einer der Wiener Pastoren war) und unter der Aufsicht der Konsistorien. Die Professuren der Exegese und Dogmatik sollten mit je einem Professor A. C. und H. C. besetzt werden, bezüglich H. C. kam diese Anordnung vollständig nie zur Ausführung, was von ref. Seite auch sehr beklagt wurde. Zunächst wurde ein Professor der Exegese H. C., Patay aus Ungarn, berufen; ihm folgte Szeremley als Professor für Dogmatik H. C; nach dessen Rücktritt im Jahre 1856, nach einer 7jährigen Vakanz, wurde Dr. Böhl als Professor für Dogmatik und Symbolik berufen. Von ihm haben wir das einzige Lehrbuch der reformierten Dogmatik in diesem Jahrhundert: Dogmatik. Darstellung der christlichen Glaubenslehre auf reformiert-kirchlicher Grundlage, 1887. Alle übrigen Stellen hatten bis jetzt nur Professoren A.C. Das 300jährige Jubiläum der Reformation durch Luther und Zwingli wurde mit Genehmigung der Regierung im Jahre 1817 in allen Gemeinen A. C. und H. C. mit großer Innigkeit und tiefem Dank gefeiert. Nach den Berichten der einzelnen Pfarrämter verfasste der luth. Pfarrer Glatz in Wien eine Geschichte dieser Feier.
In ihrer nur tolerierten Stellung verblieben die Evangelischen beider Bekenntnisse während der Regierung der Kaiser Franz und Ferdinand I. Vergleicht man die ersten Jahre der Regierung Joseph II. mit dieser späteren Zeit, so lässt sich nicht leugnen. dass sogar eine Verringerung und Beschränkung der ihnen verliehenen Duldung eingetreten war. Bei Erteilung des Toleranzpatents war der Übertritt zur ev. Kirche H. C. oder A. C. für jedes Alter frei und Kinder traten zugleich mit ihren Eltern über. Jetzt durfte ein Katholik vor seinem 18. Jahre nicht übertreten. Die Reverse zu katholischer Kindererziehung in gemischten Ehen waren von Kaiser Joseph aufgehoben. Im Jahr 1842 wurden sie wieder eingeführt, wogegen die Gestattung der Eheschließung per passivam assistentiam einen sehr geringen Ersatz bot215. Der Bezug der Bibeln ausländischer Bibelgesellschaften war verboten u. a. m.
Doch die Tage einer besseren Zeit, die der gesetzlich gesicherten und gleichberechtigten Stellung, waren bereits nahe. Das Jahr 1848 brachte auch hierin eine Änderung. Während der Toleranzzeit war die soziale Stellung der Evangelischen und besonders ihrer Prediger eine sehr gedrückte. Um so inniger hielten sie zu einander. Gemeineglieder und Prediger besuchten sich häufig, Gastfreundschaft wurde in herzlichster Weise geübt. Man schreckte vor meilenweiten Wegen nicht zurück. Man teilte sich gegenseitig Freudiges und Schmerzliches mit und beriet über den besten Weg, die Hindernisse zu überwinden, und hierbei ein gleichmäßiges Vorgehen zu beachten. Auch Eröffnungen von Bethäusern, Schulen oder auch Begräbnisse usw. gaben Anlass zu zahlreicheren Zusammenkünften. Das tat besonders den ungarischen Predigern not, die die Verhältnisse des Landes und Volkes und die bestehenden Gesetze erst kennen zu lernen hatten. Die Gemeinen standen mit ihren Pastoren im herzlichsten Verkehre. Freilich waren auch die Pastoren anspruchslose einfache Seelsorger, die ja ihre teure Heimat in dem Bewusstsein verlassen hatten, zu einem armen, einfachen Volke zu ziehen, das nur in seinen niedrigen Bauernhütten sich den Rest der Bekenner des Evangeliums bewahrt hatte, während die bemittelteren Klassen, die Intelligenz, die adeligen Geschlechter in der Gewalt des Papsttums verblieben. Die Kirchen waren einfach ohne Turm, Glocken und Orgeln, aber bei den Reformierten gut reformiert eingerichtet, ohne Altäre, denen zu Liebe die Kanzel beiseite geschoben wird. Die Kanzel nahm den Hauptplatz ein und vor ihr stand ein Tisch zur Bedienung mit den Sakramenten und für andere Funktionen. Bei dem gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst wurde nur die Kanzel benützt. Die ersten Prediger, zumal bei den reformierten Böhmen, waren auch ihre ersten geistlichen Schriftsteller; freilich bedienten sich die ersten ungarischen Prediger hierbei einheimischer Hilfe; ein katholischer aber literarisch tüchtiger Jüngling, Cramerius, der später als Literat eine hervorragende Stellung einnahm, war ihr Translator und Korrektor. So wurde sofort eine Agende, der Heidelberger Katechismus und die 2. helv. Konfession ins Böhmische übersetzt und herausgegeben. In Mähren war besonders der erste Superintendent Blazek, der böhmischen Sprache von Hause aus mächtig, hierin tätig, in Böhmen vor allem der feurige Wegh. Auch Gesangbücher und Gebetbücher erschienen, jene wurden jedoch meist nur in Mähren benützt, in Böhmen wurden die Lieder bis in die neueste Zeit meist nur von dem Vorsänger vorgesagt und von der Gemeinde nachgesungen. Die Gemeindeglieder selbst hatten während des Gottesdienstes kein Gesangbuch. Man sang Lieder und Psalmen, diese nach den Goudimelschen Melodien, in der alten aus dem Jahre 1585 stammenden Übersetzung des Predigers der alten Brüderunität Georg Stryc. Eine Geschichte der Gründung der Gemeinen verfasste Wegh und Szalatnay, jene ist im Auszuge gesondert erschienen, diese in der ref. Zeitschrift Hl. ze S. veröffentlicht worden. Selbst die Katholiken freuten sich über diese literarischen Anfänge, und der Rektor der Prager Universität, zugleich Mitglied der Zensurbehörde, mit dem Wegh dieserhalb zu verkehren hatte, sagte zu diesem: Nehmt euch nur der Böhmen an; denn exstirpata religio, exstirpata eruditio! –
zu.214 Die Nachkommen von 7 dieser ersten Prediger stehen noch jetzt im Dienste der ref. Kirche: Molnar, Tardy, Szalatnay, Nagy, Soltesz.
zu.215 Da Ehen von Brautpaaren verschiedener Religion nur vor dem röm. kathol. Priester geschlossen werden konnten, befanden sich jene in der denkbar peinlichsten Lage, wenn der evangelische Teil den Revers wegen katholischer Kindererziehung nicht ausstellen, oder der eine Teil noch vorher zu der Religion des andern nicht übertreten wollte. Da der Übertritt zur evangelischen Religion aber, so lange das sechswöchentliche Examen gefordert wurde, zumal in einem solchen Falle, bekanntlich nicht leicht bewerkstelligt werden konnte, so wurde diesem Gewissenszwange dadurch einigermaßen abgeholfen, dass der Papst über eine Vorstellung der österreichischen Bischöfe durch ein Breve, welchem am 24. August 1841 das placetum erteilt wurde, gestattete, dass solche Ehen, wo der evangelische Teil sich zu keinem Reverse entschließen wollte, per passivam assistentiam sacerdotis, d. h. vor dem in gewöhnlicher Kleidung gegenwärtigen Priester ohne die üblichen Zeremonien der römischen Kirche, lediglich durch Anhörung des gegenseitigen Eheversprechens, gültig geschlossen würden. Eine nachträgliche kirchliche Befestigung dieser Ehen seitens des evangelischen Geistlichen war streng untersagt.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
VII. Österreich-Ungarn.
A. Österreich.Tei1.
Literatur: Außer den im Text angegebenen Quellen hier noch folgende Schriften: Die Rechte und Verfassung der Akatholiken in dem Österreich. Kaiserstaate von Jos. Helfert, 1843. Die Berichte über die Konferenz des Jahres 1848 und die Versammlung der Superintendenten vom Jahre 1849. Letopisy, ev. cirkvi vlast. z. r. 1848 und 49 von Jos. Ruzicka, 1850. Lehrbuch des allg. und österr. ev.-protest. Kirchenrechts von Karl Kuzmany, 1856. Urkundenbuch zum österr. ev. Kirchenrecht, 1856, von demselben. Pamatka, roku slaraostniho von Janata, Subert und Tardy, 1863. Die Rechte der Protestanten in Österreich, von Gustav Porubszky, 1867. Die K. K. ev. theol. Fakultät in Wien, von Frank, 1871. Das Evangelium in Böhmen, von Lemme, 1877. Doba poroby a vzkriseni, von Adamek. 1878. Les Églises de la confession Helvétique en Bohême et en Moravie et la question scolaire, 1879. Kaiser Joseph II. und die Protestanten in Österreich, von Stursberg, 1881. Weghs „Zapisky“. herausgeg. von Szalatnay, 1882. Austrian Ideas of Religious Liberty by R. S. Ashton, 1881. Toleranz und Intoleranz gegen das Evangelium in Österreich, von Zimmermann, 1881. Zu beachten sind auch die kirchl. Briefe aus Österreich in der Ev. Kirchenztg., 1868, Nr. 95. Christl. Zeitfragen, VII, Heft 2. Schematismus der ev. K. Augsb. und Helv. Bekenntn., 1886. Witz, das ev. Wien, 1887. Trautenberger, Ein Vierteljahrhundert unter dem Gustav-AdolfsBanner, 1862-1887. Kaiser Franz Joseph I. und die ev. Kirche, von Witz, 1888. Lütge, Der Aufschwung der böhmisch-mährischen K. unter F. J. I., 1889. Jahrbuch der Gesellschaft f. d. Gesch. d. Protest. in Österreich, 13. Jahrg., jetziger Redakteur Loesche.
1. Die Toleranzzeit.
Die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück, durch welche der dreißigjährige Krieg beendigt wurde, nahten sich ihrem Abschluss, aber die in dem Friedensinstrument für die Protestanten in Deutschland gewahrten Freiheiten und Rechte sollten dem Lande, in welchem der schreckliche Krieg seinen Anfang genommen, nicht zugute kommen. Vergeblich bemühte sich Comenius, dem Kanzler Oxenstierna ans Herz zu legen, der böhmischen Protestanten, des böhmischen Volkes nicht zu vergessen. „Im Namen vieler schreibe ich Dir; ergriffen von ihrem Flehen, liege ich zu Deinen Füßen und beschwöre Dich um der Wunden Jesu Christi willen, uns um Christi willen Geplagte nicht zu verlassen. Blicke auf unser Volk, auf welches unter allen europäischen Völkern Christus zuerst herabsah, es aus der Finsternis des Antichristen zuerst herausriss und welches den Zorn des Antichrist ganze Jahrhunderte hindurch vornehmlich zu erdulden hatte. Hört uns Arme, dass der barmherzige Gott auch euch erhöre!“ So flehte Comenius noch den 11. Okt. 1648 zu dem schwedischen Kanzler. Doch vergeblich. Die österreichischen Lande und so auch Böhmen blieben von der Wohltat des Friedens, der Religionsfreiheit, ausgeschlossen. Wo vor dem Kriege kaum der 100. römisch war, sollte nunmehr alles römisch, päpstlich sein und bleiben und wer dem sich widersetzte, als Hochverräter behandelt werden. Doch trotz alledem hatte das Evangelium in Österreichs Ländern seine geheimen Anhänger, die nun, wo man von ihnen erfuhr, dies auch zu büßen hatten. So dauerten die Verfolgungen der Evangelischen mit wenigen Ausnahmen (Schlesien, Galizien, Triest) bis zum Tode der Kaiserin Maria Theresia: das erlösende Wort sprach erst Joseph II. nach seinem Regierungsantritt 1780. Nach einigen vorausgehenden vorbereitenden Dekreten erscheint am 13. Oktober 1781 das Toleranzpatent. Unbeschreiblich war die Freude und innig der Dank der bisher unterdrückten und verfolgten Protestanten, die nun ein privates Glaubensexerzitium entweder nach der Augsburgischen oder Helvetischen Konfession ausüben konnten (A. C. und H. C.).
Im Jahre 1782 zählte man 73 722 Ev. A. u. H. C.,
" 1783 " " 79 226 " " " "
" 1785 " " 107 454 " " " "
" 1788 " " 156 865 " " " "
In Böhmen und Mähren bekannte sich die Mehrzahl zur H. C., ein neuer Beweis für die Zugehörigkeit der alten böhmischen Brüderkirche zu den Reformierten, denn der Einfluss der Schriften der Unität war der Grund dieser Erscheinung.
Leider wurde der Übertritt durch das Dekret vom 25. Dezember 1782 beschränkt, welches vom 1. Januar 1783 an, wo natürlich die meisten von der Existenz dieses Dekretes noch gar nichts wussten, für die vom Katholizismus Übertretenden den sechswöchentlichen Religionsunterricht beim katholischen Pfarrei festsetzte, von denen mancher diesen Unterricht auf Monate, ja Jahre ausdehnte. Erst das Jahr 1848 befreite die Übertretenden von der Qual dieses Unterrichts. Die lutherischen Gemeinen erhielten ihre ersten Prediger aus der Slowakei in Ungarn und aus Deutschland, auch aus anderen Ländern. Ebenso bekamen die vier reformierten deutschen Gemeinen ihre ersten Prediger aus Deutschland und Holland. Die böhmischen reformierten Gemeinen standen eine Zeitlang ratlos da, bis sich endlich auf ihr wiederholtes Bitten, und das Drängen der Regierung ungarische (magyarische) Kandidaten entschlossen, dem Rufe der neuen Gemeinen zu folgen, deren Sprache sie erst zu erlernen hatten. Freudig wurden sie von den ref. Böhmen aufgenommen als die sehnlichst erwünschten Prediger ref. Bekenntnisses; 37 gingen nach Böhmen, 15 nach Mähren214, denen im Laufe der Jahre noch andere folgten, bis böhmische Jünglinge Theologie studierten und vakante Stellen übernehmen konnten. Der Gottesdienst wurde nach ref. Ordnung eingerichtet und der kleine Heidelberger Katechismus nach einer belgischen Bearbeitung in den meisten Gemeinen als Lehrbuch eingeführt.
In den meisten Gemeinen wurden auch sofort Schulen errichtet, deren Lehrer allerdings oft ohne die nötige Vorbildung waren und sich auf Unterweisung des Einfachsten beschränkten. Im Jahre 1784 wurden für die Gemeinen die ersten Superintendenten bestellt und ebenso die Konsistorien in Wien errichtet. Jede Konfession erhielt ihr eigenes Konsistorium; beide hatten einen gemeinschaftlichen kath. Präses (einen Juristen).
Kaiser Joseph II. war der Überzeugung, dass beide ev. Konfessionen so von einander abweichen, dass jede ihre eigene Kirchenverfassung haben müsse. Als aber die Evangelischen in Wien A. und H. C. sich unionistisch äußerten, ließ es Joseph zu, dass für beide Kirchen ein und dieselbe kirchen-regimentliche Ordnung bestimmt werde. Die Gemeinden wählten sich ihre Presbyterien und ihre Pfarrer und Schullehrer. Die Senioren und Superintendenten wurden von der politischen Obrigkeit und zwar über Vorschlag der Konsistorien, jene von der Landesstelle, diese von der Hofstelle ernannt. In der ersten Zeit wurden auch Synoden, besonders von den ref. Predigern in Böhmen abgehalten, bald jedoch untersagt.
Als nach Kaiser Josephs Tode die böhmischen Stände an Kaiser Leopold II. das Verlangen stellten, das Toleranzpatent wieder aufzuheben, wies dieser das Ansinnen mit Entschiedenheit zurück und mahnte die Stände zur Duldsamkeit. Aus der Zeit Kaiser Franz I. ist besonders zu bemerken, dass die Bestrebungen nach Errichtung einer eigenen theol. Lehranstalt zur Ausführung gelangten.
Bis dahin erhielten die Studierenden der Theologie ihre Bildung auf ungarischen Gymnasien und Fakultäten. Im Jahre 1814 wurde die akatholische Lehranstalt zu Teschen in ein akatholisches Gymnasium umgewandelt und im Jahre 1821 eine theol. Lehranstalt für die Studierenden der Theologie A. und H. C. in Wien eröffnet. Dieselbe stand unter einem Studiendirektor (der einer der Wiener Pastoren war) und unter der Aufsicht der Konsistorien. Die Professuren der Exegese und Dogmatik sollten mit je einem Professor A. C. und H. C. besetzt werden, bezüglich H. C. kam diese Anordnung vollständig nie zur Ausführung, was von ref. Seite auch sehr beklagt wurde. Zunächst wurde ein Professor der Exegese H. C., Patay aus Ungarn, berufen; ihm folgte Szeremley als Professor für Dogmatik H. C; nach dessen Rücktritt im Jahre 1856, nach einer 7jährigen Vakanz, wurde Dr. Böhl als Professor für Dogmatik und Symbolik berufen. Von ihm haben wir das einzige Lehrbuch der reformierten Dogmatik in diesem Jahrhundert: Dogmatik. Darstellung der christlichen Glaubenslehre auf reformiert-kirchlicher Grundlage, 1887. Alle übrigen Stellen hatten bis jetzt nur Professoren A.C. Das 300jährige Jubiläum der Reformation durch Luther und Zwingli wurde mit Genehmigung der Regierung im Jahre 1817 in allen Gemeinen A. C. und H. C. mit großer Innigkeit und tiefem Dank gefeiert. Nach den Berichten der einzelnen Pfarrämter verfasste der luth. Pfarrer Glatz in Wien eine Geschichte dieser Feier.
In ihrer nur tolerierten Stellung verblieben die Evangelischen beider Bekenntnisse während der Regierung der Kaiser Franz und Ferdinand I. Vergleicht man die ersten Jahre der Regierung Joseph II. mit dieser späteren Zeit, so lässt sich nicht leugnen. dass sogar eine Verringerung und Beschränkung der ihnen verliehenen Duldung eingetreten war. Bei Erteilung des Toleranzpatents war der Übertritt zur ev. Kirche H. C. oder A. C. für jedes Alter frei und Kinder traten zugleich mit ihren Eltern über. Jetzt durfte ein Katholik vor seinem 18. Jahre nicht übertreten. Die Reverse zu katholischer Kindererziehung in gemischten Ehen waren von Kaiser Joseph aufgehoben. Im Jahr 1842 wurden sie wieder eingeführt, wogegen die Gestattung der Eheschließung per passivam assistentiam einen sehr geringen Ersatz bot215. Der Bezug der Bibeln ausländischer Bibelgesellschaften war verboten u. a. m.
Doch die Tage einer besseren Zeit, die der gesetzlich gesicherten und gleichberechtigten Stellung, waren bereits nahe. Das Jahr 1848 brachte auch hierin eine Änderung. Während der Toleranzzeit war die soziale Stellung der Evangelischen und besonders ihrer Prediger eine sehr gedrückte. Um so inniger hielten sie zu einander. Gemeineglieder und Prediger besuchten sich häufig, Gastfreundschaft wurde in herzlichster Weise geübt. Man schreckte vor meilenweiten Wegen nicht zurück. Man teilte sich gegenseitig Freudiges und Schmerzliches mit und beriet über den besten Weg, die Hindernisse zu überwinden, und hierbei ein gleichmäßiges Vorgehen zu beachten. Auch Eröffnungen von Bethäusern, Schulen oder auch Begräbnisse usw. gaben Anlass zu zahlreicheren Zusammenkünften. Das tat besonders den ungarischen Predigern not, die die Verhältnisse des Landes und Volkes und die bestehenden Gesetze erst kennen zu lernen hatten. Die Gemeinen standen mit ihren Pastoren im herzlichsten Verkehre. Freilich waren auch die Pastoren anspruchslose einfache Seelsorger, die ja ihre teure Heimat in dem Bewusstsein verlassen hatten, zu einem armen, einfachen Volke zu ziehen, das nur in seinen niedrigen Bauernhütten sich den Rest der Bekenner des Evangeliums bewahrt hatte, während die bemittelteren Klassen, die Intelligenz, die adeligen Geschlechter in der Gewalt des Papsttums verblieben. Die Kirchen waren einfach ohne Turm, Glocken und Orgeln, aber bei den Reformierten gut reformiert eingerichtet, ohne Altäre, denen zu Liebe die Kanzel beiseite geschoben wird. Die Kanzel nahm den Hauptplatz ein und vor ihr stand ein Tisch zur Bedienung mit den Sakramenten und für andere Funktionen. Bei dem gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst wurde nur die Kanzel benützt. Die ersten Prediger, zumal bei den reformierten Böhmen, waren auch ihre ersten geistlichen Schriftsteller; freilich bedienten sich die ersten ungarischen Prediger hierbei einheimischer Hilfe; ein katholischer aber literarisch tüchtiger Jüngling, Cramerius, der später als Literat eine hervorragende Stellung einnahm, war ihr Translator und Korrektor. So wurde sofort eine Agende, der Heidelberger Katechismus und die 2. helv. Konfession ins Böhmische übersetzt und herausgegeben. In Mähren war besonders der erste Superintendent Blazek, der böhmischen Sprache von Hause aus mächtig, hierin tätig, in Böhmen vor allem der feurige Wegh. Auch Gesangbücher und Gebetbücher erschienen, jene wurden jedoch meist nur in Mähren benützt, in Böhmen wurden die Lieder bis in die neueste Zeit meist nur von dem Vorsänger vorgesagt und von der Gemeinde nachgesungen. Die Gemeindeglieder selbst hatten während des Gottesdienstes kein Gesangbuch. Man sang Lieder und Psalmen, diese nach den Goudimelschen Melodien, in der alten aus dem Jahre 1585 stammenden Übersetzung des Predigers der alten Brüderunität Georg Stryc. Eine Geschichte der Gründung der Gemeinen verfasste Wegh und Szalatnay, jene ist im Auszuge gesondert erschienen, diese in der ref. Zeitschrift Hl. ze S. veröffentlicht worden. Selbst die Katholiken freuten sich über diese literarischen Anfänge, und der Rektor der Prager Universität, zugleich Mitglied der Zensurbehörde, mit dem Wegh dieserhalb zu verkehren hatte, sagte zu diesem: Nehmt euch nur der Böhmen an; denn exstirpata religio, exstirpata eruditio! –
zu.214 Die Nachkommen von 7 dieser ersten Prediger stehen noch jetzt im Dienste der ref. Kirche: Molnar, Tardy, Szalatnay, Nagy, Soltesz.
zu.215 Da Ehen von Brautpaaren verschiedener Religion nur vor dem röm. kathol. Priester geschlossen werden konnten, befanden sich jene in der denkbar peinlichsten Lage, wenn der evangelische Teil den Revers wegen katholischer Kindererziehung nicht ausstellen, oder der eine Teil noch vorher zu der Religion des andern nicht übertreten wollte. Da der Übertritt zur evangelischen Religion aber, so lange das sechswöchentliche Examen gefordert wurde, zumal in einem solchen Falle, bekanntlich nicht leicht bewerkstelligt werden konnte, so wurde diesem Gewissenszwange dadurch einigermaßen abgeholfen, dass der Papst über eine Vorstellung der österreichischen Bischöfe durch ein Breve, welchem am 24. August 1841 das placetum erteilt wurde, gestattete, dass solche Ehen, wo der evangelische Teil sich zu keinem Reverse entschließen wollte, per passivam assistentiam sacerdotis, d. h. vor dem in gewöhnlicher Kleidung gegenwärtigen Priester ohne die üblichen Zeremonien der römischen Kirche, lediglich durch Anhörung des gegenseitigen Eheversprechens, gültig geschlossen würden. Eine nachträgliche kirchliche Befestigung dieser Ehen seitens des evangelischen Geistlichen war streng untersagt.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31