Regelmäßige Lesung aus der Schatzkammer Davids von Spurgeon

Lehrfragen in Theorie und Praxis - also alles von Bibelverständnis über Heilslehre und Gemeindelehre bis Zukunftslehre

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Jörg
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Psalm 130

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PSALM 130 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift und Inhalt

Ein Wallfahrtslied. Auch dieser Psalm begünstigt, wie der vorhergehende, die Ansicht nicht, dass diese Lieder eine aufsteigende Stufenreihe bilden. Dagegen ist in dem Psalm selbst ein Aufsteigen sehr deutlich wahrnehmbar; der Dichter erhebt sich aus den Tiefen der Not zu der seligen Höhe der gewissen Hoffnung der Erlösung, wie für sich selbst, so für Israel. Wir wüssten keinen trefflicheren Merknamen für diesen Psalm als den uralten, wohlbekannten De profundis: Aus der Tiefe, das ist das Schlüsselwort (V. 1). Aus dieser Tiefe der Not rufen, harren, warten und hoffen wir mit dem Psalmisten. In diesem Liede hören wir von der herrlichen Perle der Erlösung, V. 7. 8. Der Sänger hätte dies Kleinod wohl nicht gefunden, wenn er nicht hätte in die Tiefen tauchen müssen: Perlen liegen tief.

Einteilung


Die ersten beiden Verse enthüllen uns das tiefe Verlangen der Seele; die beiden nächsten sind ein demütiges Bekenntnis der Buße und des Glaubens. In V. 5. 6 bezeugt der Psalmist, wie sehnlich er des HERRN harre, und in den beiden Schlussversen ermuntert er Israel, auf den HERRN zu hoffen, in der freudigen Gewissheit, dass für Israel wie für ihn selbst das volle Heil kommen werde.

Auslegung

1.
Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir.
2.
Herr, höre meine Stimme,
lass deine Ohren merken
auf die Stimme meines Flehens!
3.
So du willst, HERR, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen?
4.
Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Ich harre des HERRN;
meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.
6.
Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zur andern.
7.
Israel hoffe auf den HERRN;
denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm;
8.
und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.



1. Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir. Gewöhnlich bringt die Tiefe alles, was sie in ihren Schlund hinabzieht, zum Verstummen; aber den Mund dieses Knechtes des HERRN vermochte sie nicht zu schließen - im Gegenteil, gerade in der Tiefe rief er zu Jehovah. Mitten in den übermächtigen Fluten lebte und kämpfte das Gebet; ja, die helle Stimme des Glaubens übertönte selbst das Gebrüll der Wogen. Es hat wenig zu bedeuten, wo wir uns befinden, wenn wir zu beten imstande sind; unser Beten aber ist nie echterer Art und nie annehmbarer bei Gott, als wenn es aus den schlimmsten Lagen zu Gott aufsteigt. Tiefe Fluten erzeugen tiefe Andacht. Tiefen des Ernstes werden aufgerührt durch tiefe Flutwellen der Trübsal. Die Diamanten funkeln im Dunkeln am hellsten. Das Gebet de profundis gibt Gott gloria in excelsis. Je größer unsere Not ist, desto vorzüglicher ist der Glaube, der mutig auf den HERRN traut und darum ihn, und ihn allein, anruft. Wahrhaft fromme Menschen können in Tiefen zeitlicher und geistlicher Not sein; aber die Gottseligen erwarten in solcher Lage die Hilfe allein von ihrem Gott, und sie feuern sich selber an, mit noch größerer Inbrunst zu beten als zu anderen Zeiten. Die Tiefe ihrer Not bringt die innersten Tiefen ihres Wesens in Wallung, und aus dem Grunde ihres Herzens dringt starkes Geschrei zu dem allein wahren und lebendigen Gott. Der Psalmist war schon manchmal in Tiefen gewesen, und ebenso oft hatte er zu Jehovah, seinem Gott, gefleht, in dessen Gewalt auch alle Tiefen sind. Es wäre traurig, wenn wir beim Rückblick auf vergangene Not eingestehen müssten, dass wir darin nicht zum HERRN gerufen hätten; hingegen ist es überaus tröstlich, das Bewusstsein zu haben, dass wir, was immer wir in solchen Umständen nicht getan haben und nicht tun konnten, doch selbst in den schlimmsten Zeiten zum HERRN gebetet haben. Der Dichter unseres Psalms hatte in der Not zum HERRN gefleht, und was er getan, das tut er noch,1 tut er jetzt - es ist ihm zur Natur geworden - er ruft zu seinem Gott, und er hofft fest und gewiss, binnen kurzem Erhörung zu erlangen. Wer in den Tiefen betet, den können sie nicht verschlingen. Wer aus den Tiefen zu Gott schreit, der wird bald auf Höhen singen.

2. Herr, höre meine Stimme. Der Ausdruck hören wird in der Schrift oft gebraucht, um aufmerksames Beachten und Erwägen zu bezeichnen. In einem Sinn hört Gott ja jeden Laut, der auf Erden ertönt, und jedes Begehren jeglichen Herzens. Aber was der Psalmist meint, ist etwas viel Größeres: er begehrt ein freundliches, liebevolles, mitleidiges Gehör, wie die Mutter es dem Kinde gewährt, ein Hören wie das des Menschenfreundes, an dessen Ohr der gellende Hilferuf eines menschlichen Wesens aus den Fluten dringt. Dass der Allherr unsere Stimme höre, ist alles, was wir verlangen; aber mit nichts weniger können wir uns auch zufriedengeben. Wenn der HERR uns nur hören will, so wollen wir es seiner erhabenen Weisheit überlassen, was er dann zu tun für gut findet, ob er uns gerade die Antwort senden will, die wir erhoffen, oder nicht. Es ist unter Umständen etwas Größeres, wenn Gott unser Gebet hört, es mit liebendem Herzen beachtet, als wenn er es buchstäblich erhört. Wenn der HERR uns die unbedingte Zusage geben würde, alle unsere Bitten nach ihrem Wortlaut zu erhören, so könnte das uns mehr zum Unglück als zum Segen gereichen; dann würde die Verantwortlichkeit für die Gestaltung unserer Lebensschicksale auf uns selber lasten, und wir kämen nimmer aus der Angst und Sorge heraus. Nun aber der HERR unsere Bitten hört, sie liebevoll beachtet und erwägt, können wir unser Herz in ihm stillen. Dass er unser Flehen hört, ist uns genug; wir wünschen, dass er unsere Bitten nur gewähre, wenn er in seiner unbegrenzten Weisheit erkennt, dass das zu unserem Besten und zu seiner Verherrlichung dienen werde.


Beachten wir, dass der Psalmist laut betete. Das ist zwar keineswegs notwendig, wohl aber ist es sehr förderlich für uns, denn der Gebrauch der Stimme kommt unserm Denken zu Hilfe. Doch hat auch das stille, unhörbare Flehen eine Stimme; ja selbst unsere Tränen und der tiefe Kummer, der kein Wort hervorbringen kann, reden laut, und auf diese Stimme wird der HERR hören, wenn ihr Rufen für sein Ohr bestimmt ist. Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens. Der Psalmist bringt seine Bitte als ein Bittsteller vor; er fleht demütig und inständig den Allherrn, den erhabenen König, an, er möge ihr sein Ohr leihen. Ob er auch oft seinem gepressten Herzen betend Luft machen muss, es ist doch im Grunde immer wieder dasselbe Flehen, das er so dringlich vor Gott bringt. Ach, dass der HERR darauf lausche und seine Bitte in genaue Betrachtung ziehe, ihrer gedenke und sie berücksichtige! Der Psalmist ist in seiner tiefen Not kaum seiner Sinne mächtig, darum besteht sein Gebet manchmal vielleicht nur aus abgebrochenen Stoßseufzern, die nur mit Mühe zu verstehen sind; desto mehr liegt es ihm an, dass der HERR mit voller Aufmerksamkeit und in herzlichem Erbarmen auf die Stimme seines unablässigen angstvollen Flehens lausche. Haben wir über unsere Not und Leiden zu Gott gebetet, dann ist es gut, auch unsere Gebete selbst zum Gegenstand des Gebets zu machen. Können wir keine Worte mehr finden, so lasst uns den HERRN anflehen, die Bitten zu erhören, die wir ihm bereits vorgebracht haben. Sind wir seiner Mahnung treulich nachgekommen, im Gebet nicht lasch zu werden, so dürfen wir auch der Zuversicht sein, dass der HERR seine Verheißung treulich erfüllen und im Helfen nicht lasch werden wird. Wiewohl der Psalmist, wie uns das Folgende zeigen wird, sich unter dem schmerzlichen Druck des Gefühls seiner Sündhaftigkeit befand und somit, wie in äußeren, so auch in inneren Nöten war, also auch in diesem Sinne in tiefen Tiefen zu versinken drohte, so wandte sich dennoch sein Glaube kühn an Gott, allem Gefühl seiner Unwürdigkeit zum Trotz; denn er wusste gar wohl, dass des HERRN Verheißungstreue sich auf sein eigenes Wesen gründet und nicht auf die Eigenschaften seiner allezeit zum Irregehen geneigten Geschöpfe.


Fußnote
1. Diese Bemerkungen beruhen darauf, dass der Grundtext hier das perf. praes. hat, zum Ausdruck einer längst angenommenen, in der Gegenwart noch fortdauernden Eigenschaft (Gewohnheit). Im Deutschen lässt es sich nur durch das Präsens wiedergeben. Luthers Übers. ist also (gegen. alle alten Übers.) richtig. Vergl. zu Ps. 120,1, S. 11. - James Millard
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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3. So du willst, HERR (Jah), Sünden zurechnen (wörtl.: bewahren, im Gedächtnis behalten, eben um sie zu ahnden), Herr (Adonai), wer wird bestehen? Wenn der Allsehende jedermann nach strengem Recht für jeden Mangel an Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit zur Verantwortung ziehen würde, wo würden wir alle sein? Allerdings trägt er alle unsere Übertretungen in sein Buch ein; aber gegenwärtig handelt er nicht mit uns nach dieser Urkunde, sondern legt sie beiseite auf einen künftigen Tag. Wenn die Menschen nach keiner anderen Rechtsordnung als der der Werke gerichtet würden, wer von uns könnte dann vor dem Richterstuhl Gottes Rede und Antwort stehen und hoffen, unschuldig auszugehen? Dieser Vers zeigt, dass der Dichter unseres Psalms unter dem drückenden Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit stand, und dass sich ihm gebieterisch die Notwendigkeit aufdrängte, nicht nur als Bittsteller zu Gott zu rufen, sondern auch ein reumütiges Bekenntnis vor ihm abzulegen als ein Sünder. Er gesteht es in diesen Worten mit redlicher Offenheit ein, dass er vor dem erhabenen König in seiner eigenen Gerechtigkeit nicht bestehen könne, und er ist so ergriffen von dem Gefühl der göttlichen Heiligkeit und der Unantastbarkeit des göttlichen Gesetzes, dass ihn die Überzeugung durchdringt, dass auch nicht einer von dem sterblichen Geschlecht sich vor einem so unbestechlichen Richter angesichts eines so vollkommenen Gesetzes verantworten könne. Er hat wohl Recht, auszurufen: Herr, wer wird bestehen? Keinen gibt es, der es vermöchte; da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer! Alle müssten zusammensinken in dem Bewusstsein ihrer Schuld und vor Angst der Dinge, die da kommen werden. Unsere Sünden sind nicht nur Schwächen, sondern Missetaten, Verschuldungen (Grundtext), sie sind Verkehrungen des Geraden und Guten; und wie viele sind ihrer in unserem Leben! Jehovah, der alles sieht und zugleich der Allwaltende und Allesvermögende ist, der seinen richterlichen Willen durchsetzen kann und auch für uns der Herr über Leben und Tod ist (Adonai), wird uns gewisslich zur Rechenschaft ziehen wegen all der Gedanken und Worte und Werke, die nicht genau mit seinem Gesetze übereinstimmen. Wenn nicht Jesu Blut für uns redete, wie könnten wir hoffen zu bestehen? Dürfen wir es wagen, an dem schrecklichen Tage der Rechenschaft vor ihn zu treten? Werden wir ihm auf dem Boden des Rechts begegnen können? Wie gut ist’s, dass der nächste Vers uns einen anderen Weg zeigt, auf dem wir zu ihm nahen dürfen, den der Gnade. Zu ihr nehmen wir unsere Zuflucht.


4. Denn bei dir ist die Vergebung. Gesegnetes Denn! Es begründet die nicht ausgesprochene, wohl aber in V. 3 verhüllt als Antwort auf die bange Frage enthaltene köstliche Wahrheit, dass der HERR nicht mit uns verfährt nach der Strenge der vergeltenden Gerechtigkeit: Du aber behältst unsere Missetaten nicht in deinem Gedächtnis, vielmehr ist bei dir die Vergebung! Freie, volle, fürstlich unumschränkte Vergebung ist in den Händen des erhabenen Königs; es ist sein Kronrecht, zu vergeben, und es ist ihm eine Lust, dies sein Recht auszuüben. Weil sein Wesen Liebe ist, Liebe, die sich gegen die Sünder als Gnade äußert, und weil er in dieser seiner Gnade ein Opfer für die Sünden versehen hat, darum ist bei ihm Vergebung für alle, die ihre Sünden bekennend zu ihm kommen. Die Macht, zu vergeben, hat Gott stets zur Verfügung; er hat die Vergebung in seiner Hand bereit auch in diesem Augenblick. Dass man dich fürchte. Die Vergebung ist die lebenskräftige Wurzel wahrer Frömmigkeit. Niemand fürchtet den HERRN so wie diejenigen, welche seine vergebende Liebe erfahren haben. Die Dankbarkeit für die empfangene Begnadigung erzeugt eine viel tiefere ehrerbietige Furcht vor Gott als all der Schrecken, der durch Bestrafung eingeflößt wird. Wenn der HERR an allen das Recht vollstrecken wollte, so blieben keine übrig, die ihm noch in Ehrfurcht dienen könnten; und wenn alle seinen verdienten Zorn in vollem Maße zu fühlen bekämen, so würde die Verzweiflung ihr Herz gegen die rechte Furcht vor ihm verhärten. Die Gnade ist es, die zu heiliger Ehrerbietung vor Gott führt und die Furcht, ihn zu betrüben, im Herzen eine Macht werden lässt.

5. Ich harre des HERRN, meine Seele harret. In der Erwartung, dass er liebreich zu mir kommen wird, warte ich auf sein Erscheinen. Ich harre auf Gott, und auf ihn allein; wenn er sich mir kundtut, dann wird mein Sehnen gestillt sein, dann wird es für mich nichts mehr zu warten geben; aber bis er mir zur Hilfe erscheint, muss ich weiter harren, die Hoffnung festhaltend auch in den Tiefen. Diese meine wartende Stellung ist keine bloß äußerliche, nein, das Erharren Gottes ist die Stimmung und Willensrichtung meines ganzen Innersten: meine Seele harret. Beachten wir wohl die Wiederholungen dieses und des folgenden Verses, die die ganze Inbrunst seines Sehnens, Harrens und Hoffens so frei und stark zum Ausdruck bringen. Wir tun gut, in alles, was unseren Verkehr mit Gott betrifft, die ganze Kraft unserer Seele hineinzulegen. Verweist der HERR uns aufs Harren, so lasst uns auch das mit völligem, ungeteiltem Herzen tun; denn wohl (sei) allen, sagt die Schrift, die sein harren! (Jes. 30,18.) Er ist es wert, dass wir auf ihn warten, es lohnt sich wahrlich! Schon das Warten selbst ist uns heilsam und nützlich; es erprobt unseren Glauben, übt uns in der Geduld, lehrt uns volle Ergebung und macht uns die Hilfe und Gabe umso köstlicher, wenn sie dann kommt. Die wahren Glieder des Gottesvolkes sind stets harrende, wartende Leute gewesen; einst harrten sie auf das erste Kommen des Herrn, und jetzt warten sie auf seine Wiederkunft. Im Alten Bunde harrten sie der Gewissheit der Vergebung, und jetzt warten sie auf die völlige Heiligung. Einst harrten sie in den Tiefen der Seelennot, und jetzt, da sie sich in einer glücklicheren Lage befinden, sind sie des Harrens noch nicht müde. Sie haben zum HERRN gerufen und warten nun; das Gebet aus den Tiefen hat sie zubereitet zum geduldigen, gläubigen Harren.

Und ich hoffe auf sein Wort. Die Hoffnung auf Gottes Verheißungwort ist der Grund ihres Wartens, und dies Wort ist’s, was ihnen zum Warten ausdauernde Kraft gibt und es ihnen versüßt. Wer nicht hofft, kann auch nicht harren; so wir aber des hoffen, das wir nicht sehen, so warten wir sein in Geduld (Röm. 8,25). Gottes Wort ist ein zuverlässiges Wort, aber es verzieht bisweilen; ist unser Glaube echter Art, so wird er Gottes Stunde abwarten. Ein Wort vom HERRN ist der Seele des Gläubigen wie nahrhaftes Brot; ist sie durch diese Speise erquickt, so vermag sie auszuharren durch die lange Nacht des Leidens, dem Anbruch der Freiheit und der Freude erwartungsvoll entgegenschauend. Bei diesem Warten versenken wir uns forschend in das Wort, glauben wir an das Wort, hoffen wir auf das Wort, leben wir von dem Wort; und dies alles, weil es sein Wort ist - das Wort dessen, der nie ein vergebliches Wort geredet hat. Jehovahs Wort ist ein fester Grund, darauf ein harrendes Menschenherz ruhen kann.2

6. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als Wächter auf den Morgen. (Grundtext) Männer, die eine Stadt in der Nacht bewachen, und Frauen, die bei Kranken Wache halten, sehnen sich nach dem Tageslicht. Anbeter, die früh in den Tempel gekommen auf die Darbringung des Morgenopfers und das Anzünden des Weihrauchs harren, bringen während der Wartezeit inbrünstige Gebete dar und verlangen sehnlich nach dem Augenblick, da das Lamm auf dem Brandopferaltar brennt. Der Dichter unseres Psalms jedoch wartete mehr als diese alle, er wartete länger, wartete sehnsüchtiger, erwartete Größeres. Er wartete auf den Herrn. Er fürchtete sich nicht vor dem Allgewaltigen, vor dem niemand stehen kann in der eigenen Gerechtigkeit, denn er war bekleidet mit der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, und sehnte sich daher nach dem Augenblick, da er seinem Herrn und König ins Angesicht sehen, seine gnadenvollen Worte vernehmen dürfte. Er scheute Gottes Auge so wenig, wie diejenigen das Licht scheuen, die in einem ehrlichen Gewerbe beschäftigt sind. Er schmachtete und lechzte nach seinem Gott. (Ja, mehr als) Wächter auf den Morgen. Das Bild, das er brauchte, war ihm nicht stark genug, wiewohl sich kaum ein kräftigeres, lebhafteres denken lässt; er fühlte, dass das Verlangen seiner Seele einzigartig, unvergleichlich sei. O dass wir also nach Gott dürsteten!


- Die alten Übersetzungen haben diesen Teil des Verses missverstanden, und ihnen ist leider Luther gefolgt ("von einer Morgenwache zur andern"). - Der ganze Vers lautet im Grundtext wörtlich: Meine Seele (zu dem Allherrn, oder) auf den Allherrn mehr als Wächter auf den Morgen, Wächter auf den Morgen. Fast alle neueren Erklärer ergänzen mit Luther aus dem vorhergehenden Vers das Zeitwort hoffen: Meine Seele wartet auf usw. Delitzsch hält dies für unnötig, er übersetzt: Meine Seele ist dem Allherrn zugewandt, mehr denn Wachhaltende dem Morgen, Wachhaltende dem Morgen (zugewandt sind), und weist treffend auf den Prof. Chr. A. Crusius hin, der auf seinem Sterbebette (1775) mit gen Himmel erhobenen Augen und Händen freudig ausgerufen habe: "Meine Seele ist voll von der Gnade Jesu Christi. Meine ganze Seele ist zu Gott." - Wie mächtig kommt in der Wiederholung nicht nur die dichterische Schönheit des Psalms, sondern auch vor allem die Innigkeit und Stärke des Verlangens des Psalmisten zum Ausdruck! Die Seele sehnt sich nach der Gnade des HERRN mehr, als müde Wächter sich nach dem Licht des Morgens sehnen, das ihnen Ablösung bringt von der langen, langen Nachtwache. O wie wahr ist dies! Wer einst traute Gemeinschaft mit Gott genossen hat, dem ist es die schwerste Prüfung, wenn der HERR sein Angesicht verbirgt, und er verzehrt sich vor Verlangen nach der Gnadennähe seines Gottes. Da können der schmachtenden Seele wohl Augenblicke zu Tagen, Minuten zu Jahren werden!


Fußnote
2. Es macht sich bei dieser Auslegung wieder bemerkbar, dass Spurgeon bei dem Worte Gottes fast immer ausschließlich an das geschriebene Wort denkt. So sehr jedem Gläubigen, schon des Alten und zumal des Neuen Bundes, das, was Spurgeon hier sagt, aus dem Herzen gesprochen ist, so will doch für die Exegese dieser Stelle beachtet sein, dass Gott sein großes Wort, das Wort von Golgatha, noch nicht gesprochen hatte. Spurgeon legt aus, als ob dastände: und auf sein Wort trauend hoffe ich (auf seine Hilfe, sein Heil), während der Psalmist sagt: auf sein Wort (der Heils, Ps. 119,81, der Vergebung und Erlösung, der Befreiung von der Schuld und Strafe der Sünde) hoffe ich, es harrend erwartend; denn das ist die Bedeutung des hebr. Zeitwortes: etwas harrend, hoffend erwarten. - James Millard
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7. Israel hoffe auf den HERRN. Jehovah ist Israels Gott; darum harre Israel auf ihn. Was der eine Israelit tut, das möchte er von ganz Israel getan wissen. Der Mann hat ein gutes Recht, andere zu ermahnen, der selber mit dem Beispiel vorangeht. Der alte Erzvater Israel harrte zu seiner Zeit auf Jehovah und rang die Nacht hindurch, und schließlich konnte er seines Weges ziehen unter dem Schutze dessen, der Israels Hoffnung ist. Das Gleiche wird allen widerfahren, die in Wahrheit seines Samens sind. Gott hat für sein Volk große Dinge in Bereitschaft; die ihm angehören, sollten große Erwartungen hegen. Denn bei dem HERRN ist die Gnade. Das ist in seinem innersten Wesen begründet, und man kann denn auch schon in dem Lichte der Natur viel von Gottes Güte sehen. Wir haben aber überdies das Licht der Gnade und sehen darum auch noch viel mehr von dem Reichtum, der Tiefe und der Kraft seiner rettenden und beseligenden Liebe. Bei uns ist Sünde - Sündenschuld und Sündenelend; dennoch dürfen wir gläubig hoffen, denn bei dem HERRN ist die Gnade. Unser Trost liegt nicht in dem, was bei uns, sondern in dem, was bei unserem Gott vorhanden ist. Lasst uns von uns selbst und all unserer Armut zu Jehovah aufblicken und den reichen Schätzen seiner Gnade. Und viel Erlösung - Erlösung in Fülle - bei ihm. Er kann und wird alle die Seinen aus allen ihren vielen und großen Nöten erlösen; ja, die Erlösung ist schon bei ihm da, so dass er zu jeder Zeit denen, die auf ihn harren, den vollen Genuss derselben geben kann. Die göttliche Eigenschaft der Gnade und die Tatsache der Erlösung, das sind zwei im höchsten Maße genügende Gründe zum Hoffen auf den HERRN; und die andere Tatsache, dass nirgendwo, außer bei ihm Gnade und Erlösung zu finden sind, sollte die Seele von allem Götzendienst, grobem und feinem, aufs wirksamste abziehen. Sind diese Tiefen der Gottheit nicht ein herrlicher Trost für solche, die aus den Tiefen zu dem HERRN rufen? Ist’s nicht besser, mit dem Psalmisten in den Tiefen zu sein, dabei voller Hoffnung der Gnade Gottes harrend, als auf den Bergeshöhen vergänglichen Glücks zu weilen und dabei mit der eingebildeten eigenen Gerechtigkeit zu prahlen?

8. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden. Unsere Sünden sind unsere schlimmste Not und Gefahr; sind wir von ihnen errettet, dann sind wir wahrhaft gerettete Leute. Aber es gibt keine Rettung von Sündenschuld und Sündenmacht und Sündenelend außer durch göttliche Erlösung. Wie köstlich, dass diese in unserem Text in Ausdrücken verheißen ist, die sie außer Frage stellen: Der HERR wird gewisslich Israel, sein gläubiges Volk, erlösen von allen seinen Missetaten. Mit Recht spricht der Psalmist im Vorhergehenden von Erlösung in Fülle, da sie ganz Israel und alle seine Verschuldungen betrifft. Wahrlich, unser Psalm ist in diesem Vers zu erhabener Höhe emporgestiegen. Das ist nicht mehr ein Notschrei aus den Tiefen, sondern ein rechtes "Lied im höheren Chor", ein gloria in excelsis Deo. Die Erlösung ist der Gipfel, die Krone der Bundesgnaden. Wenn ihrer einst Israel als Ganzes teilhaftig geworden sein wird (Röm. 11,26), dann wird die Herrlichkeit der letzten Zeit angebrochen sein, und des HERRN Volk wird sagen: HERR, wes sollen wir nun noch warten? - Ist dieser Vers nicht eine deutliche Weissagung auf das erste Kommen des Herrn Jesus? Und dürfen wir ihn jetzt nicht als eine Verheißung seines zweiten noch herrlicheren Kommens betrachten, da er kommen wird zu unseres Leibes Erlösung? Auf diese warten wir sehnlich; ja, Leib und Seele verlangen und sehnen sich nach ihm in freudiger Erwartung.

Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Von den sieben sogenannten Bußpsalmen ist dieser der vornehmste. Wie er aber der herrlichste ist, so ist er im Papsttum auch zum schmählichsten Missbrauch verdreht worden. Er solle nämlich mit ganz tiefer Stimme gemurmelt werden, und zwar in ihren Toten-Vigilien für die Befreiung der Seelen aus dem Fegefeuer. Sal. Geßner † 1605.

Der Heilige Geist stellt in diesem Psalme zwei einander entgegengesetzte Gemütsbewegungen klar ins Licht: Furcht, in Hinsicht der Sünden, die Strafe verdienen, und Hoffnung, in Hinsicht unverdienter Gnade. Alex. Roberts 1610.

Dass das Gemüt des Psalmisten tief bewegt ist, kommt auch in der achtmaligen Wiederholung des göttlichen Namens (viermal Jahve, einmal das abgekürzte Jah, dreimal Adonai) zum Ausdruck. The Speaker’s Commentary 1873.

Einmal gefragt, welche Psalmen die allerbesten seien, antwortete Luther: Psalmi Paulini (die paulinischen Psalmen), und als seine Tischgenossen in ihn drangen, welche das seien, antwortete er: Ps. 32; 51; 130; 143. In der Tat kommen im Ps. 130 die Verdammlichkeit des natürlichen Menschen, die Freiheit der Gnade und das geistliche Wesen der Erlösung zu wahrhaft paulinischem Ausdruck. Prof. Franz Delitzsch † 1890.

Als Luther in der Feste Coburg vom Teufel hart angefochten wurde und in großer Not war, sagte er zu denen, die um ihn waren: Venite, in contemptum Diaboli Psalmum "De Profundis" quatuor vocibus cantemus - Kommt, lasst uns dem Teufel zum Trotz vierstimmig den Psalm singen: Aus tiefer Not usw. John Trapp † 1669.

V. 1. Aus Tiefen rufe ich dich, HERR. (Wörtl. Unter den Tiefen sind nach der übereinstimmenden Meinung der Alten zu verstehen die Tiefen der Trübsale und die Tiefen der Herzensnot um die Sünde. Die äußern und inneren Leiden werden ja auch sonst mit tiefen Wassern verglichen, so Ps. 18,17: Er zog mich aus großen Wassern, Ps. 69,2 f.:Gott, hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Seele usw. In der Tat werden Gottes Kinder oft in ganz verzweifelte Lagen geworfen, in die Tiefen des Elends versenkt, zu dem Zweck, damit sie aus zerbrochenem, auch bis in seine Tiefen bewegtem Herzen solche Gebete emporsenden, die in die Höhe dringen und den Himmel zerreißen. Wenn es uns gut geht, kommen unsere Gebete oft nur von den Lippen; darum ist der HERR genötigt, uns in die Tiefen zu stoßen, damit wir aus der Sicherheit erwachen und unsere Bitten aus dem Innersten emporsteigen. Wiewohl Gott so erhaben thront, so hört er doch sonderlich gerne das Flehen von Herzen, die tief gebeugt sind. Es gibt keine Trübsal und keine Tiefe - und wäre sie so tief wie die, in welche Jona versank, da er im Bauche des Fisches war -, die uns scheiden könnte von der Liebe Gottes (Röm. 8,35.39) oder unsere Gebete davon zurückhalten könnte, zu ihm zu dringen. Diejenigen, die in den tiefsten Tiefen der Seelennot sind, sind nicht am weitesten von Gott weg; nein, sie sind ihm am nächsten. Der HERR ist nahe bei denen, die zerbrochenen Herzens sind, und sie gerade sind der Tempel, wo sein Geist Wohnung nimmt (Ps. 34,19; Jes. 57,15; 66,2).


Gott macht es mit uns, wie wir es die Menschen machen sehen, wenn sie ein Haus hoch und sonderlich prächtig bauen wollen: dann graben sie tief, um einen rechten Grund zu legen. So führte Gott, da er mit Daniel und den drei Männern in Babel, mit Joseph in Ägypten, mit David in Israel Staat machen wollte, sie erst in die Tiefen des Leidens: Daniel ward in die Löwengrube geworfen, die drei Männer in den feurigen Ofen, Joseph ins Gefängnis, David in das Elend der Verbannung und Verfolgung. Aber sie alle erhöhte er hoch und machte aus ihnen herrliche Tempel seiner Gnade. Dabei ist jedoch auch zu beachten, dass die Stumpfsinnigkeit unserer Natur oft so groß ist, dass sie Gott zwingt, scharfe Mittel anzuwenden, um uns aufzurütteln. Jona schlief noch immer unten im Schiff, als schon das Ungewitter des göttlichen Zornes ihn verfolgte; darum warf Gott ihn in die Tiefe mitten im Meere und ließ ihn in dem Bauch des Fisches zu den tiefsten Gründen der Erde fahren, damit er aus diesen Tiefen, aus dem Bauche der Hölle, zu dem HERRN schrie. (Jona 2,3 ff.) Archib. Symson † 1631.
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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